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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Neue Goethe-Studien,

seiner Ansicht stößt der Verstand bei aufrichtiger Erforschung des Welträtsels
zuletzt stets auf unvereinbare Widersprüche, die vereinigen zu wollen nicht nur
ein zweckloses, sondern auch anmaßendes Unternehmen wäre. "Der Mensch ist
nicht geboren, die Probleme der Welt zu lösen, wohl aber zu suchen, wo das
Problem angeht, und sich sodann in der Grenze des Begreiflicher zu halten." ...
Und scharf formulirt er seine Ansicht in den, Spruch: "Man sagt, zwischen
zwei entgegengesetzten Anschauungen liegt die Wahrheit mitten inne. Keines¬
wegs! Das Problem liegt dazwischen, das Unschaubare, das ewig thätige Leben,
in Ruhe gedacht."... Aber das "Problem" ist in ein "Postulat" zu ver¬
wandeln, die theoretisch unmögliche Lösung ist an der Hand der Erfahrung im
praktischen Handeln zu suchen; die "Skepsis" soll eine "thätige" sein; das heißt
eine solche, "die unablässig bemüht ist, sich selbst zu überwinden und durch ge¬
regelte Erfahrung zu einer Art von unbedingter Zuverlässigkeit zu gelangen."
Es sind also die in der Erfahrung sich bewühreuden Überzeugungen, denen eine
bedingte Zuverlässigkeit zugesprochen wird, und dieses Urteil wird dann dahin
erweitert und gesteigert, daß derartige Überzeugungen auch mit Zuversicht als
"wahr" anerkannt werden: "Wer sich mit reiner Erfahrung begnügt und
danach handelt, der hat Wahres genug"; und noch mehr in den großartigen
Worten: "Was fruchtbar ist, allein ist wahr." Hiermit stehen im engsten Zu¬
sammenhang die beiden merkwürdigen Sätze, in welchen eine positive und eine
negative Vorschrift für den nach Erkenntnis strebenden enthalten ist: "Wahrheits¬
liebe zeigt sich darin, daß mau überall das Gute zu finden und zu schätzen
weiß," und: "Alles, was unsern Geist befreit, ohne uns die Herrschaft über
uns selbst zu geben, ist verderblich.""

Von hier aus begreift man, warum Goethe vor allem jene Wissenschaften
liebte, die auf Erfahrung beruhen, in denen die eigne Beobachtung des Forschers
das wichtigste ist, warum er zur Mathematik keine Neigung gewinnen konnte,
und auch die Geschichte als Wissenschaft nicht schätzen konnte, sondern sie nur
pädagogisch als begeisterte Betrachtung hochstellte. Harnack geht in die Tiefe
der Einzelheiten ein, stellt Goethes Lehre vom UrPhänomen, vom Urtypus dar;
helt in der Ethik Goethes Betonung der Ehrfurcht und Pietät als die großen
sittlichen Faktoren hervor. In der Naturbetrachtung offenbart sich besonders
schön Goethes ganz und gar poetische Persönlichkeit in der Abneigung gegen
alle Lehren von Erdrevolutionen, vom Vulkanismus, wofür er lieber zur An¬
nahme langsamer, aber still wirkender chemischer Mächte hinneigte. Sehr richtig
ist der Nachweis des Unterschiedes zwischen Goethes Entwicklungslehre und
Darwins Zuchtwahl. In der Ästhetik werden Goethes Urteile über kunst¬
geschichtliche Erscheinungen anregend zusammengestellt; nur ist seine ungerechte
Ablehnung Kleists (vielleicht nicht absichtslos) übergangen. Sehr interessant
ist die Darstellung der politischen Wandlungen Goethes in der Zeit der Frei¬
heitskriege; seine wahlverwandte Sympathie zu dem Dämon Napoleon wird


Neue Goethe-Studien,

seiner Ansicht stößt der Verstand bei aufrichtiger Erforschung des Welträtsels
zuletzt stets auf unvereinbare Widersprüche, die vereinigen zu wollen nicht nur
ein zweckloses, sondern auch anmaßendes Unternehmen wäre. »Der Mensch ist
nicht geboren, die Probleme der Welt zu lösen, wohl aber zu suchen, wo das
Problem angeht, und sich sodann in der Grenze des Begreiflicher zu halten.« ...
Und scharf formulirt er seine Ansicht in den, Spruch: »Man sagt, zwischen
zwei entgegengesetzten Anschauungen liegt die Wahrheit mitten inne. Keines¬
wegs! Das Problem liegt dazwischen, das Unschaubare, das ewig thätige Leben,
in Ruhe gedacht.«... Aber das »Problem« ist in ein »Postulat« zu ver¬
wandeln, die theoretisch unmögliche Lösung ist an der Hand der Erfahrung im
praktischen Handeln zu suchen; die »Skepsis« soll eine »thätige« sein; das heißt
eine solche, »die unablässig bemüht ist, sich selbst zu überwinden und durch ge¬
regelte Erfahrung zu einer Art von unbedingter Zuverlässigkeit zu gelangen.«
Es sind also die in der Erfahrung sich bewühreuden Überzeugungen, denen eine
bedingte Zuverlässigkeit zugesprochen wird, und dieses Urteil wird dann dahin
erweitert und gesteigert, daß derartige Überzeugungen auch mit Zuversicht als
»wahr« anerkannt werden: »Wer sich mit reiner Erfahrung begnügt und
danach handelt, der hat Wahres genug«; und noch mehr in den großartigen
Worten: »Was fruchtbar ist, allein ist wahr.« Hiermit stehen im engsten Zu¬
sammenhang die beiden merkwürdigen Sätze, in welchen eine positive und eine
negative Vorschrift für den nach Erkenntnis strebenden enthalten ist: »Wahrheits¬
liebe zeigt sich darin, daß mau überall das Gute zu finden und zu schätzen
weiß,« und: »Alles, was unsern Geist befreit, ohne uns die Herrschaft über
uns selbst zu geben, ist verderblich.«"

Von hier aus begreift man, warum Goethe vor allem jene Wissenschaften
liebte, die auf Erfahrung beruhen, in denen die eigne Beobachtung des Forschers
das wichtigste ist, warum er zur Mathematik keine Neigung gewinnen konnte,
und auch die Geschichte als Wissenschaft nicht schätzen konnte, sondern sie nur
pädagogisch als begeisterte Betrachtung hochstellte. Harnack geht in die Tiefe
der Einzelheiten ein, stellt Goethes Lehre vom UrPhänomen, vom Urtypus dar;
helt in der Ethik Goethes Betonung der Ehrfurcht und Pietät als die großen
sittlichen Faktoren hervor. In der Naturbetrachtung offenbart sich besonders
schön Goethes ganz und gar poetische Persönlichkeit in der Abneigung gegen
alle Lehren von Erdrevolutionen, vom Vulkanismus, wofür er lieber zur An¬
nahme langsamer, aber still wirkender chemischer Mächte hinneigte. Sehr richtig
ist der Nachweis des Unterschiedes zwischen Goethes Entwicklungslehre und
Darwins Zuchtwahl. In der Ästhetik werden Goethes Urteile über kunst¬
geschichtliche Erscheinungen anregend zusammengestellt; nur ist seine ungerechte
Ablehnung Kleists (vielleicht nicht absichtslos) übergangen. Sehr interessant
ist die Darstellung der politischen Wandlungen Goethes in der Zeit der Frei¬
heitskriege; seine wahlverwandte Sympathie zu dem Dämon Napoleon wird


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[0286] Neue Goethe-Studien, seiner Ansicht stößt der Verstand bei aufrichtiger Erforschung des Welträtsels zuletzt stets auf unvereinbare Widersprüche, die vereinigen zu wollen nicht nur ein zweckloses, sondern auch anmaßendes Unternehmen wäre. »Der Mensch ist nicht geboren, die Probleme der Welt zu lösen, wohl aber zu suchen, wo das Problem angeht, und sich sodann in der Grenze des Begreiflicher zu halten.« ... Und scharf formulirt er seine Ansicht in den, Spruch: »Man sagt, zwischen zwei entgegengesetzten Anschauungen liegt die Wahrheit mitten inne. Keines¬ wegs! Das Problem liegt dazwischen, das Unschaubare, das ewig thätige Leben, in Ruhe gedacht.«... Aber das »Problem« ist in ein »Postulat« zu ver¬ wandeln, die theoretisch unmögliche Lösung ist an der Hand der Erfahrung im praktischen Handeln zu suchen; die »Skepsis« soll eine »thätige« sein; das heißt eine solche, »die unablässig bemüht ist, sich selbst zu überwinden und durch ge¬ regelte Erfahrung zu einer Art von unbedingter Zuverlässigkeit zu gelangen.« Es sind also die in der Erfahrung sich bewühreuden Überzeugungen, denen eine bedingte Zuverlässigkeit zugesprochen wird, und dieses Urteil wird dann dahin erweitert und gesteigert, daß derartige Überzeugungen auch mit Zuversicht als »wahr« anerkannt werden: »Wer sich mit reiner Erfahrung begnügt und danach handelt, der hat Wahres genug«; und noch mehr in den großartigen Worten: »Was fruchtbar ist, allein ist wahr.« Hiermit stehen im engsten Zu¬ sammenhang die beiden merkwürdigen Sätze, in welchen eine positive und eine negative Vorschrift für den nach Erkenntnis strebenden enthalten ist: »Wahrheits¬ liebe zeigt sich darin, daß mau überall das Gute zu finden und zu schätzen weiß,« und: »Alles, was unsern Geist befreit, ohne uns die Herrschaft über uns selbst zu geben, ist verderblich.«" Von hier aus begreift man, warum Goethe vor allem jene Wissenschaften liebte, die auf Erfahrung beruhen, in denen die eigne Beobachtung des Forschers das wichtigste ist, warum er zur Mathematik keine Neigung gewinnen konnte, und auch die Geschichte als Wissenschaft nicht schätzen konnte, sondern sie nur pädagogisch als begeisterte Betrachtung hochstellte. Harnack geht in die Tiefe der Einzelheiten ein, stellt Goethes Lehre vom UrPhänomen, vom Urtypus dar; helt in der Ethik Goethes Betonung der Ehrfurcht und Pietät als die großen sittlichen Faktoren hervor. In der Naturbetrachtung offenbart sich besonders schön Goethes ganz und gar poetische Persönlichkeit in der Abneigung gegen alle Lehren von Erdrevolutionen, vom Vulkanismus, wofür er lieber zur An¬ nahme langsamer, aber still wirkender chemischer Mächte hinneigte. Sehr richtig ist der Nachweis des Unterschiedes zwischen Goethes Entwicklungslehre und Darwins Zuchtwahl. In der Ästhetik werden Goethes Urteile über kunst¬ geschichtliche Erscheinungen anregend zusammengestellt; nur ist seine ungerechte Ablehnung Kleists (vielleicht nicht absichtslos) übergangen. Sehr interessant ist die Darstellung der politischen Wandlungen Goethes in der Zeit der Frei¬ heitskriege; seine wahlverwandte Sympathie zu dem Dämon Napoleon wird

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/286>, abgerufen am 17.09.2024.