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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Zugenderinnerungen.

Anfeindung und vielfältigen Verdruß. Wir Schüler merkten das nur an den
vielen Gerüchten, die in der Stadt umliefen und ziemlich allgemein geglaubt
wurden. Von diesen Gerüchten machte das wunderlichste, weil es unerklärbar
blieb, am meisten von sich sprechen und ward sogar von manchen ernstlich erörtert.

Wie mein Geburtsort und dessen nächste Umgebung, so hatte auch Zittau
Örtlichkeiten aufzuweisen, wo es nach allgemein angenommenen Volksglauben
"umging." Es gab da unter anderm ein Haus am sogenannten Graben,
zwischen dem Weberthore und der Wasserpforte gelegen, das einem Töpfer ge¬
hörte. Vor einem Fenster dieses Hauses sah man jahraus jahrein eine Stroh-
Puppe liegen, welche von Zeit zu Zeit erneuert wurde. Versuchte man diese
Puppe zu entfernen, so konnte es niemand vor Lärm des Nachts im Hause
aushalten. Wie aber das Gepolter mit der Puppe zusammenhängen sollte, ist
mir nicht mehr erinnerlich. Zu diesen verrufenen Gebäuden in Zittau gehörte
nun auch das Gymnasium, und zwar hatten sich hier die Geister oder Gespenster
zum Schauplatz ihrer Thätigkeit die Prima erkoren. Diese Klasse hing mit der
Amtswohnung des Direktors durch ein kleines Zwischenzimmer zusammen, in
welchem etwas später die neugegründete Schulbibliothek Aufstellung fand.

Man wollte wissen, daß bei jedesmaligem Rektoratswechsel unerklärbare
Erscheinungen in den erwähnten Räumen sich gezeigt hätten. Das sollte jetzt
wieder der Fall sein. Leute, die über den Se. Johanniskirchhof gegangen waren,
wollten in später Nachtstunde die Fenster der Prima hell erleuchtet und schatten¬
hafte Gestalten darin auf- und niederschweben gesehen haben. Andre hatten auch
Stimmen wie von Streitenden und polterndes Geräusch gehört. Da nun der
Direktor bald nach Entstehung dieser Gerüchte in schwere Krankheit fiel, so ließ
sich der Spießbürger nicht nehmen, daß sich der fremde Mann über den Spuk,
der ja doch ihm allein gelte, zu Tode erschrocken habe. Neugierige aus allen
Ständen pflanzten sich des Nachts um die Spukzeit auf dem Johanniskirchhofe
ans. um mit eignen Augen das Aufleuchten der gespenstischen Lichter zu sehen,
und es gab nicht wenige, die auch wirklich die Erscheinung beobachtet haben
wollten. Die Ungläubigen aber meinten, es möge wohl ein in optischen Experi¬
menten wohlerfahrener Spaßvogel die abergläubische Neigung seiner Mitbürger
benutzen und ihnen durch seine Kunststücke etwas zu raten aufgeben. Die Um¬
gebung des Gymnasiums eignete sich zu solchen Experimenten ganz gut.

Bald nach diesen Vorgängen starb Korrektor Kneschke, der wohl am wenigsten
mit dem neuen Direktor harmonirt haben mochte, da er an der Spitze der Ver¬
treter des Überlieferten stand. Ihm folgte Subrektor Lachmann im Amte, und
an dessen Stelle trat ein noch junger Philolog und Theolog von unverwüst¬
licher Arbeitskraft, namens Rückert, der sich als gelehrter und scharfsmmger
Erklärer der Pcmlinischen Briefe in der theologischen Welt einen bedeutenden
Namen machte, später einen Ruf nach Jena erhielt und dort, wenn ich acht
irre, als Professor der neutestamentlichen Exegese gestorben ist.


Zugenderinnerungen.

Anfeindung und vielfältigen Verdruß. Wir Schüler merkten das nur an den
vielen Gerüchten, die in der Stadt umliefen und ziemlich allgemein geglaubt
wurden. Von diesen Gerüchten machte das wunderlichste, weil es unerklärbar
blieb, am meisten von sich sprechen und ward sogar von manchen ernstlich erörtert.

Wie mein Geburtsort und dessen nächste Umgebung, so hatte auch Zittau
Örtlichkeiten aufzuweisen, wo es nach allgemein angenommenen Volksglauben
„umging." Es gab da unter anderm ein Haus am sogenannten Graben,
zwischen dem Weberthore und der Wasserpforte gelegen, das einem Töpfer ge¬
hörte. Vor einem Fenster dieses Hauses sah man jahraus jahrein eine Stroh-
Puppe liegen, welche von Zeit zu Zeit erneuert wurde. Versuchte man diese
Puppe zu entfernen, so konnte es niemand vor Lärm des Nachts im Hause
aushalten. Wie aber das Gepolter mit der Puppe zusammenhängen sollte, ist
mir nicht mehr erinnerlich. Zu diesen verrufenen Gebäuden in Zittau gehörte
nun auch das Gymnasium, und zwar hatten sich hier die Geister oder Gespenster
zum Schauplatz ihrer Thätigkeit die Prima erkoren. Diese Klasse hing mit der
Amtswohnung des Direktors durch ein kleines Zwischenzimmer zusammen, in
welchem etwas später die neugegründete Schulbibliothek Aufstellung fand.

Man wollte wissen, daß bei jedesmaligem Rektoratswechsel unerklärbare
Erscheinungen in den erwähnten Räumen sich gezeigt hätten. Das sollte jetzt
wieder der Fall sein. Leute, die über den Se. Johanniskirchhof gegangen waren,
wollten in später Nachtstunde die Fenster der Prima hell erleuchtet und schatten¬
hafte Gestalten darin auf- und niederschweben gesehen haben. Andre hatten auch
Stimmen wie von Streitenden und polterndes Geräusch gehört. Da nun der
Direktor bald nach Entstehung dieser Gerüchte in schwere Krankheit fiel, so ließ
sich der Spießbürger nicht nehmen, daß sich der fremde Mann über den Spuk,
der ja doch ihm allein gelte, zu Tode erschrocken habe. Neugierige aus allen
Ständen pflanzten sich des Nachts um die Spukzeit auf dem Johanniskirchhofe
ans. um mit eignen Augen das Aufleuchten der gespenstischen Lichter zu sehen,
und es gab nicht wenige, die auch wirklich die Erscheinung beobachtet haben
wollten. Die Ungläubigen aber meinten, es möge wohl ein in optischen Experi¬
menten wohlerfahrener Spaßvogel die abergläubische Neigung seiner Mitbürger
benutzen und ihnen durch seine Kunststücke etwas zu raten aufgeben. Die Um¬
gebung des Gymnasiums eignete sich zu solchen Experimenten ganz gut.

Bald nach diesen Vorgängen starb Korrektor Kneschke, der wohl am wenigsten
mit dem neuen Direktor harmonirt haben mochte, da er an der Spitze der Ver¬
treter des Überlieferten stand. Ihm folgte Subrektor Lachmann im Amte, und
an dessen Stelle trat ein noch junger Philolog und Theolog von unverwüst¬
licher Arbeitskraft, namens Rückert, der sich als gelehrter und scharfsmmger
Erklärer der Pcmlinischen Briefe in der theologischen Welt einen bedeutenden
Namen machte, später einen Ruf nach Jena erhielt und dort, wenn ich acht
irre, als Professor der neutestamentlichen Exegese gestorben ist.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/301>, abgerufen am 17.09.2024.