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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Neue Goethe-Studien.

hier erläutert. Es wird nachgewiesen, daß Goethe zwar volles Verständnis
für die neue Zeit der Dampfmaschinen, der Eisenbahnen, der Teilung der Arbeit
hatte, mit seinen Sympathien aber im Zeitalter des aufgeklärten Despotismus
und der stillen ästhetischen Selbstbildung beharrte. Kurz: man hat in der
exaktesten Form, deren musivische Art durchaus nicht stört, im Gegenteil nur
interessanter wird, eine Encyklopädie Goethischer Wissenschaft.

Zusammengefaßt ist Haruacks Anschauung in folgenden Worten: "Das
Entscheidende Goethischer Denkweise liegt darin, daß das "Gewahrwerden" erst
der kleinere Teil der Aufgabe ist; wessen er gewahr worden, das soll der Mensch
in sich selbst zur Darstellung bringen. Hierin liegt die gewaltige Lebenskraft,
die unerschöpfliche Fruchtbarkeit seiner Anschauungen, kein ästhetischer Quietis-
mus, sondern überall That! "Man soll sich alles praktisch denken -- meint
er --, die Manifestationen der großen Idee" sollen "durch Menschen zur
Erscheinung kommen." Hierin zeigt sich Goethe bei aller Vielseitigkeit doch
schließlich als Künstlernatur im weitesten und tiefsten Sinne des Wortes; nicht
durch besondre Schätzung der Kunst als einzelner Thätigkeit, die für ihn viel¬
mehr nur ein Kulturmittel neben andern ist, sondern darin, daß das ganze
Leben als praktische Verwirklichung einer Idee und damit als vollkommenstes
Kunstwerk sich gestalten soll. Das Ewige soll nicht erkannt, nicht geschaut,
nicht empfunden, sondern gelebt werden; vor sich selbst als einer Verkörperung
des Göttlichen Ehrfurcht zu empfinden, dahin soll der Mensch auf seiner höchsten
Stufe gelangen. In dieser Vereinigung des Irdischen und Ewigen hat man
von jeher das "Heidnische" bei Goethe erkennen wollen, gegenüber dem Christen¬
tum, welches die Kluft zwischen beiden grell beleuchtet und anscheinend unüber¬
brückbar gezeigt habe. Und in der That erscheint uns Goethe vou dieser Seite
als ein Bürger der Antike oder des Zeitalters ihrer Wiedergeburt, als ein
Genosse des Perikles oder Lorenzo de Medici." In dem Schlußkapitel wird
Goethes Religion dargestellt, sein großer Optimismus, wie er sich im "Faust"
offenbart, dessen Gehalt skizzirt wird.

Man legt auch dieses Buch mit Dank aus der Hand und mit dem Wunsche,
es beim größern Publikum, für das es geschrieben wurde, nach Gebühr an¬
erkannt zu sehen.


Moritz Necker.


Neue Goethe-Studien.

hier erläutert. Es wird nachgewiesen, daß Goethe zwar volles Verständnis
für die neue Zeit der Dampfmaschinen, der Eisenbahnen, der Teilung der Arbeit
hatte, mit seinen Sympathien aber im Zeitalter des aufgeklärten Despotismus
und der stillen ästhetischen Selbstbildung beharrte. Kurz: man hat in der
exaktesten Form, deren musivische Art durchaus nicht stört, im Gegenteil nur
interessanter wird, eine Encyklopädie Goethischer Wissenschaft.

Zusammengefaßt ist Haruacks Anschauung in folgenden Worten: „Das
Entscheidende Goethischer Denkweise liegt darin, daß das »Gewahrwerden« erst
der kleinere Teil der Aufgabe ist; wessen er gewahr worden, das soll der Mensch
in sich selbst zur Darstellung bringen. Hierin liegt die gewaltige Lebenskraft,
die unerschöpfliche Fruchtbarkeit seiner Anschauungen, kein ästhetischer Quietis-
mus, sondern überall That! »Man soll sich alles praktisch denken — meint
er —, die Manifestationen der großen Idee« sollen »durch Menschen zur
Erscheinung kommen.« Hierin zeigt sich Goethe bei aller Vielseitigkeit doch
schließlich als Künstlernatur im weitesten und tiefsten Sinne des Wortes; nicht
durch besondre Schätzung der Kunst als einzelner Thätigkeit, die für ihn viel¬
mehr nur ein Kulturmittel neben andern ist, sondern darin, daß das ganze
Leben als praktische Verwirklichung einer Idee und damit als vollkommenstes
Kunstwerk sich gestalten soll. Das Ewige soll nicht erkannt, nicht geschaut,
nicht empfunden, sondern gelebt werden; vor sich selbst als einer Verkörperung
des Göttlichen Ehrfurcht zu empfinden, dahin soll der Mensch auf seiner höchsten
Stufe gelangen. In dieser Vereinigung des Irdischen und Ewigen hat man
von jeher das »Heidnische« bei Goethe erkennen wollen, gegenüber dem Christen¬
tum, welches die Kluft zwischen beiden grell beleuchtet und anscheinend unüber¬
brückbar gezeigt habe. Und in der That erscheint uns Goethe vou dieser Seite
als ein Bürger der Antike oder des Zeitalters ihrer Wiedergeburt, als ein
Genosse des Perikles oder Lorenzo de Medici." In dem Schlußkapitel wird
Goethes Religion dargestellt, sein großer Optimismus, wie er sich im „Faust"
offenbart, dessen Gehalt skizzirt wird.

Man legt auch dieses Buch mit Dank aus der Hand und mit dem Wunsche,
es beim größern Publikum, für das es geschrieben wurde, nach Gebühr an¬
erkannt zu sehen.


Moritz Necker.


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[0287] Neue Goethe-Studien. hier erläutert. Es wird nachgewiesen, daß Goethe zwar volles Verständnis für die neue Zeit der Dampfmaschinen, der Eisenbahnen, der Teilung der Arbeit hatte, mit seinen Sympathien aber im Zeitalter des aufgeklärten Despotismus und der stillen ästhetischen Selbstbildung beharrte. Kurz: man hat in der exaktesten Form, deren musivische Art durchaus nicht stört, im Gegenteil nur interessanter wird, eine Encyklopädie Goethischer Wissenschaft. Zusammengefaßt ist Haruacks Anschauung in folgenden Worten: „Das Entscheidende Goethischer Denkweise liegt darin, daß das »Gewahrwerden« erst der kleinere Teil der Aufgabe ist; wessen er gewahr worden, das soll der Mensch in sich selbst zur Darstellung bringen. Hierin liegt die gewaltige Lebenskraft, die unerschöpfliche Fruchtbarkeit seiner Anschauungen, kein ästhetischer Quietis- mus, sondern überall That! »Man soll sich alles praktisch denken — meint er —, die Manifestationen der großen Idee« sollen »durch Menschen zur Erscheinung kommen.« Hierin zeigt sich Goethe bei aller Vielseitigkeit doch schließlich als Künstlernatur im weitesten und tiefsten Sinne des Wortes; nicht durch besondre Schätzung der Kunst als einzelner Thätigkeit, die für ihn viel¬ mehr nur ein Kulturmittel neben andern ist, sondern darin, daß das ganze Leben als praktische Verwirklichung einer Idee und damit als vollkommenstes Kunstwerk sich gestalten soll. Das Ewige soll nicht erkannt, nicht geschaut, nicht empfunden, sondern gelebt werden; vor sich selbst als einer Verkörperung des Göttlichen Ehrfurcht zu empfinden, dahin soll der Mensch auf seiner höchsten Stufe gelangen. In dieser Vereinigung des Irdischen und Ewigen hat man von jeher das »Heidnische« bei Goethe erkennen wollen, gegenüber dem Christen¬ tum, welches die Kluft zwischen beiden grell beleuchtet und anscheinend unüber¬ brückbar gezeigt habe. Und in der That erscheint uns Goethe vou dieser Seite als ein Bürger der Antike oder des Zeitalters ihrer Wiedergeburt, als ein Genosse des Perikles oder Lorenzo de Medici." In dem Schlußkapitel wird Goethes Religion dargestellt, sein großer Optimismus, wie er sich im „Faust" offenbart, dessen Gehalt skizzirt wird. Man legt auch dieses Buch mit Dank aus der Hand und mit dem Wunsche, es beim größern Publikum, für das es geschrieben wurde, nach Gebühr an¬ erkannt zu sehen. Moritz Necker.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/287>, abgerufen am 17.09.2024.