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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Wir habe" nicht ohne Absicht diese Auslassung Scherers in ihrem vollen
Umfange hierhergesetzt. Da es uns hier nicht darum zu thun ist, in die Einzel¬
heiten der beiden vorliegenden Werke mit kritischer Reproduktion einzugehen,
sondern mir darum, den Geist zu kennzeichnen, in welchem sie beide geschrieben
sind, so konnten wir den Geist von Scherers Zinssätzen nicht besser als durch diese
seine eignen Worte charakterisiren, Sie sind umso wichtiger, als dieser Geist
es ist, der die jetzige Goetheforschung leitet, und es sind neben den positiven
Ergebnissen seiner Aufsätze die gelegentlich in ihnen aufgeworfenen und erledigten
Prinzipienfragen von keiner geringern Bedeutung. Sie enthalten das Pro¬
gramm der gegenwärtigen Forschung.

Wie immer man sich indes auch zu den positiven Ergebnissen der Scherer-
schen Arbeit stellen mag: das eine werden Feind und Freund anerkennen
müssen, daß seine "Aufsätze über Goethe" einen hohen liternrischen Wert an
sich besitzen. Scherer war in Wahrheit ein großer Mensch, einer jener Geister,
die das Vermögen und darum auch das Recht haben, die Grenzen der Wissen¬
schaft zu erweitern, neue Probleme und Gesetze aufzustellen. Weil er selbst
ein mitdichtcnder Literarhistoriker war, deswegen stellte er diese Forderung,
anzudichten, auch objektiv für alle auf; weil er selbst das seltene Vermögen
künstlerischer Anschauung hatte, deswegen stellte er die Forderung auf, die Mo¬
delle eines Dichters zu studiren, indes es Dutzenden von Kritikern unmöglich
ist, auch nur eine Gvethische Phantasiegestalt rein und unvertummert zu repro-
duziren. Weil Scherer im eiguen Busen hohe Gefühle hegte, deswegen konnte er
so hinreißend schön die Tragik einer Nausikaa oder das Liebesleben eines unschul¬
digen Don Juan wie Fernando ("stelln") erklären und darstellen. Bei aller
Gelehrsamkeit bricht immer der originale Mensch durch, der zur Welt sein ur¬
sprüngliches Verhältnis hat. Er hätte auch dann viel zu sagen, wenn er nicht
gerade über Bücher schriebe. Darum ist ihm nichts so sehr verhaßt, als das Zi-
tircn von Autoritäten, wie es der Münchener Kunstphilosvph liebt. Niemals spricht
Scherer von Goethe so, als wenn dessen Größe ein kirchliches Dogma wäre;
durch Scherer kommen wir erst recht zur eindringlichen Würdigung dieser Größe,
er belehrt uns ans Schritt und Tritt, worin denn eigentlich diese Größe be¬
stehe. Man lernt ästhetisch, historisch, menschlich sehr viel von diesen Aufsätzen;
man unterhält sich bei ihnen zuweilen wie bei einer sehr feinen Novelle, wie
z. B. in "Goethe und Adelaide" oder "Bemerkungen zur Stella." Scherer ist auch
immer kritisch in seinem Verhalten; man lese nur in den Fauststudien die Ana¬
lyse des ersten Monologs von Faust, oder die Analyse Gretchens. Welche
Auffassung Scherer von der Aufgabe der Rezensionen hatte, spricht er am
Schlüsse seines Aufsatzes: "Goethe als Journalist" klassisch aus, und wir setzen
anch diese Stelle umso lieber her, als gerade in der letzten Zeit sehr viel über
Wert und Aufgabe der Kritik geredet und durch das verlogene Handwerk der
weit, weit in Deutschland verbreiteten Cliauenkritik auch der hohe Beruf der


Wir habe» nicht ohne Absicht diese Auslassung Scherers in ihrem vollen
Umfange hierhergesetzt. Da es uns hier nicht darum zu thun ist, in die Einzel¬
heiten der beiden vorliegenden Werke mit kritischer Reproduktion einzugehen,
sondern mir darum, den Geist zu kennzeichnen, in welchem sie beide geschrieben
sind, so konnten wir den Geist von Scherers Zinssätzen nicht besser als durch diese
seine eignen Worte charakterisiren, Sie sind umso wichtiger, als dieser Geist
es ist, der die jetzige Goetheforschung leitet, und es sind neben den positiven
Ergebnissen seiner Aufsätze die gelegentlich in ihnen aufgeworfenen und erledigten
Prinzipienfragen von keiner geringern Bedeutung. Sie enthalten das Pro¬
gramm der gegenwärtigen Forschung.

Wie immer man sich indes auch zu den positiven Ergebnissen der Scherer-
schen Arbeit stellen mag: das eine werden Feind und Freund anerkennen
müssen, daß seine „Aufsätze über Goethe" einen hohen liternrischen Wert an
sich besitzen. Scherer war in Wahrheit ein großer Mensch, einer jener Geister,
die das Vermögen und darum auch das Recht haben, die Grenzen der Wissen¬
schaft zu erweitern, neue Probleme und Gesetze aufzustellen. Weil er selbst
ein mitdichtcnder Literarhistoriker war, deswegen stellte er diese Forderung,
anzudichten, auch objektiv für alle auf; weil er selbst das seltene Vermögen
künstlerischer Anschauung hatte, deswegen stellte er die Forderung auf, die Mo¬
delle eines Dichters zu studiren, indes es Dutzenden von Kritikern unmöglich
ist, auch nur eine Gvethische Phantasiegestalt rein und unvertummert zu repro-
duziren. Weil Scherer im eiguen Busen hohe Gefühle hegte, deswegen konnte er
so hinreißend schön die Tragik einer Nausikaa oder das Liebesleben eines unschul¬
digen Don Juan wie Fernando („stelln") erklären und darstellen. Bei aller
Gelehrsamkeit bricht immer der originale Mensch durch, der zur Welt sein ur¬
sprüngliches Verhältnis hat. Er hätte auch dann viel zu sagen, wenn er nicht
gerade über Bücher schriebe. Darum ist ihm nichts so sehr verhaßt, als das Zi-
tircn von Autoritäten, wie es der Münchener Kunstphilosvph liebt. Niemals spricht
Scherer von Goethe so, als wenn dessen Größe ein kirchliches Dogma wäre;
durch Scherer kommen wir erst recht zur eindringlichen Würdigung dieser Größe,
er belehrt uns ans Schritt und Tritt, worin denn eigentlich diese Größe be¬
stehe. Man lernt ästhetisch, historisch, menschlich sehr viel von diesen Aufsätzen;
man unterhält sich bei ihnen zuweilen wie bei einer sehr feinen Novelle, wie
z. B. in „Goethe und Adelaide" oder „Bemerkungen zur Stella." Scherer ist auch
immer kritisch in seinem Verhalten; man lese nur in den Fauststudien die Ana¬
lyse des ersten Monologs von Faust, oder die Analyse Gretchens. Welche
Auffassung Scherer von der Aufgabe der Rezensionen hatte, spricht er am
Schlüsse seines Aufsatzes: „Goethe als Journalist" klassisch aus, und wir setzen
anch diese Stelle umso lieber her, als gerade in der letzten Zeit sehr viel über
Wert und Aufgabe der Kritik geredet und durch das verlogene Handwerk der
weit, weit in Deutschland verbreiteten Cliauenkritik auch der hohe Beruf der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/284>, abgerufen am 17.09.2024.