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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Neue Goethe-Studien.

Als zwei bedeutsame Marksteine in dieser Thätigkeit müssen die genannten
Bücher bezeichnet werden, und wenn gelehrten Werken kein höheres Lob zuer-
teilt werden kann, als wenn man ihnen nachsagen darf, daß sie den Leser nicht
bloß mit rein thatsächlichem Material bereichern, sondern ihn auch allgemein
menschlich fördern, indem sie ihn zu neuen, geläuterten Anschauungen erheben,
so stehen wir nicht an, dieses Lob den beiden so ganz und gar verschiedenartigen
Büchern zuzuerkennen, denn wir haben diese Förderung an uns selbst erfahren.

Dieser antipodische Gegensatz in Ziel und Methode der Forschung ist wohl
mit das Jnteressanteste an den zwei Büchern. Scherer beschäftigt sich vor¬
nehmlich mit dem jüngern Goethe; er sagt in anglühender Begeisterung: "Goethes
Jugend ist ein unvergleichliches, einziges Phänomen, in dessen Anschauen wir
nicht müde werden uns immer von neuem zu vertiefen. Welche Kraft und
welcher Glanz strahlt aus den Briefen, Gedichten, Romanen, Dramen, aus
allen schriftlichen Denkmälern dieser drangvollen Zeit.... Mit Herrscherschritt
schreitet er ein in unsre Literatur. Auch wer kühn und glücklich strebte, der
kann nur wie ein Bettler sich fühlen neben seinem überschwänglichen Reichtum.
Und wer Leid erlebte, dem muß es das Herz abdrücken vor Sehnsucht und
Neid, wenn ihn nur eine Ahnung anwehe aus jener Welt von Glück. Denn
wie sich der junge Held auch herumschlagen mag mit feindlichen Dämonen: es
ist. als ob er nie ermüden könnte. Dunkel und wirr mag er sich fühlen: er¬
mattet nie. Prometheus und Werther brechen manchmal -- unbegreiflich für
den heutigen kühleren Menschen -- in Augenblicken höchster Stimmung in den
Ruf: "All! All!" aus. Das ist Goethes eigner Ruf. Es liegt ganz darin,
sein gottgleiches Schöpfergefühl, mit dem er die Welt umspannt und sich auf
den Gipfel des Lebens schwingt. Wenn ich mich dem spätern Goethe nähere,
so ist mir zu Mute, als wenn ich vor einem Gewaltigen der Erde stünde.
Respektvolle Scheu erfüllt mich, ich fühle mich geehrt und gehoben. Aber mir
geht nicht das Herz dabei auf."

Gerade mit diesem kühlen alten Goethe beschäftigt sich ausschließlich Har-
"acts Versuch, der ganz vereinzelt in seiner Art dasteht. Denn die meisterhafte
Charakteristik des mitten in einem neuen Geschlecht, von Weihrauchwolken der
Bewunderung umwehten Olympiers von Weimar, welche Treitschke im dritten
Bande seiner deutschen Geschichte geliefert hat, verfolgt andre Zwecke. Harnack
stellt sich z., Goethe als "jener geistigen Kraft, der die deutsche Kultur schon
ihren gegenwärtigen Bestand zu einem großen Teile verdankt, deren Wirkung
aber doch keineswegs abgeschlossen" ist, und er will in einem nicht philosophisch¬
systematischen, wohl aber organisch-zusammenhängenden Ganzen die Weltan¬
schauung dieses unser geistiges Leben beherrschenden Schriftstellers darstellen.
Er weiß ganz wohl, daß Goethe zu verschiednen Lebenszeiten verschieden ge¬
dacht hat: die Leipziger Anakreontik verdrängten in Straßburg Herder. Shake¬
speare und die Anschauung großer gotischer Kunst; in Weimar lernte Goethe
Gren


zboten II. 1837. 35
Neue Goethe-Studien.

Als zwei bedeutsame Marksteine in dieser Thätigkeit müssen die genannten
Bücher bezeichnet werden, und wenn gelehrten Werken kein höheres Lob zuer-
teilt werden kann, als wenn man ihnen nachsagen darf, daß sie den Leser nicht
bloß mit rein thatsächlichem Material bereichern, sondern ihn auch allgemein
menschlich fördern, indem sie ihn zu neuen, geläuterten Anschauungen erheben,
so stehen wir nicht an, dieses Lob den beiden so ganz und gar verschiedenartigen
Büchern zuzuerkennen, denn wir haben diese Förderung an uns selbst erfahren.

Dieser antipodische Gegensatz in Ziel und Methode der Forschung ist wohl
mit das Jnteressanteste an den zwei Büchern. Scherer beschäftigt sich vor¬
nehmlich mit dem jüngern Goethe; er sagt in anglühender Begeisterung: „Goethes
Jugend ist ein unvergleichliches, einziges Phänomen, in dessen Anschauen wir
nicht müde werden uns immer von neuem zu vertiefen. Welche Kraft und
welcher Glanz strahlt aus den Briefen, Gedichten, Romanen, Dramen, aus
allen schriftlichen Denkmälern dieser drangvollen Zeit.... Mit Herrscherschritt
schreitet er ein in unsre Literatur. Auch wer kühn und glücklich strebte, der
kann nur wie ein Bettler sich fühlen neben seinem überschwänglichen Reichtum.
Und wer Leid erlebte, dem muß es das Herz abdrücken vor Sehnsucht und
Neid, wenn ihn nur eine Ahnung anwehe aus jener Welt von Glück. Denn
wie sich der junge Held auch herumschlagen mag mit feindlichen Dämonen: es
ist. als ob er nie ermüden könnte. Dunkel und wirr mag er sich fühlen: er¬
mattet nie. Prometheus und Werther brechen manchmal — unbegreiflich für
den heutigen kühleren Menschen — in Augenblicken höchster Stimmung in den
Ruf: »All! All!« aus. Das ist Goethes eigner Ruf. Es liegt ganz darin,
sein gottgleiches Schöpfergefühl, mit dem er die Welt umspannt und sich auf
den Gipfel des Lebens schwingt. Wenn ich mich dem spätern Goethe nähere,
so ist mir zu Mute, als wenn ich vor einem Gewaltigen der Erde stünde.
Respektvolle Scheu erfüllt mich, ich fühle mich geehrt und gehoben. Aber mir
geht nicht das Herz dabei auf."

Gerade mit diesem kühlen alten Goethe beschäftigt sich ausschließlich Har-
"acts Versuch, der ganz vereinzelt in seiner Art dasteht. Denn die meisterhafte
Charakteristik des mitten in einem neuen Geschlecht, von Weihrauchwolken der
Bewunderung umwehten Olympiers von Weimar, welche Treitschke im dritten
Bande seiner deutschen Geschichte geliefert hat, verfolgt andre Zwecke. Harnack
stellt sich z., Goethe als „jener geistigen Kraft, der die deutsche Kultur schon
ihren gegenwärtigen Bestand zu einem großen Teile verdankt, deren Wirkung
aber doch keineswegs abgeschlossen" ist, und er will in einem nicht philosophisch¬
systematischen, wohl aber organisch-zusammenhängenden Ganzen die Weltan¬
schauung dieses unser geistiges Leben beherrschenden Schriftstellers darstellen.
Er weiß ganz wohl, daß Goethe zu verschiednen Lebenszeiten verschieden ge¬
dacht hat: die Leipziger Anakreontik verdrängten in Straßburg Herder. Shake¬
speare und die Anschauung großer gotischer Kunst; in Weimar lernte Goethe
Gren


zboten II. 1837. 35
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[0281] Neue Goethe-Studien. Als zwei bedeutsame Marksteine in dieser Thätigkeit müssen die genannten Bücher bezeichnet werden, und wenn gelehrten Werken kein höheres Lob zuer- teilt werden kann, als wenn man ihnen nachsagen darf, daß sie den Leser nicht bloß mit rein thatsächlichem Material bereichern, sondern ihn auch allgemein menschlich fördern, indem sie ihn zu neuen, geläuterten Anschauungen erheben, so stehen wir nicht an, dieses Lob den beiden so ganz und gar verschiedenartigen Büchern zuzuerkennen, denn wir haben diese Förderung an uns selbst erfahren. Dieser antipodische Gegensatz in Ziel und Methode der Forschung ist wohl mit das Jnteressanteste an den zwei Büchern. Scherer beschäftigt sich vor¬ nehmlich mit dem jüngern Goethe; er sagt in anglühender Begeisterung: „Goethes Jugend ist ein unvergleichliches, einziges Phänomen, in dessen Anschauen wir nicht müde werden uns immer von neuem zu vertiefen. Welche Kraft und welcher Glanz strahlt aus den Briefen, Gedichten, Romanen, Dramen, aus allen schriftlichen Denkmälern dieser drangvollen Zeit.... Mit Herrscherschritt schreitet er ein in unsre Literatur. Auch wer kühn und glücklich strebte, der kann nur wie ein Bettler sich fühlen neben seinem überschwänglichen Reichtum. Und wer Leid erlebte, dem muß es das Herz abdrücken vor Sehnsucht und Neid, wenn ihn nur eine Ahnung anwehe aus jener Welt von Glück. Denn wie sich der junge Held auch herumschlagen mag mit feindlichen Dämonen: es ist. als ob er nie ermüden könnte. Dunkel und wirr mag er sich fühlen: er¬ mattet nie. Prometheus und Werther brechen manchmal — unbegreiflich für den heutigen kühleren Menschen — in Augenblicken höchster Stimmung in den Ruf: »All! All!« aus. Das ist Goethes eigner Ruf. Es liegt ganz darin, sein gottgleiches Schöpfergefühl, mit dem er die Welt umspannt und sich auf den Gipfel des Lebens schwingt. Wenn ich mich dem spätern Goethe nähere, so ist mir zu Mute, als wenn ich vor einem Gewaltigen der Erde stünde. Respektvolle Scheu erfüllt mich, ich fühle mich geehrt und gehoben. Aber mir geht nicht das Herz dabei auf." Gerade mit diesem kühlen alten Goethe beschäftigt sich ausschließlich Har- "acts Versuch, der ganz vereinzelt in seiner Art dasteht. Denn die meisterhafte Charakteristik des mitten in einem neuen Geschlecht, von Weihrauchwolken der Bewunderung umwehten Olympiers von Weimar, welche Treitschke im dritten Bande seiner deutschen Geschichte geliefert hat, verfolgt andre Zwecke. Harnack stellt sich z., Goethe als „jener geistigen Kraft, der die deutsche Kultur schon ihren gegenwärtigen Bestand zu einem großen Teile verdankt, deren Wirkung aber doch keineswegs abgeschlossen" ist, und er will in einem nicht philosophisch¬ systematischen, wohl aber organisch-zusammenhängenden Ganzen die Weltan¬ schauung dieses unser geistiges Leben beherrschenden Schriftstellers darstellen. Er weiß ganz wohl, daß Goethe zu verschiednen Lebenszeiten verschieden ge¬ dacht hat: die Leipziger Anakreontik verdrängten in Straßburg Herder. Shake¬ speare und die Anschauung großer gotischer Kunst; in Weimar lernte Goethe Gren zboten II. 1837. 35

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/281>, abgerufen am 17.09.2024.