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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung.

losem Umfange zu mißbrauchen. "Den Entwicklungsgedanken -- sagt W. Wundt
im Vorwort zu seiner großen Ethik --, der heute in alle biologischen Wissen¬
schaften siegreich eingedrungen W, hat zum erstenmale in seiner umfassenden
Bedeutung die Naturphilosophie Schellings und seiner Schule zur Geltung ge¬
bracht. Aber auf wie anderm Grunde ruht heute dieser Gedanke als damals!
Dort ein Gewebe phantastischer Ideen, durch eine allen Regeln des exakten
Denkens widerstreitende Methode zusammengehalten, hier eine Theorie, die zwar
mannichfacher und zum Teil unzureichender HilfsHypothesen nicht entbehrt, deren
Basis aber doch die Erfahrung bleibt."

In der That, man hat mit Recht die Forderung erhoben, daß wir nur
da von einer Entwicklung reden dürfen, wo es sich um Erfahrungen handelt.
Es müssen verständliche Thatsachen sein, die jeder Entwicklung zu Gründe liegen.
Wir beobachten, wie sich aus dem Samenkeim die Pflanze, aus der Knospe das
Blatt, der Zweig, die Blume entwickelt, wie aus Zeugungsstoffen Tiere hervor¬
gehen. Wir können alles Heranwachsen von Pflanzen und Tieren als Ent¬
wicklung bezeichnen. Wir sehen eben die Keime und Anfänge, und begreifen
ihre Zunahme und ihre Entfaltung durch Hinzutreten neuer Stoffe mit neuen
Kräften. Ja wir können auch Städte und Gemeinden vor unsern Augen sich
entwickeln sehen. Etwas gewagter ist es schon, im übertragenen Sinne das
Wort Entwicklung auf geistige Anlagen und Fertigkeiten anzuwenden. Dennoch
sprechen wir mit Recht von der Entwicklung einer Kunstrichtung, eines Bau¬
stiles, einer Malerschule, sobald wir durch den Anblick der betreffenden Werke
den Beweis dafür erbringen können. Nur das ist heutzutage als ein großer
Irrtum erkannt, nach Schellings Vorgang von der Entwicklung des Absoluten,
des Weltgeistes oder solcher Ideen zu reden, die nur von uus erdacht sind
und sich nirgends unsern Sinnen darstellen. Läßt mau sich hierauf ein, so
giebt es eben idealistische Systeme, die wohl eine Begeisterung und einen vor¬
übergehenden Rausch in den Köpfen anrichten können, aber die Erkenntnis der
wirklichen Welt nicht im mindesten fördern, sondern nur verwirren.

Nun fragt sich's, ob man denn in unsern Tagen wirklich immer die Er¬
fahrung zu Grunde legt, wenn man von der Entwicklung redet. In alle bio¬
logischen Wissenschaften -- sagt Wundt -- ist der Entwicklungsgedanke sieg¬
reich vorgedrungen. Ja, gewiß nur zu siegreich, weit über alle Grenzen der
Erfahrung hinaus; und von da ans ist er übertragen worden in die historischen,
politischen, sozialen Wissenschaften, ja zuletzt sogar in die Wissenschaft vom
Sittengesetz durch Wundes Beispiel in seiner Ethik. Mit Hilfe des Entwicklnngs-
gedankens hofft eine ganze philosophische Richtung, die sich Evolutionismus
nennt, die Schranken aller religiösen Vorurteile, die Fesseln der orthodoxen
Theologie niederreißen zu können zum Besten der Freiheit des Menschen¬
geschlechtes. Sagt doch Kuno Fischer emphatisch und scheinbar tiefsinnig:
"Die Welt ist die Entwicklung der Freiheit," ein Wort, über dessen Sinn man


Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung.

losem Umfange zu mißbrauchen. „Den Entwicklungsgedanken — sagt W. Wundt
im Vorwort zu seiner großen Ethik —, der heute in alle biologischen Wissen¬
schaften siegreich eingedrungen W, hat zum erstenmale in seiner umfassenden
Bedeutung die Naturphilosophie Schellings und seiner Schule zur Geltung ge¬
bracht. Aber auf wie anderm Grunde ruht heute dieser Gedanke als damals!
Dort ein Gewebe phantastischer Ideen, durch eine allen Regeln des exakten
Denkens widerstreitende Methode zusammengehalten, hier eine Theorie, die zwar
mannichfacher und zum Teil unzureichender HilfsHypothesen nicht entbehrt, deren
Basis aber doch die Erfahrung bleibt."

In der That, man hat mit Recht die Forderung erhoben, daß wir nur
da von einer Entwicklung reden dürfen, wo es sich um Erfahrungen handelt.
Es müssen verständliche Thatsachen sein, die jeder Entwicklung zu Gründe liegen.
Wir beobachten, wie sich aus dem Samenkeim die Pflanze, aus der Knospe das
Blatt, der Zweig, die Blume entwickelt, wie aus Zeugungsstoffen Tiere hervor¬
gehen. Wir können alles Heranwachsen von Pflanzen und Tieren als Ent¬
wicklung bezeichnen. Wir sehen eben die Keime und Anfänge, und begreifen
ihre Zunahme und ihre Entfaltung durch Hinzutreten neuer Stoffe mit neuen
Kräften. Ja wir können auch Städte und Gemeinden vor unsern Augen sich
entwickeln sehen. Etwas gewagter ist es schon, im übertragenen Sinne das
Wort Entwicklung auf geistige Anlagen und Fertigkeiten anzuwenden. Dennoch
sprechen wir mit Recht von der Entwicklung einer Kunstrichtung, eines Bau¬
stiles, einer Malerschule, sobald wir durch den Anblick der betreffenden Werke
den Beweis dafür erbringen können. Nur das ist heutzutage als ein großer
Irrtum erkannt, nach Schellings Vorgang von der Entwicklung des Absoluten,
des Weltgeistes oder solcher Ideen zu reden, die nur von uus erdacht sind
und sich nirgends unsern Sinnen darstellen. Läßt mau sich hierauf ein, so
giebt es eben idealistische Systeme, die wohl eine Begeisterung und einen vor¬
übergehenden Rausch in den Köpfen anrichten können, aber die Erkenntnis der
wirklichen Welt nicht im mindesten fördern, sondern nur verwirren.

Nun fragt sich's, ob man denn in unsern Tagen wirklich immer die Er¬
fahrung zu Grunde legt, wenn man von der Entwicklung redet. In alle bio¬
logischen Wissenschaften — sagt Wundt — ist der Entwicklungsgedanke sieg¬
reich vorgedrungen. Ja, gewiß nur zu siegreich, weit über alle Grenzen der
Erfahrung hinaus; und von da ans ist er übertragen worden in die historischen,
politischen, sozialen Wissenschaften, ja zuletzt sogar in die Wissenschaft vom
Sittengesetz durch Wundes Beispiel in seiner Ethik. Mit Hilfe des Entwicklnngs-
gedankens hofft eine ganze philosophische Richtung, die sich Evolutionismus
nennt, die Schranken aller religiösen Vorurteile, die Fesseln der orthodoxen
Theologie niederreißen zu können zum Besten der Freiheit des Menschen¬
geschlechtes. Sagt doch Kuno Fischer emphatisch und scheinbar tiefsinnig:
„Die Welt ist die Entwicklung der Freiheit," ein Wort, über dessen Sinn man


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[0320] Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung. losem Umfange zu mißbrauchen. „Den Entwicklungsgedanken — sagt W. Wundt im Vorwort zu seiner großen Ethik —, der heute in alle biologischen Wissen¬ schaften siegreich eingedrungen W, hat zum erstenmale in seiner umfassenden Bedeutung die Naturphilosophie Schellings und seiner Schule zur Geltung ge¬ bracht. Aber auf wie anderm Grunde ruht heute dieser Gedanke als damals! Dort ein Gewebe phantastischer Ideen, durch eine allen Regeln des exakten Denkens widerstreitende Methode zusammengehalten, hier eine Theorie, die zwar mannichfacher und zum Teil unzureichender HilfsHypothesen nicht entbehrt, deren Basis aber doch die Erfahrung bleibt." In der That, man hat mit Recht die Forderung erhoben, daß wir nur da von einer Entwicklung reden dürfen, wo es sich um Erfahrungen handelt. Es müssen verständliche Thatsachen sein, die jeder Entwicklung zu Gründe liegen. Wir beobachten, wie sich aus dem Samenkeim die Pflanze, aus der Knospe das Blatt, der Zweig, die Blume entwickelt, wie aus Zeugungsstoffen Tiere hervor¬ gehen. Wir können alles Heranwachsen von Pflanzen und Tieren als Ent¬ wicklung bezeichnen. Wir sehen eben die Keime und Anfänge, und begreifen ihre Zunahme und ihre Entfaltung durch Hinzutreten neuer Stoffe mit neuen Kräften. Ja wir können auch Städte und Gemeinden vor unsern Augen sich entwickeln sehen. Etwas gewagter ist es schon, im übertragenen Sinne das Wort Entwicklung auf geistige Anlagen und Fertigkeiten anzuwenden. Dennoch sprechen wir mit Recht von der Entwicklung einer Kunstrichtung, eines Bau¬ stiles, einer Malerschule, sobald wir durch den Anblick der betreffenden Werke den Beweis dafür erbringen können. Nur das ist heutzutage als ein großer Irrtum erkannt, nach Schellings Vorgang von der Entwicklung des Absoluten, des Weltgeistes oder solcher Ideen zu reden, die nur von uus erdacht sind und sich nirgends unsern Sinnen darstellen. Läßt mau sich hierauf ein, so giebt es eben idealistische Systeme, die wohl eine Begeisterung und einen vor¬ übergehenden Rausch in den Köpfen anrichten können, aber die Erkenntnis der wirklichen Welt nicht im mindesten fördern, sondern nur verwirren. Nun fragt sich's, ob man denn in unsern Tagen wirklich immer die Er¬ fahrung zu Grunde legt, wenn man von der Entwicklung redet. In alle bio¬ logischen Wissenschaften — sagt Wundt — ist der Entwicklungsgedanke sieg¬ reich vorgedrungen. Ja, gewiß nur zu siegreich, weit über alle Grenzen der Erfahrung hinaus; und von da ans ist er übertragen worden in die historischen, politischen, sozialen Wissenschaften, ja zuletzt sogar in die Wissenschaft vom Sittengesetz durch Wundes Beispiel in seiner Ethik. Mit Hilfe des Entwicklnngs- gedankens hofft eine ganze philosophische Richtung, die sich Evolutionismus nennt, die Schranken aller religiösen Vorurteile, die Fesseln der orthodoxen Theologie niederreißen zu können zum Besten der Freiheit des Menschen¬ geschlechtes. Sagt doch Kuno Fischer emphatisch und scheinbar tiefsinnig: „Die Welt ist die Entwicklung der Freiheit," ein Wort, über dessen Sinn man

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/320>, abgerufen am 17.09.2024.