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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Neue Goethe-Studien.

Spinoza kennen, trat in eine ungemein folgenreiche praktische Lebenssphäre ein;
dann wurde er in Italien begeisterter Verehrer griechischer Kunst, Poesie und
Lebensauffassung; dann trat Schillers Einfluß in seine Atmosphäre und machte
sich geltend; Schillers Aufsatz über sentimentale und naive Poesie wirkte klärend
auf den für eine ferne Vorzeit schwärmenden modernen Dichter; Kants Philo¬
sophie, die politischen Umwälzungen im Gefolge der französischen Revolution
riefen neue Währungen, Länterungen in Goethes immer thätigem Geiste hervor.
Dies alles weiß Harncick und stellt es in der übersichtlichen Einleitung seines
Versuches dar. Aber schließlich kam auch Goethe, dieser lebendigste Mensch, zu
einer gewissen Ruhe, es krystnllisirteu sich die Anschauungen und Ideale zu
bleibenden Überzeugungen, und um diese ist es unserm Essayisten zu thun.
"Durch die strengere Zurückgezogenheit und ruhigere Beschaulichkeit, der sich
Goethe seit Schillers Tode hingab, finden wir in seiner Rede- und Urteilsweise
innerhalb der noch folgenden siebenundzwanzig Jahre seines Lebens einen so
gleichmäßigen Ton, einen so einheitlich ausgeprägten Charakter, daß dieser Zeit¬
raum nicht naturgemäß irgendwie geteilt werden könnte. Dieser Zeitraum ist
die "Epoche der Vollendung," nicht etwa weil er uns den Mann oder Greis
als "fertig" vorführt (denn seine Vollendung hat ihr Wesen in einem bestän¬
digen Aufwärtsstreben), sondern deshalb, weil der "Werdende" von allen will¬
kürlichen Bedingungen und Eindrücken der Außenwelt sich innerlich befreit hat,
und in einer sichern Bahn nach dem innern Gesetze der Persönlichkeit sein
Werden vollzieht und sein Wesen entfaltet. Seit 1813 etwa ist der Stoff des
Denkens und Urteilens für Goethe im wesentlichen fixirt und abgeschlossen;
aber verarbeitet und geformt wird er fernerhin mit nie versiegender Kraft und
Regsamkeit des Geistes. Die reflektirenden Dichtwerke seines Alters, die Sprüche
in Vers und Prosa, die periodischen Blätter von "Kunst und Altertum," "Mor¬
phologie und Naturwissenschaft," der fast unübersehbar ausgesponnene Brief¬
wechsel, die Gespräche, welche die Dankbarkeit der Schüler und Freunde uns
aufbewahrt hat, zeigen das Bild der ausgebreitetsten geistigen Thätigkeit, welche
aber durch die Weite nie an der Vertiefung gehindert wird."

So ganz verschieden ist also der Weg dieser beiden Forscher: Scherer
interessirt sich für den künstlerisch thätigen Goethe, Harnack nur für den reflek¬
tirenden. Scherer ist ein bis zu mitdichtender Thätigkeit lebensvoll beobachtender
Historiker mit außergewöhnlichem künstlerischen Feingefühl; Harnack der nach dem
innern Zusammenhange aphoristisch verstreuter Erkenntnisse suchende Philosoph.
Scherer stellt uns mit unmittelbar wirkender Anschaulichkeit den ganzen liebenden,
dichtenden, kämpfenden Goethe (allerdings nur in einzelnen, bestimmt begrenzten
Fällen) dar; Harnack vermittelt uns die Weisheit und Wissenschaft des großen
Mannes.

So verdienstlich das Unternehmen Harnacks ist, so wohlthuend die vor¬
nehme Zurückhaltung seines eignen Wesens wirkt, so viel Anerkennung auch


Neue Goethe-Studien.

Spinoza kennen, trat in eine ungemein folgenreiche praktische Lebenssphäre ein;
dann wurde er in Italien begeisterter Verehrer griechischer Kunst, Poesie und
Lebensauffassung; dann trat Schillers Einfluß in seine Atmosphäre und machte
sich geltend; Schillers Aufsatz über sentimentale und naive Poesie wirkte klärend
auf den für eine ferne Vorzeit schwärmenden modernen Dichter; Kants Philo¬
sophie, die politischen Umwälzungen im Gefolge der französischen Revolution
riefen neue Währungen, Länterungen in Goethes immer thätigem Geiste hervor.
Dies alles weiß Harncick und stellt es in der übersichtlichen Einleitung seines
Versuches dar. Aber schließlich kam auch Goethe, dieser lebendigste Mensch, zu
einer gewissen Ruhe, es krystnllisirteu sich die Anschauungen und Ideale zu
bleibenden Überzeugungen, und um diese ist es unserm Essayisten zu thun.
„Durch die strengere Zurückgezogenheit und ruhigere Beschaulichkeit, der sich
Goethe seit Schillers Tode hingab, finden wir in seiner Rede- und Urteilsweise
innerhalb der noch folgenden siebenundzwanzig Jahre seines Lebens einen so
gleichmäßigen Ton, einen so einheitlich ausgeprägten Charakter, daß dieser Zeit¬
raum nicht naturgemäß irgendwie geteilt werden könnte. Dieser Zeitraum ist
die »Epoche der Vollendung,« nicht etwa weil er uns den Mann oder Greis
als »fertig« vorführt (denn seine Vollendung hat ihr Wesen in einem bestän¬
digen Aufwärtsstreben), sondern deshalb, weil der »Werdende« von allen will¬
kürlichen Bedingungen und Eindrücken der Außenwelt sich innerlich befreit hat,
und in einer sichern Bahn nach dem innern Gesetze der Persönlichkeit sein
Werden vollzieht und sein Wesen entfaltet. Seit 1813 etwa ist der Stoff des
Denkens und Urteilens für Goethe im wesentlichen fixirt und abgeschlossen;
aber verarbeitet und geformt wird er fernerhin mit nie versiegender Kraft und
Regsamkeit des Geistes. Die reflektirenden Dichtwerke seines Alters, die Sprüche
in Vers und Prosa, die periodischen Blätter von »Kunst und Altertum,« »Mor¬
phologie und Naturwissenschaft,« der fast unübersehbar ausgesponnene Brief¬
wechsel, die Gespräche, welche die Dankbarkeit der Schüler und Freunde uns
aufbewahrt hat, zeigen das Bild der ausgebreitetsten geistigen Thätigkeit, welche
aber durch die Weite nie an der Vertiefung gehindert wird."

So ganz verschieden ist also der Weg dieser beiden Forscher: Scherer
interessirt sich für den künstlerisch thätigen Goethe, Harnack nur für den reflek¬
tirenden. Scherer ist ein bis zu mitdichtender Thätigkeit lebensvoll beobachtender
Historiker mit außergewöhnlichem künstlerischen Feingefühl; Harnack der nach dem
innern Zusammenhange aphoristisch verstreuter Erkenntnisse suchende Philosoph.
Scherer stellt uns mit unmittelbar wirkender Anschaulichkeit den ganzen liebenden,
dichtenden, kämpfenden Goethe (allerdings nur in einzelnen, bestimmt begrenzten
Fällen) dar; Harnack vermittelt uns die Weisheit und Wissenschaft des großen
Mannes.

So verdienstlich das Unternehmen Harnacks ist, so wohlthuend die vor¬
nehme Zurückhaltung seines eignen Wesens wirkt, so viel Anerkennung auch


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[0282] Neue Goethe-Studien. Spinoza kennen, trat in eine ungemein folgenreiche praktische Lebenssphäre ein; dann wurde er in Italien begeisterter Verehrer griechischer Kunst, Poesie und Lebensauffassung; dann trat Schillers Einfluß in seine Atmosphäre und machte sich geltend; Schillers Aufsatz über sentimentale und naive Poesie wirkte klärend auf den für eine ferne Vorzeit schwärmenden modernen Dichter; Kants Philo¬ sophie, die politischen Umwälzungen im Gefolge der französischen Revolution riefen neue Währungen, Länterungen in Goethes immer thätigem Geiste hervor. Dies alles weiß Harncick und stellt es in der übersichtlichen Einleitung seines Versuches dar. Aber schließlich kam auch Goethe, dieser lebendigste Mensch, zu einer gewissen Ruhe, es krystnllisirteu sich die Anschauungen und Ideale zu bleibenden Überzeugungen, und um diese ist es unserm Essayisten zu thun. „Durch die strengere Zurückgezogenheit und ruhigere Beschaulichkeit, der sich Goethe seit Schillers Tode hingab, finden wir in seiner Rede- und Urteilsweise innerhalb der noch folgenden siebenundzwanzig Jahre seines Lebens einen so gleichmäßigen Ton, einen so einheitlich ausgeprägten Charakter, daß dieser Zeit¬ raum nicht naturgemäß irgendwie geteilt werden könnte. Dieser Zeitraum ist die »Epoche der Vollendung,« nicht etwa weil er uns den Mann oder Greis als »fertig« vorführt (denn seine Vollendung hat ihr Wesen in einem bestän¬ digen Aufwärtsstreben), sondern deshalb, weil der »Werdende« von allen will¬ kürlichen Bedingungen und Eindrücken der Außenwelt sich innerlich befreit hat, und in einer sichern Bahn nach dem innern Gesetze der Persönlichkeit sein Werden vollzieht und sein Wesen entfaltet. Seit 1813 etwa ist der Stoff des Denkens und Urteilens für Goethe im wesentlichen fixirt und abgeschlossen; aber verarbeitet und geformt wird er fernerhin mit nie versiegender Kraft und Regsamkeit des Geistes. Die reflektirenden Dichtwerke seines Alters, die Sprüche in Vers und Prosa, die periodischen Blätter von »Kunst und Altertum,« »Mor¬ phologie und Naturwissenschaft,« der fast unübersehbar ausgesponnene Brief¬ wechsel, die Gespräche, welche die Dankbarkeit der Schüler und Freunde uns aufbewahrt hat, zeigen das Bild der ausgebreitetsten geistigen Thätigkeit, welche aber durch die Weite nie an der Vertiefung gehindert wird." So ganz verschieden ist also der Weg dieser beiden Forscher: Scherer interessirt sich für den künstlerisch thätigen Goethe, Harnack nur für den reflek¬ tirenden. Scherer ist ein bis zu mitdichtender Thätigkeit lebensvoll beobachtender Historiker mit außergewöhnlichem künstlerischen Feingefühl; Harnack der nach dem innern Zusammenhange aphoristisch verstreuter Erkenntnisse suchende Philosoph. Scherer stellt uns mit unmittelbar wirkender Anschaulichkeit den ganzen liebenden, dichtenden, kämpfenden Goethe (allerdings nur in einzelnen, bestimmt begrenzten Fällen) dar; Harnack vermittelt uns die Weisheit und Wissenschaft des großen Mannes. So verdienstlich das Unternehmen Harnacks ist, so wohlthuend die vor¬ nehme Zurückhaltung seines eignen Wesens wirkt, so viel Anerkennung auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/282>, abgerufen am 17.09.2024.