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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Neue Goethe-Studien.

Epoche seiner Vollendung nichts zu thun: sie erheben sich vielmehr turmhoch
über alle "Mitrologie." Aber es besteht oder bestand noch aus andern Beweg¬
gründen, die nicht geradezu eingestanden wurden, eine Gegnerschaft zur Goethe¬
forschung, und man müßte kein lebendiger Mensch, man müßte ganz papierncr
Gelehrter geworden sein, um diese Gegnerschaft allznherb zu beurteilen. Diese
Opposition nahm ihren Ausgangspunkt aus den Kreisen der selbst schaffenden
Dichter und Schriftsteller. Wie drückend muß es für den auf die Teilnahme
der Gegenwart angewiesenen Dichter sein, die Nation von begabten Männern
in einem fort darüber belehrt zu sehen, daß sie nichts besseres thun könne, als
nur immer Goethe zu lesen, seine Gedichte historisch, biographisch, philologisch,
chronologisch, ästhetisch und weiß Gott aus welchen Gesichtspunkten noch zu
studiren! Wir wandeln wohl alle im Schatten Goethes, aber wir wollen doch
auch ein Gefühl von der eignen Zeit haben, die er nicht miterlebt, die er kaum
geahnt hat. Wir beugen uns alle vor seinem Genius, aber man soll uns nicht
ewig die Nebenbuhlerschaft mit einer welthistorisch überragenden geistigen Potenz
aufdrängen. Und in der That, wenn man sich so in die Seele eines unsrer
schaffenden Zeitgenossen versetzt, so darf ihm die herbe Stimmung gegen die
Gelehrten der Goetheforschuug nicht zu hoch angerechnet werden. Alles höhere
literarische Interesse wird auf die Veröffentlichungen der Goethegesellschaft ge¬
lenkt; fünfzig Jahre nach seinem' Tode tritt der Altmeister mit der ganzen
Übermacht seines Wesens auf deu literarischen Plan und schafft neue Arbeit.
Allein schon in der reinen Thatsächlichkeit dieses Sachverhaltes ist ein Urteil
über diese Zustände enthalten. Es ist nicht äußerliche Mode, daß sich die
Nation jetzt gründlich mit Goethe auseinandersetzt, sondern innere Notwendig¬
keit. Wir überschauen erst jetzt und nach und uach den gen-en Reichtum seiner
Persönlichkeit; wir gelangen erst jetzt, in einem Zeitalter, das sich von den
Goethen verhaßten Schlacken der Naturphilosophie, der metaphysischen Wvlken-
gängerei, der politischen Verworrenheit befreit hat, dazu, ein unbefangenes Ver¬
hältnis zu seiner Kunst und Lehre zu gewinnen. Indem wir in den Geist seiner
Dichtungen und seiner Reflexionen eindringen, kommen wir zum Bewußtsein
unser selbst, denn dieser Goethe ist uns kaum in seinen politischen Anschauungen
und in einzelnen seiner naturwissenschaftlichen Lehren ein überwunden historischer
Mensch geworden. Und vollends die ganz einzige Erscheinung, daß wir die
Dokumente seines Lebens in unabsehbarem Reichtum vor uns ausgebreitet liegen
haben, bietet der historischen und biographischen Wissenschaft soviel Gelegenheit,
sich selbst zu vertiefen, die Ansprüche an sich selbst zu steigern, daß man nur
eine wahrhafte Förderung des geistigen Lebens der Nation in all diesen Be¬
mühungen erkennen kann. Der Spott über diese Thätigkeit ist sehr wohlfeil;
wer hineingeblickt hat, muß ihn aufgeben, wird erkennen, daß sie eine nicht zu
umgehende und möglichst bald zu vollendende sein muß. Hier hilft nichts andres
als die Liebe.


Neue Goethe-Studien.

Epoche seiner Vollendung nichts zu thun: sie erheben sich vielmehr turmhoch
über alle „Mitrologie." Aber es besteht oder bestand noch aus andern Beweg¬
gründen, die nicht geradezu eingestanden wurden, eine Gegnerschaft zur Goethe¬
forschung, und man müßte kein lebendiger Mensch, man müßte ganz papierncr
Gelehrter geworden sein, um diese Gegnerschaft allznherb zu beurteilen. Diese
Opposition nahm ihren Ausgangspunkt aus den Kreisen der selbst schaffenden
Dichter und Schriftsteller. Wie drückend muß es für den auf die Teilnahme
der Gegenwart angewiesenen Dichter sein, die Nation von begabten Männern
in einem fort darüber belehrt zu sehen, daß sie nichts besseres thun könne, als
nur immer Goethe zu lesen, seine Gedichte historisch, biographisch, philologisch,
chronologisch, ästhetisch und weiß Gott aus welchen Gesichtspunkten noch zu
studiren! Wir wandeln wohl alle im Schatten Goethes, aber wir wollen doch
auch ein Gefühl von der eignen Zeit haben, die er nicht miterlebt, die er kaum
geahnt hat. Wir beugen uns alle vor seinem Genius, aber man soll uns nicht
ewig die Nebenbuhlerschaft mit einer welthistorisch überragenden geistigen Potenz
aufdrängen. Und in der That, wenn man sich so in die Seele eines unsrer
schaffenden Zeitgenossen versetzt, so darf ihm die herbe Stimmung gegen die
Gelehrten der Goetheforschuug nicht zu hoch angerechnet werden. Alles höhere
literarische Interesse wird auf die Veröffentlichungen der Goethegesellschaft ge¬
lenkt; fünfzig Jahre nach seinem' Tode tritt der Altmeister mit der ganzen
Übermacht seines Wesens auf deu literarischen Plan und schafft neue Arbeit.
Allein schon in der reinen Thatsächlichkeit dieses Sachverhaltes ist ein Urteil
über diese Zustände enthalten. Es ist nicht äußerliche Mode, daß sich die
Nation jetzt gründlich mit Goethe auseinandersetzt, sondern innere Notwendig¬
keit. Wir überschauen erst jetzt und nach und uach den gen-en Reichtum seiner
Persönlichkeit; wir gelangen erst jetzt, in einem Zeitalter, das sich von den
Goethen verhaßten Schlacken der Naturphilosophie, der metaphysischen Wvlken-
gängerei, der politischen Verworrenheit befreit hat, dazu, ein unbefangenes Ver¬
hältnis zu seiner Kunst und Lehre zu gewinnen. Indem wir in den Geist seiner
Dichtungen und seiner Reflexionen eindringen, kommen wir zum Bewußtsein
unser selbst, denn dieser Goethe ist uns kaum in seinen politischen Anschauungen
und in einzelnen seiner naturwissenschaftlichen Lehren ein überwunden historischer
Mensch geworden. Und vollends die ganz einzige Erscheinung, daß wir die
Dokumente seines Lebens in unabsehbarem Reichtum vor uns ausgebreitet liegen
haben, bietet der historischen und biographischen Wissenschaft soviel Gelegenheit,
sich selbst zu vertiefen, die Ansprüche an sich selbst zu steigern, daß man nur
eine wahrhafte Förderung des geistigen Lebens der Nation in all diesen Be¬
mühungen erkennen kann. Der Spott über diese Thätigkeit ist sehr wohlfeil;
wer hineingeblickt hat, muß ihn aufgeben, wird erkennen, daß sie eine nicht zu
umgehende und möglichst bald zu vollendende sein muß. Hier hilft nichts andres
als die Liebe.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/280>, abgerufen am 17.09.2024.