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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Zugendorinnorungen.

Rückert war der Sohn eines Landpredigers nahe bei Zittau, als Lehrer
sehr tüchtig, überaus fleißig, etwas barsch im Auftreten, aber ein gerader Cha¬
rakter von großer Redlichkeit. Ungerechtigkeit, wurde sie ihm bekannt, duldete
er uicht, und so gewann er sich trotz seiner großen Strenge bald die Liebe aller
Schüler, die mit ihm in Berührung kamen. Mir persönlich erwies er, ohne es
zu wissen und zu ahnen, einen großen Dienst, indem sein Eintritt in das Lehrer¬
kollegium meine bisherigen Peiniger sofort verstummen machte. Rückert hatte
nämlich brandrotes Haar! Die Vernünftigeren unter meinen Kommilitonen mochte
doch ein Gefühl der Scham beschleichen, wenn sie diesen so tüchtigen, jeden
nach seinem Verdienst behandelnden Lehrer in die Klasse treten sahen, und den
weniger Guten mochte die Furcht vor Strafe die Zunge binden. Denn daß
dieser Mann schonungslos an einem Mitschüler begangenes Unrecht strafen würde,
leuchtete allen ein.

Die Gewinnung dieses ausgezeichneten Mannes für das Gymnasium war
von unberechenbarem Nutze". Noch jugendlich froh, unbeweibt und in unab¬
hängigen Vermögensverhältnissen, lebte er ausschließlich der Schule und dem
Studium. Der Arbeit konnte ihm nie genug werden, was ihn veranlaßte, auch
an andre große Anforderungen zu stellen. Was kein andrer Lehrer vermochte, das
brachte unser guter Subrektor zu stände. Ihm, dem Unermüdlichen, der immer
und für alles Zeit zu haben schien, wurde der Unterricht in den verschiedensten
Gegenständen übertragen. Dabei war er stets gutes Mutes, oft zu Scherzen ge¬
neigt und nie von Launen beherrscht. Nur mußte man sich an sein oft schroffes
Wesen gewöhnen und kleine Schwächen, die anch ihm uicht fehlte", übersehen.

Wie auf allen Gymnasien, wurde auch auf der gelehrten Schule meiner
Vaterstadt das größte Gewicht auf Erlernung der alte" Sprachen gelegt. Über¬
haupt lebten wir Gymnasiasten mehr in der alten Welt als in der Gegenwart.
Neben Latein und Griechisch ward alles andre eigentlich nur nebenher betrieben.
Selbst den Unterricht in der Geschichte, etwa die alte Geschichte ausgenommen,
desgleichen in der Geographie muß ich als unzureichend und mangelhaft be¬
zeichnen. Naturwissenschaften fehlten gänzlich. Dafür wurde von Obersekunda
an mit großem Eifer, im allgemeinen aber doch nur mit geringem Nutzen,
Mathematik getrieben. Der unermüdlich thätige Subrektor, der mit seiner
Ausdauer und seinem eisernen Fleiße alles möglich machte, war auch in dieser
so viel umfassenden Wissenschaft unser Lehrer und Mentor und brachte es mit
uns bis zur sphärischen Trigonometrie. schärfte dieser Unterricht und die
damit verknüpften sehr verwickelten Berechnungen, bei denen die Logarithmen
eine große Rolle spielten, unsre Denkkraft, so schoß man damit doch leider über
das Ziel hinaus, da mit dem Verlassen des Gymnasiums alle Schüler ohne
Ausnahme die mathematischen Studien fallen zu lassen gezwungen waren, weil das
Studium der erwählten Fachwissenschaft auf der Universität die Zeit eines
jeden ganz in Anspruch nahm.


Zugendorinnorungen.

Rückert war der Sohn eines Landpredigers nahe bei Zittau, als Lehrer
sehr tüchtig, überaus fleißig, etwas barsch im Auftreten, aber ein gerader Cha¬
rakter von großer Redlichkeit. Ungerechtigkeit, wurde sie ihm bekannt, duldete
er uicht, und so gewann er sich trotz seiner großen Strenge bald die Liebe aller
Schüler, die mit ihm in Berührung kamen. Mir persönlich erwies er, ohne es
zu wissen und zu ahnen, einen großen Dienst, indem sein Eintritt in das Lehrer¬
kollegium meine bisherigen Peiniger sofort verstummen machte. Rückert hatte
nämlich brandrotes Haar! Die Vernünftigeren unter meinen Kommilitonen mochte
doch ein Gefühl der Scham beschleichen, wenn sie diesen so tüchtigen, jeden
nach seinem Verdienst behandelnden Lehrer in die Klasse treten sahen, und den
weniger Guten mochte die Furcht vor Strafe die Zunge binden. Denn daß
dieser Mann schonungslos an einem Mitschüler begangenes Unrecht strafen würde,
leuchtete allen ein.

Die Gewinnung dieses ausgezeichneten Mannes für das Gymnasium war
von unberechenbarem Nutze». Noch jugendlich froh, unbeweibt und in unab¬
hängigen Vermögensverhältnissen, lebte er ausschließlich der Schule und dem
Studium. Der Arbeit konnte ihm nie genug werden, was ihn veranlaßte, auch
an andre große Anforderungen zu stellen. Was kein andrer Lehrer vermochte, das
brachte unser guter Subrektor zu stände. Ihm, dem Unermüdlichen, der immer
und für alles Zeit zu haben schien, wurde der Unterricht in den verschiedensten
Gegenständen übertragen. Dabei war er stets gutes Mutes, oft zu Scherzen ge¬
neigt und nie von Launen beherrscht. Nur mußte man sich an sein oft schroffes
Wesen gewöhnen und kleine Schwächen, die anch ihm uicht fehlte», übersehen.

Wie auf allen Gymnasien, wurde auch auf der gelehrten Schule meiner
Vaterstadt das größte Gewicht auf Erlernung der alte» Sprachen gelegt. Über¬
haupt lebten wir Gymnasiasten mehr in der alten Welt als in der Gegenwart.
Neben Latein und Griechisch ward alles andre eigentlich nur nebenher betrieben.
Selbst den Unterricht in der Geschichte, etwa die alte Geschichte ausgenommen,
desgleichen in der Geographie muß ich als unzureichend und mangelhaft be¬
zeichnen. Naturwissenschaften fehlten gänzlich. Dafür wurde von Obersekunda
an mit großem Eifer, im allgemeinen aber doch nur mit geringem Nutzen,
Mathematik getrieben. Der unermüdlich thätige Subrektor, der mit seiner
Ausdauer und seinem eisernen Fleiße alles möglich machte, war auch in dieser
so viel umfassenden Wissenschaft unser Lehrer und Mentor und brachte es mit
uns bis zur sphärischen Trigonometrie. schärfte dieser Unterricht und die
damit verknüpften sehr verwickelten Berechnungen, bei denen die Logarithmen
eine große Rolle spielten, unsre Denkkraft, so schoß man damit doch leider über
das Ziel hinaus, da mit dem Verlassen des Gymnasiums alle Schüler ohne
Ausnahme die mathematischen Studien fallen zu lassen gezwungen waren, weil das
Studium der erwählten Fachwissenschaft auf der Universität die Zeit eines
jeden ganz in Anspruch nahm.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/302>, abgerufen am 17.09.2024.