Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung. unvollkommenen Zustand hindurch sich zu einem herrlichen, frei beweglichen, zart ^Nun kommt freilich der Naturforscher und weist uns nach, wie überall Das Wort Entwicklung deutet hin auf einen Gedanken, den wir nicht er¬ Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung. unvollkommenen Zustand hindurch sich zu einem herrlichen, frei beweglichen, zart ^Nun kommt freilich der Naturforscher und weist uns nach, wie überall Das Wort Entwicklung deutet hin auf einen Gedanken, den wir nicht er¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0319" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/288772"/> <fw type="header" place="top"> Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung.</fw><lb/> <p xml:id="ID_930" prev="#ID_929"> unvollkommenen Zustand hindurch sich zu einem herrlichen, frei beweglichen, zart<lb/> gegliederten Falter entwickelt. Kein Wunder, daß man schon in alten Zeiten<lb/> diese Erscheinung als Sinnbild sür das Schicksal der menschlichen Seele ge¬<lb/> nommen hat, die durch den Tod zu höherm Dasein sich aufschwingen sollte.<lb/> Die so aufeinander folgenden Erscheinungen deuten auf eine Kraft hin, die<lb/> zweckmäßig waltet und strebt, einfachere Gestalten niederer Ordnung in höhere<lb/> und Vollkommenere zu verwandeln. </p><lb/> <p xml:id="ID_931"> ^Nun kommt freilich der Naturforscher und weist uns nach, wie überall<lb/> mechanische Vorgänge als Ursachen aufzufinden seien, durch welche me Form<lb/> des höhern Tieres notwendig aus den niedern Formen hervorgehen müsse;<lb/> wie die physikalischen Agentien, Wärme und Licht, und andre den Stoff des<lb/> Tieres erregen und bewegen, wie die chemischen Stoffe, indem sie zur Nahrung<lb/> des Tieres werden, sein Wachstum und den Bau seiner Glieder möglich machen.<lb/> Aber selbst dann, wenn wir alle Einzelheiten bis auf die Farben der Schüpp¬<lb/> chen, welche den zarten Staub des Falters bilden, auf mechanische Ursachen<lb/> zurückgeführt haben, bleibt doch immer ein Rätsel bestehen, welches unser Gemüt<lb/> zum ernsten, wenn auch stets vergeblichen Nachdenken erregt, die Frage nach<lb/> jener Kraft, welche die physikalischen und chemischen Agentien und Stoffe so be¬<lb/> nutzt, daß der Plan des organisirten Wesens wirklich zur Ausbildung gelangt.<lb/> Daß ein zweckmäßiger Plan dem Ganzen zu Grunde liegt, kann garnicht ge¬<lb/> leugnet werden. Die einzelnen Teile des Tieres sind alle nur um des Ganzen<lb/> willen da. Das Tier ist nicht eine bloße mechanische Mischung und Verbindung<lb/> von Stoffen, wie ein Stein und ein Felsen, sondern jedes Glied und jedes<lb/> Organ dient zum zweckmäßigen Gebrauch für die Einheit des Ganzen. Wer<lb/> hat den Plan ausgedacht und das Ziel bestimmt, nach dem die Entwicklung<lb/> des Tieres erfolgt ist? Diese Frage bleibt doch ungelöst, wenn auch die mäch¬<lb/> tigsten und berühmtesten Autoritäten auf dem naturwissenschaftlichen Gebiete<lb/> der Welt weißmachen wollen, sie sei gelöst. Die mechanischen Kräfte, durch<lb/> welche die Materie bewegt wird, wie auch die Prinzipien des Darwinismus,<lb/> Kampf ums Dasein, Zuchtwahl, Vererbung, und wie sie heißen mögen, sind Nichts<lb/> anders als Mittel zum Zwecke; der Gedanke dieses Zweckes, welchem die or¬<lb/> ganische Gliederung diente, kann nicht durch sie erklärt werden. Will man dem<lb/> mechanisch bewegten Stoffe die Fähigkeit zusprechen, Gedanken zu erzeugen,<lb/> so macht man einen logischen Sprung zu einem Dogma, welches niemals be¬<lb/> wiesen werden kann; und wenn man glaubt, mit dem Worte Entwicklung der<lb/> organischen Form das Rätsel aufzuhellen, so täuscht man sich und andre über<lb/> die Bedeutung des Wortes.</p><lb/> <p xml:id="ID_932" next="#ID_933"> Das Wort Entwicklung deutet hin auf einen Gedanken, den wir nicht er¬<lb/> dacht haben, aber es erklärt ihn uns nicht und macht ihn nicht begreiflich. Das<lb/> macht den Begriff der Entwicklung so anziehend und verleiht ihm einen ge¬<lb/> heimen Zauber, aber es verlockt zugleich die spekulativen Köpfe, ihn in Schranken-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0319]
Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung.
unvollkommenen Zustand hindurch sich zu einem herrlichen, frei beweglichen, zart
gegliederten Falter entwickelt. Kein Wunder, daß man schon in alten Zeiten
diese Erscheinung als Sinnbild sür das Schicksal der menschlichen Seele ge¬
nommen hat, die durch den Tod zu höherm Dasein sich aufschwingen sollte.
Die so aufeinander folgenden Erscheinungen deuten auf eine Kraft hin, die
zweckmäßig waltet und strebt, einfachere Gestalten niederer Ordnung in höhere
und Vollkommenere zu verwandeln.
^Nun kommt freilich der Naturforscher und weist uns nach, wie überall
mechanische Vorgänge als Ursachen aufzufinden seien, durch welche me Form
des höhern Tieres notwendig aus den niedern Formen hervorgehen müsse;
wie die physikalischen Agentien, Wärme und Licht, und andre den Stoff des
Tieres erregen und bewegen, wie die chemischen Stoffe, indem sie zur Nahrung
des Tieres werden, sein Wachstum und den Bau seiner Glieder möglich machen.
Aber selbst dann, wenn wir alle Einzelheiten bis auf die Farben der Schüpp¬
chen, welche den zarten Staub des Falters bilden, auf mechanische Ursachen
zurückgeführt haben, bleibt doch immer ein Rätsel bestehen, welches unser Gemüt
zum ernsten, wenn auch stets vergeblichen Nachdenken erregt, die Frage nach
jener Kraft, welche die physikalischen und chemischen Agentien und Stoffe so be¬
nutzt, daß der Plan des organisirten Wesens wirklich zur Ausbildung gelangt.
Daß ein zweckmäßiger Plan dem Ganzen zu Grunde liegt, kann garnicht ge¬
leugnet werden. Die einzelnen Teile des Tieres sind alle nur um des Ganzen
willen da. Das Tier ist nicht eine bloße mechanische Mischung und Verbindung
von Stoffen, wie ein Stein und ein Felsen, sondern jedes Glied und jedes
Organ dient zum zweckmäßigen Gebrauch für die Einheit des Ganzen. Wer
hat den Plan ausgedacht und das Ziel bestimmt, nach dem die Entwicklung
des Tieres erfolgt ist? Diese Frage bleibt doch ungelöst, wenn auch die mäch¬
tigsten und berühmtesten Autoritäten auf dem naturwissenschaftlichen Gebiete
der Welt weißmachen wollen, sie sei gelöst. Die mechanischen Kräfte, durch
welche die Materie bewegt wird, wie auch die Prinzipien des Darwinismus,
Kampf ums Dasein, Zuchtwahl, Vererbung, und wie sie heißen mögen, sind Nichts
anders als Mittel zum Zwecke; der Gedanke dieses Zweckes, welchem die or¬
ganische Gliederung diente, kann nicht durch sie erklärt werden. Will man dem
mechanisch bewegten Stoffe die Fähigkeit zusprechen, Gedanken zu erzeugen,
so macht man einen logischen Sprung zu einem Dogma, welches niemals be¬
wiesen werden kann; und wenn man glaubt, mit dem Worte Entwicklung der
organischen Form das Rätsel aufzuhellen, so täuscht man sich und andre über
die Bedeutung des Wortes.
Das Wort Entwicklung deutet hin auf einen Gedanken, den wir nicht er¬
dacht haben, aber es erklärt ihn uns nicht und macht ihn nicht begreiflich. Das
macht den Begriff der Entwicklung so anziehend und verleiht ihm einen ge¬
heimen Zauber, aber es verlockt zugleich die spekulativen Köpfe, ihn in Schranken-
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