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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Noch einmal die Unzulänglichkeit des theologischen Studiums.

hie und da ein Licht auf die biblische Geschichtserzählung wirft, das den Ge¬
bildeten in der Gemeinde über die wissenschaftliche Auffassung des Textes das
nötige Verständnis giebt. Er mag das thun, obgleich der Predigt zu oberst
nicht die Aufgabe zukommt, aufzuklären, sondern zu erheben. Das Vermögen
hierzu giebt nicht der theologische Standpunkt, sondern xeotus clisertos taon.
Man glaube doch ja nicht, daß der orthodoxe Standpunkt allein oder auch nur
leichter zu erheben verstünde. Was soll das für eine Erhebung sein, wenn ein
großer Teil der Gemeinde Dinge hören muß, die er schlechterdings sich nicht
mehr aneignen kann, z. B. wenn auf das Wunder für die religiöse Erkenntnis
alles Gewicht gelegt wird? Was für willkürliche Ansichten kommen doch da zu
Tage! Ich habe einmal kurz hintereinander von drei verschiednen Predigern
gehört, daß der eine die Auferweckung des Lazarus als das größte aller Wunder
hinstellte, ohne das die heilige Geschichte garnicht zu denken wäre, weil hier
Christus seine Macht zeige als Lebensspender; hier könne garnicht davon die
Rede sein, etwa an eine Ohnmacht zu denken, da es von dem Toten ausdrücklich
heiße, daß er schon gerochen habe. Der andre Geistliche stellte die Speisung der
Fünftausend als größtes aller Wunder hin; denn Christus zeige hier seine
scgensvendende Macht auch in den natürlichen Verhältnissen. Der dritte sah
in der Stillung des Sturmes das größte Wunder; denn die Naturgewalten
Hütten Christus gehorcht, zum Zeichen, daß er Gott sei. Was soll da für
Denkende für eine Erhebung möglich sein, wo man entweder in steter geheimer
Opposition zum Prediger stehen muß, oder sich über den Gallimathias inner¬
lich agere. Besser ist da der Prediger, der, wie gesagt, hie und da ein Wort
fallen läßt über die wissenschaftliche, etwa symbolische oder mythisch-geschichtliche
Auffassung einer Erzählung. Aber not thut das nicht. Er soll nur nicht
gerade das, was Schale an der biblischen Geschichte ist, als ewig dauernden
Kern hinstellen, und nicht gerade im Menschlichen das Göttliche sehen. Das
aber, was Schale ist, muß ihm die Exegese und die neutestamentliche Theologie
lehren. Wenn sie das in wissenschaftlicher Weise thut und nicht die Aufgabe
zu haben meint, die jungen Theologen kirchlich zu dressiren, sondern vielmehr
auf Erforschung der Ursprünge der christlichen Religion in ihrer Quelle aus¬
geht, wie sie das bisher sollte und zum Teil auch that, so ist da nichts zu
reformiren.

Ganz ebenso steht es mit der Kirchen- und Dogmengeschichte. Auch hier
ist der einzige Grundsatz für den Dozenten wissenschaftliche Darstellung. Beide
Disziplinen sind notwendig für den Theologen, aber weniger, um ihn auf geist¬
lichem Gebiete handeln zu lehren; denn da trifft noch mehr als sonst zu, was
Hegel einmal von der Geschichte sagt, daß sie die Lehre von der Unfähigkeit
des Menschen sei, aus der Vergangenheit zu lernen; aber die Geschichte soll
dem Studirenden ein Wissen und damit ein Urteil geben über den Prozeß
des christlichen Geistes. Auch hier ist nur Erforschung der Wahrheit das, was


Noch einmal die Unzulänglichkeit des theologischen Studiums.

hie und da ein Licht auf die biblische Geschichtserzählung wirft, das den Ge¬
bildeten in der Gemeinde über die wissenschaftliche Auffassung des Textes das
nötige Verständnis giebt. Er mag das thun, obgleich der Predigt zu oberst
nicht die Aufgabe zukommt, aufzuklären, sondern zu erheben. Das Vermögen
hierzu giebt nicht der theologische Standpunkt, sondern xeotus clisertos taon.
Man glaube doch ja nicht, daß der orthodoxe Standpunkt allein oder auch nur
leichter zu erheben verstünde. Was soll das für eine Erhebung sein, wenn ein
großer Teil der Gemeinde Dinge hören muß, die er schlechterdings sich nicht
mehr aneignen kann, z. B. wenn auf das Wunder für die religiöse Erkenntnis
alles Gewicht gelegt wird? Was für willkürliche Ansichten kommen doch da zu
Tage! Ich habe einmal kurz hintereinander von drei verschiednen Predigern
gehört, daß der eine die Auferweckung des Lazarus als das größte aller Wunder
hinstellte, ohne das die heilige Geschichte garnicht zu denken wäre, weil hier
Christus seine Macht zeige als Lebensspender; hier könne garnicht davon die
Rede sein, etwa an eine Ohnmacht zu denken, da es von dem Toten ausdrücklich
heiße, daß er schon gerochen habe. Der andre Geistliche stellte die Speisung der
Fünftausend als größtes aller Wunder hin; denn Christus zeige hier seine
scgensvendende Macht auch in den natürlichen Verhältnissen. Der dritte sah
in der Stillung des Sturmes das größte Wunder; denn die Naturgewalten
Hütten Christus gehorcht, zum Zeichen, daß er Gott sei. Was soll da für
Denkende für eine Erhebung möglich sein, wo man entweder in steter geheimer
Opposition zum Prediger stehen muß, oder sich über den Gallimathias inner¬
lich agere. Besser ist da der Prediger, der, wie gesagt, hie und da ein Wort
fallen läßt über die wissenschaftliche, etwa symbolische oder mythisch-geschichtliche
Auffassung einer Erzählung. Aber not thut das nicht. Er soll nur nicht
gerade das, was Schale an der biblischen Geschichte ist, als ewig dauernden
Kern hinstellen, und nicht gerade im Menschlichen das Göttliche sehen. Das
aber, was Schale ist, muß ihm die Exegese und die neutestamentliche Theologie
lehren. Wenn sie das in wissenschaftlicher Weise thut und nicht die Aufgabe
zu haben meint, die jungen Theologen kirchlich zu dressiren, sondern vielmehr
auf Erforschung der Ursprünge der christlichen Religion in ihrer Quelle aus¬
geht, wie sie das bisher sollte und zum Teil auch that, so ist da nichts zu
reformiren.

Ganz ebenso steht es mit der Kirchen- und Dogmengeschichte. Auch hier
ist der einzige Grundsatz für den Dozenten wissenschaftliche Darstellung. Beide
Disziplinen sind notwendig für den Theologen, aber weniger, um ihn auf geist¬
lichem Gebiete handeln zu lehren; denn da trifft noch mehr als sonst zu, was
Hegel einmal von der Geschichte sagt, daß sie die Lehre von der Unfähigkeit
des Menschen sei, aus der Vergangenheit zu lernen; aber die Geschichte soll
dem Studirenden ein Wissen und damit ein Urteil geben über den Prozeß
des christlichen Geistes. Auch hier ist nur Erforschung der Wahrheit das, was


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[0264] Noch einmal die Unzulänglichkeit des theologischen Studiums. hie und da ein Licht auf die biblische Geschichtserzählung wirft, das den Ge¬ bildeten in der Gemeinde über die wissenschaftliche Auffassung des Textes das nötige Verständnis giebt. Er mag das thun, obgleich der Predigt zu oberst nicht die Aufgabe zukommt, aufzuklären, sondern zu erheben. Das Vermögen hierzu giebt nicht der theologische Standpunkt, sondern xeotus clisertos taon. Man glaube doch ja nicht, daß der orthodoxe Standpunkt allein oder auch nur leichter zu erheben verstünde. Was soll das für eine Erhebung sein, wenn ein großer Teil der Gemeinde Dinge hören muß, die er schlechterdings sich nicht mehr aneignen kann, z. B. wenn auf das Wunder für die religiöse Erkenntnis alles Gewicht gelegt wird? Was für willkürliche Ansichten kommen doch da zu Tage! Ich habe einmal kurz hintereinander von drei verschiednen Predigern gehört, daß der eine die Auferweckung des Lazarus als das größte aller Wunder hinstellte, ohne das die heilige Geschichte garnicht zu denken wäre, weil hier Christus seine Macht zeige als Lebensspender; hier könne garnicht davon die Rede sein, etwa an eine Ohnmacht zu denken, da es von dem Toten ausdrücklich heiße, daß er schon gerochen habe. Der andre Geistliche stellte die Speisung der Fünftausend als größtes aller Wunder hin; denn Christus zeige hier seine scgensvendende Macht auch in den natürlichen Verhältnissen. Der dritte sah in der Stillung des Sturmes das größte Wunder; denn die Naturgewalten Hütten Christus gehorcht, zum Zeichen, daß er Gott sei. Was soll da für Denkende für eine Erhebung möglich sein, wo man entweder in steter geheimer Opposition zum Prediger stehen muß, oder sich über den Gallimathias inner¬ lich agere. Besser ist da der Prediger, der, wie gesagt, hie und da ein Wort fallen läßt über die wissenschaftliche, etwa symbolische oder mythisch-geschichtliche Auffassung einer Erzählung. Aber not thut das nicht. Er soll nur nicht gerade das, was Schale an der biblischen Geschichte ist, als ewig dauernden Kern hinstellen, und nicht gerade im Menschlichen das Göttliche sehen. Das aber, was Schale ist, muß ihm die Exegese und die neutestamentliche Theologie lehren. Wenn sie das in wissenschaftlicher Weise thut und nicht die Aufgabe zu haben meint, die jungen Theologen kirchlich zu dressiren, sondern vielmehr auf Erforschung der Ursprünge der christlichen Religion in ihrer Quelle aus¬ geht, wie sie das bisher sollte und zum Teil auch that, so ist da nichts zu reformiren. Ganz ebenso steht es mit der Kirchen- und Dogmengeschichte. Auch hier ist der einzige Grundsatz für den Dozenten wissenschaftliche Darstellung. Beide Disziplinen sind notwendig für den Theologen, aber weniger, um ihn auf geist¬ lichem Gebiete handeln zu lehren; denn da trifft noch mehr als sonst zu, was Hegel einmal von der Geschichte sagt, daß sie die Lehre von der Unfähigkeit des Menschen sei, aus der Vergangenheit zu lernen; aber die Geschichte soll dem Studirenden ein Wissen und damit ein Urteil geben über den Prozeß des christlichen Geistes. Auch hier ist nur Erforschung der Wahrheit das, was

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/264>, abgerufen am 17.09.2024.