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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Rechtseinheit.

Es erben sich Gesetz' und Rechte
Wie eine co'ge Krankheit fort;
Sie schleppen' von Geschlecht sich zu Geschlechte
Und rücken sacht von Ort zu Ort.
Vernunft wird Unsinn, Wohlthat Plage;
Weh dir, daß du ein Enkel bist!
Vom Rechte, das mit uns geboren ist,
Von dem ist leider nie die Frage.

Freilich ist es der Vertreter des Bösen, dem der Dichter diese an den uner¬
fahrenen Schüler gerichtete Belehrung in den Mund legt. Diese Richtung hat
in Deutschland große Erfolge erzielt. Schließlich besann man sich aber doch,
wohin es führen müsse, wenn die Richter sich bei Entscheidung der Prozesse
"icht an das positive Recht, sondern an ihr rechtsphilosophisches System halten,
"icht an das. was Rechtens ist, sondert! an das, was ihres Erachtens Recht
sein sollte. Man erkannte, daß es überhaupt unmöglich sei, auf diesem Wege
ein anwendbares Recht zu schaffen. Gegen die naturrechtliche Schule kam zu
Anfang dieses Jahrhunderts die hauptsächlich durch die Rechtslehrer Hugo und
Savigny zu Ehren gebrachte historische Schule empor, welche das Verdienst hat.
jenes nachgewiesen und dem Satze Geltung verschafft zu haben, daß. wie der Mensch
ans dem Kinde zum Erwachsenen reift, anch sein Rechtsleben. wenn es auf die
Bezeichnung "naturgemäß" wirklich Anspruch erhebet, will, sich bei Veränderungen
der behutsamen Anknüpfung an das Bestehende uicht entschlagen darf. Me
Verdienste der naturrechtlichen Schule liegen in ihrer Bedeutung uach der
kritischen Seite hin; die Abschaffung der Folter und der Hexenprozesse darf wohl
ihren Anhängern verdankt werden. Wo aber diese Schule darüber ^hinaus
ging, nur Kritik an dem Bestehenden zu üben, und wo die prakttschen Gunsten
von ihrem Einfluß angesteckt wurden, konnte eine gefährliche Nechtsuns.chcryc.t
nicht ausbleiben. Denn so viel philosophische Köpfe, so viel ph.losoph.sche
Systeme, und wenn schon bisher das Recht unzählige Streitfragen anso.es.
weil viele gesetzliche Bestimmungen wegen mangelhafter Fassung verschone ^us-
legnng fanden, und weil überhaupt, so lange Menschen Gesetze geben, wegen
der UnVollkommenheit aller menschlichen Einrichtungen trotz der größten For -
schritte in der Gesetzgebuugskuust solche zweifelhafte" Rechtsfrage" stets ent¬
stehen werden, so konnte das Naturrecht diesen Zustand gewiß nicht verbessern.

Friedrich dem Große., entging diese Rechtsunsicherheit nicht. Er legte ,.e
lediglich der Schlechtigkeit des römischen Rechts mit seinem Kontroverscnrelch-
tum zur Last, und beschloß, in Wiederaufnahme früherer, teils von .hin sept,
teils schon von seinem Vater König Friedrich Wilhelm I.. ja sogar schon durch
den Großen Kurfürsten gehegter Pläne, für die auch der große Pyuosopy
Leibniz schou eingetreten war. ein ganz neues. für jedermann verstandt.ches
Gesetzbuch in deutscher Sprache verfassen zu lassen, welches den gesamten Rechts¬
stoff enthalte., und in den preußischen Landen an die Stelle des gemeinen


Die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Rechtseinheit.

Es erben sich Gesetz' und Rechte
Wie eine co'ge Krankheit fort;
Sie schleppen' von Geschlecht sich zu Geschlechte
Und rücken sacht von Ort zu Ort.
Vernunft wird Unsinn, Wohlthat Plage;
Weh dir, daß du ein Enkel bist!
Vom Rechte, das mit uns geboren ist,
Von dem ist leider nie die Frage.

Freilich ist es der Vertreter des Bösen, dem der Dichter diese an den uner¬
fahrenen Schüler gerichtete Belehrung in den Mund legt. Diese Richtung hat
in Deutschland große Erfolge erzielt. Schließlich besann man sich aber doch,
wohin es führen müsse, wenn die Richter sich bei Entscheidung der Prozesse
"icht an das positive Recht, sondern an ihr rechtsphilosophisches System halten,
"icht an das. was Rechtens ist, sondert! an das, was ihres Erachtens Recht
sein sollte. Man erkannte, daß es überhaupt unmöglich sei, auf diesem Wege
ein anwendbares Recht zu schaffen. Gegen die naturrechtliche Schule kam zu
Anfang dieses Jahrhunderts die hauptsächlich durch die Rechtslehrer Hugo und
Savigny zu Ehren gebrachte historische Schule empor, welche das Verdienst hat.
jenes nachgewiesen und dem Satze Geltung verschafft zu haben, daß. wie der Mensch
ans dem Kinde zum Erwachsenen reift, anch sein Rechtsleben. wenn es auf die
Bezeichnung „naturgemäß" wirklich Anspruch erhebet, will, sich bei Veränderungen
der behutsamen Anknüpfung an das Bestehende uicht entschlagen darf. Me
Verdienste der naturrechtlichen Schule liegen in ihrer Bedeutung uach der
kritischen Seite hin; die Abschaffung der Folter und der Hexenprozesse darf wohl
ihren Anhängern verdankt werden. Wo aber diese Schule darüber ^hinaus
ging, nur Kritik an dem Bestehenden zu üben, und wo die prakttschen Gunsten
von ihrem Einfluß angesteckt wurden, konnte eine gefährliche Nechtsuns.chcryc.t
nicht ausbleiben. Denn so viel philosophische Köpfe, so viel ph.losoph.sche
Systeme, und wenn schon bisher das Recht unzählige Streitfragen anso.es.
weil viele gesetzliche Bestimmungen wegen mangelhafter Fassung verschone ^us-
legnng fanden, und weil überhaupt, so lange Menschen Gesetze geben, wegen
der UnVollkommenheit aller menschlichen Einrichtungen trotz der größten For -
schritte in der Gesetzgebuugskuust solche zweifelhafte» Rechtsfrage» stets ent¬
stehen werden, so konnte das Naturrecht diesen Zustand gewiß nicht verbessern.

Friedrich dem Große., entging diese Rechtsunsicherheit nicht. Er legte ,.e
lediglich der Schlechtigkeit des römischen Rechts mit seinem Kontroverscnrelch-
tum zur Last, und beschloß, in Wiederaufnahme früherer, teils von .hin sept,
teils schon von seinem Vater König Friedrich Wilhelm I.. ja sogar schon durch
den Großen Kurfürsten gehegter Pläne, für die auch der große Pyuosopy
Leibniz schou eingetreten war. ein ganz neues. für jedermann verstandt.ches
Gesetzbuch in deutscher Sprache verfassen zu lassen, welches den gesamten Rechts¬
stoff enthalte., und in den preußischen Landen an die Stelle des gemeinen


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[0213] Die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Rechtseinheit. Es erben sich Gesetz' und Rechte Wie eine co'ge Krankheit fort; Sie schleppen' von Geschlecht sich zu Geschlechte Und rücken sacht von Ort zu Ort. Vernunft wird Unsinn, Wohlthat Plage; Weh dir, daß du ein Enkel bist! Vom Rechte, das mit uns geboren ist, Von dem ist leider nie die Frage. Freilich ist es der Vertreter des Bösen, dem der Dichter diese an den uner¬ fahrenen Schüler gerichtete Belehrung in den Mund legt. Diese Richtung hat in Deutschland große Erfolge erzielt. Schließlich besann man sich aber doch, wohin es führen müsse, wenn die Richter sich bei Entscheidung der Prozesse "icht an das positive Recht, sondern an ihr rechtsphilosophisches System halten, "icht an das. was Rechtens ist, sondert! an das, was ihres Erachtens Recht sein sollte. Man erkannte, daß es überhaupt unmöglich sei, auf diesem Wege ein anwendbares Recht zu schaffen. Gegen die naturrechtliche Schule kam zu Anfang dieses Jahrhunderts die hauptsächlich durch die Rechtslehrer Hugo und Savigny zu Ehren gebrachte historische Schule empor, welche das Verdienst hat. jenes nachgewiesen und dem Satze Geltung verschafft zu haben, daß. wie der Mensch ans dem Kinde zum Erwachsenen reift, anch sein Rechtsleben. wenn es auf die Bezeichnung „naturgemäß" wirklich Anspruch erhebet, will, sich bei Veränderungen der behutsamen Anknüpfung an das Bestehende uicht entschlagen darf. Me Verdienste der naturrechtlichen Schule liegen in ihrer Bedeutung uach der kritischen Seite hin; die Abschaffung der Folter und der Hexenprozesse darf wohl ihren Anhängern verdankt werden. Wo aber diese Schule darüber ^hinaus ging, nur Kritik an dem Bestehenden zu üben, und wo die prakttschen Gunsten von ihrem Einfluß angesteckt wurden, konnte eine gefährliche Nechtsuns.chcryc.t nicht ausbleiben. Denn so viel philosophische Köpfe, so viel ph.losoph.sche Systeme, und wenn schon bisher das Recht unzählige Streitfragen anso.es. weil viele gesetzliche Bestimmungen wegen mangelhafter Fassung verschone ^us- legnng fanden, und weil überhaupt, so lange Menschen Gesetze geben, wegen der UnVollkommenheit aller menschlichen Einrichtungen trotz der größten For - schritte in der Gesetzgebuugskuust solche zweifelhafte» Rechtsfrage» stets ent¬ stehen werden, so konnte das Naturrecht diesen Zustand gewiß nicht verbessern. Friedrich dem Große., entging diese Rechtsunsicherheit nicht. Er legte ,.e lediglich der Schlechtigkeit des römischen Rechts mit seinem Kontroverscnrelch- tum zur Last, und beschloß, in Wiederaufnahme früherer, teils von .hin sept, teils schon von seinem Vater König Friedrich Wilhelm I.. ja sogar schon durch den Großen Kurfürsten gehegter Pläne, für die auch der große Pyuosopy Leibniz schou eingetreten war. ein ganz neues. für jedermann verstandt.ches Gesetzbuch in deutscher Sprache verfassen zu lassen, welches den gesamten Rechts¬ stoff enthalte., und in den preußischen Landen an die Stelle des gemeinen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/213>, abgerufen am 17.09.2024.