Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Du Bois-Reymonds Gesammelte Reden.


Wer erinnert sich nicht der flammenden Worte, welche patriotischer Zorn
unserm Redner am Vorabende der Erstürmung der Weißcnburgcr Höhen ein¬
flößte! Und acht Jahre später zerbricht sich derselbe Mann den Kopf über die
Frage, mas eigentlich Nationalgefühl sei und ob es berechtigt sei. Ist das ver¬
ständlich? "Fast keltischen Blutes und halb französischer Erziehung" fühlt
er sich doch gänzlich als Deutscher, ganz eins und verwachsen mit unserm
Bolle, obwohl er demselben nicht entstammt. Ist das nicht Antwort und Er¬
klärung genug auf seine Frage? Er aber durchwandert die ganze Weltgeschichte,
um den Begriff des Nationalgefühls in verschiedenen Zeiten und bei verschie¬
denen Völkern zu finden, und gelangt zu keinem befriedigenden Ergebnis, weil
er, wie uns dünkt, den Unterschied, welchen der Sprachgebrauch der Gegenwart
>ehr bestimmt zwischen Nationen und Nationalitäten macht, unbeachtet läßt.
Wie viel hnndcrtuial ist dem seit Louis Napoleon florirenden Nationalitäts-
schwindcl entgegengehalten worden, daß es keine Nation giebt, die nicht ver-
schiedne Nationalitäten in sich begriffe, und daß treue Anhänglichkeit an eigner
Sprache, eignen Sitten, eignem Glauben das Nationalgefühl nicht beeinträchtigt,
^cum nur die verschiedenen Stämme zusammengeschmolzen oder doch zusammen¬
geschweißt sind. Völlig verschmolzen sind nicht einmal, obwohl Du Vois dieser
Ansicht ist, die Normannen, Vrctagner, Burgunder, Provenzalen u. s. w., ge¬
schweige denn die Castilianer, Catalanen, Arragonesen, Basken, oder gar die
Lombarden, Toskaner, Römer, Süditaliener. Die Kelten in Wales Pflegen ihre


untergebracht sei. Aber darauf kommt wenig an. Auf dein eigentlichen Arbeits¬
gebiete des Verfassers bewegen sich: Voltaire als Naturforscher, Leibnizische
Gedanken in der neuern Naturwisscnschcift, über die Grenzen des Natnrerkcnnens
(jener wohlthätige kalte Strahl gegen die Überhebung gewisser Naturforscher),
^a Marie, Darwin vorsu8 Galiani, Kulturgeschichte und Naturwissenschaft, die
Neben Welträtsel, über die Lebenslose, über tierische Bewegung, ans Paul
^unam, Eduard Hallmanns Leben, über Zitterwelse, auf Johannes Müller,
"r physiologische Unterricht sonst und jetzt, ans den Llanos, über die Übung.
er Geschichte der Wissenschaft, über die wissenschaftlichen Zustände der Gegen¬
wart, die britische Naturforscherversammlung zu Southampton, Darwin und
^opernicus. endlich die meisten Begrüßungsreden. Wenn allen diesen AbHand-
ungen nachgerühmt werden muß, daß sie viel und daher manchem etwas bringen,
^"d aus demi Schatze großer Gelehrsamkeit und Belesenheit mitteilen, bald die
^murre des ans einem gewissen Punkte bis jetzt erreichten ziehen, bald kampfes-
Neudig Richtungen in der gelehrten Welt entgegentreten, so greift in andern
er Redner oft weit über seine Fachwissenschaft hinaus, und auch dann ist er stets
geistvoll und anregend -- sei es zum Beifall oder zum Widerspruch. Zu einigem
aus dieser Gruppe möchten wir uns ein paar Bemerkungen gestatten, die wir teil¬
weise als verspätet zurückhalten würden, wenn uns nicht neue Anmerkungen be¬
ehrten, daß der Verfasser auch heute noch den Inhalt seiner ältern Reden vertritt.
Du Bois-Reymonds Gesammelte Reden.


Wer erinnert sich nicht der flammenden Worte, welche patriotischer Zorn
unserm Redner am Vorabende der Erstürmung der Weißcnburgcr Höhen ein¬
flößte! Und acht Jahre später zerbricht sich derselbe Mann den Kopf über die
Frage, mas eigentlich Nationalgefühl sei und ob es berechtigt sei. Ist das ver¬
ständlich? „Fast keltischen Blutes und halb französischer Erziehung" fühlt
er sich doch gänzlich als Deutscher, ganz eins und verwachsen mit unserm
Bolle, obwohl er demselben nicht entstammt. Ist das nicht Antwort und Er¬
klärung genug auf seine Frage? Er aber durchwandert die ganze Weltgeschichte,
um den Begriff des Nationalgefühls in verschiedenen Zeiten und bei verschie¬
denen Völkern zu finden, und gelangt zu keinem befriedigenden Ergebnis, weil
er, wie uns dünkt, den Unterschied, welchen der Sprachgebrauch der Gegenwart
>ehr bestimmt zwischen Nationen und Nationalitäten macht, unbeachtet läßt.
Wie viel hnndcrtuial ist dem seit Louis Napoleon florirenden Nationalitäts-
schwindcl entgegengehalten worden, daß es keine Nation giebt, die nicht ver-
schiedne Nationalitäten in sich begriffe, und daß treue Anhänglichkeit an eigner
Sprache, eignen Sitten, eignem Glauben das Nationalgefühl nicht beeinträchtigt,
^cum nur die verschiedenen Stämme zusammengeschmolzen oder doch zusammen¬
geschweißt sind. Völlig verschmolzen sind nicht einmal, obwohl Du Vois dieser
Ansicht ist, die Normannen, Vrctagner, Burgunder, Provenzalen u. s. w., ge¬
schweige denn die Castilianer, Catalanen, Arragonesen, Basken, oder gar die
Lombarden, Toskaner, Römer, Süditaliener. Die Kelten in Wales Pflegen ihre


untergebracht sei. Aber darauf kommt wenig an. Auf dein eigentlichen Arbeits¬
gebiete des Verfassers bewegen sich: Voltaire als Naturforscher, Leibnizische
Gedanken in der neuern Naturwisscnschcift, über die Grenzen des Natnrerkcnnens
(jener wohlthätige kalte Strahl gegen die Überhebung gewisser Naturforscher),
^a Marie, Darwin vorsu8 Galiani, Kulturgeschichte und Naturwissenschaft, die
Neben Welträtsel, über die Lebenslose, über tierische Bewegung, ans Paul
^unam, Eduard Hallmanns Leben, über Zitterwelse, auf Johannes Müller,
"r physiologische Unterricht sonst und jetzt, ans den Llanos, über die Übung.
er Geschichte der Wissenschaft, über die wissenschaftlichen Zustände der Gegen¬
wart, die britische Naturforscherversammlung zu Southampton, Darwin und
^opernicus. endlich die meisten Begrüßungsreden. Wenn allen diesen AbHand-
ungen nachgerühmt werden muß, daß sie viel und daher manchem etwas bringen,
^"d aus demi Schatze großer Gelehrsamkeit und Belesenheit mitteilen, bald die
^murre des ans einem gewissen Punkte bis jetzt erreichten ziehen, bald kampfes-
Neudig Richtungen in der gelehrten Welt entgegentreten, so greift in andern
er Redner oft weit über seine Fachwissenschaft hinaus, und auch dann ist er stets
geistvoll und anregend — sei es zum Beifall oder zum Widerspruch. Zu einigem
aus dieser Gruppe möchten wir uns ein paar Bemerkungen gestatten, die wir teil¬
weise als verspätet zurückhalten würden, wenn uns nicht neue Anmerkungen be¬
ehrten, daß der Verfasser auch heute noch den Inhalt seiner ältern Reden vertritt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0179" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/288632"/>
          <fw type="header" place="top"> Du Bois-Reymonds Gesammelte Reden.</fw><lb/>
          <note xml:id="FID_31" place="foot"> untergebracht sei. Aber darauf kommt wenig an. Auf dein eigentlichen Arbeits¬<lb/>
gebiete des Verfassers bewegen sich: Voltaire als Naturforscher, Leibnizische<lb/>
Gedanken in der neuern Naturwisscnschcift, über die Grenzen des Natnrerkcnnens<lb/>
(jener wohlthätige kalte Strahl gegen die Überhebung gewisser Naturforscher),<lb/>
^a Marie, Darwin vorsu8 Galiani, Kulturgeschichte und Naturwissenschaft, die<lb/>
Neben Welträtsel, über die Lebenslose, über tierische Bewegung, ans Paul<lb/>
^unam, Eduard Hallmanns Leben, über Zitterwelse, auf Johannes Müller,<lb/>
"r physiologische Unterricht sonst und jetzt, ans den Llanos, über die Übung.<lb/>
er Geschichte der Wissenschaft, über die wissenschaftlichen Zustände der Gegen¬<lb/>
wart, die britische Naturforscherversammlung zu Southampton, Darwin und<lb/>
^opernicus. endlich die meisten Begrüßungsreden. Wenn allen diesen AbHand-<lb/>
ungen nachgerühmt werden muß, daß sie viel und daher manchem etwas bringen,<lb/>
^"d aus demi Schatze großer Gelehrsamkeit und Belesenheit mitteilen, bald die<lb/>
^murre des ans einem gewissen Punkte bis jetzt erreichten ziehen, bald kampfes-<lb/>
Neudig Richtungen in der gelehrten Welt entgegentreten, so greift in andern<lb/>
er Redner oft weit über seine Fachwissenschaft hinaus, und auch dann ist er stets<lb/>
geistvoll und anregend &#x2014; sei es zum Beifall oder zum Widerspruch. Zu einigem<lb/>
aus dieser Gruppe möchten wir uns ein paar Bemerkungen gestatten, die wir teil¬<lb/>
weise als verspätet zurückhalten würden, wenn uns nicht neue Anmerkungen be¬<lb/>
ehrten, daß der Verfasser auch heute noch den Inhalt seiner ältern Reden vertritt.</note><lb/>
          <p xml:id="ID_518" next="#ID_519"> Wer erinnert sich nicht der flammenden Worte, welche patriotischer Zorn<lb/>
unserm Redner am Vorabende der Erstürmung der Weißcnburgcr Höhen ein¬<lb/>
flößte! Und acht Jahre später zerbricht sich derselbe Mann den Kopf über die<lb/>
Frage, mas eigentlich Nationalgefühl sei und ob es berechtigt sei. Ist das ver¬<lb/>
ständlich? &#x201E;Fast    keltischen Blutes und halb französischer Erziehung" fühlt<lb/>
er sich doch gänzlich als Deutscher, ganz eins und verwachsen mit unserm<lb/>
Bolle, obwohl er demselben nicht entstammt. Ist das nicht Antwort und Er¬<lb/>
klärung genug auf seine Frage? Er aber durchwandert die ganze Weltgeschichte,<lb/>
um den Begriff des Nationalgefühls in verschiedenen Zeiten und bei verschie¬<lb/>
denen Völkern zu finden, und gelangt zu keinem befriedigenden Ergebnis, weil<lb/>
er, wie uns dünkt, den Unterschied, welchen der Sprachgebrauch der Gegenwart<lb/>
&gt;ehr bestimmt zwischen Nationen und Nationalitäten macht, unbeachtet läßt.<lb/>
Wie viel hnndcrtuial ist dem seit Louis Napoleon florirenden Nationalitäts-<lb/>
schwindcl entgegengehalten worden, daß es keine Nation giebt, die nicht ver-<lb/>
schiedne Nationalitäten in sich begriffe, und daß treue Anhänglichkeit an eigner<lb/>
Sprache, eignen Sitten, eignem Glauben das Nationalgefühl nicht beeinträchtigt,<lb/>
^cum nur die verschiedenen Stämme zusammengeschmolzen oder doch zusammen¬<lb/>
geschweißt sind. Völlig verschmolzen sind nicht einmal, obwohl Du Vois dieser<lb/>
Ansicht ist, die Normannen, Vrctagner, Burgunder, Provenzalen u. s. w., ge¬<lb/>
schweige denn die Castilianer, Catalanen, Arragonesen, Basken, oder gar die<lb/>
Lombarden, Toskaner, Römer, Süditaliener. Die Kelten in Wales Pflegen ihre</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0179] Du Bois-Reymonds Gesammelte Reden. Wer erinnert sich nicht der flammenden Worte, welche patriotischer Zorn unserm Redner am Vorabende der Erstürmung der Weißcnburgcr Höhen ein¬ flößte! Und acht Jahre später zerbricht sich derselbe Mann den Kopf über die Frage, mas eigentlich Nationalgefühl sei und ob es berechtigt sei. Ist das ver¬ ständlich? „Fast keltischen Blutes und halb französischer Erziehung" fühlt er sich doch gänzlich als Deutscher, ganz eins und verwachsen mit unserm Bolle, obwohl er demselben nicht entstammt. Ist das nicht Antwort und Er¬ klärung genug auf seine Frage? Er aber durchwandert die ganze Weltgeschichte, um den Begriff des Nationalgefühls in verschiedenen Zeiten und bei verschie¬ denen Völkern zu finden, und gelangt zu keinem befriedigenden Ergebnis, weil er, wie uns dünkt, den Unterschied, welchen der Sprachgebrauch der Gegenwart >ehr bestimmt zwischen Nationen und Nationalitäten macht, unbeachtet läßt. Wie viel hnndcrtuial ist dem seit Louis Napoleon florirenden Nationalitäts- schwindcl entgegengehalten worden, daß es keine Nation giebt, die nicht ver- schiedne Nationalitäten in sich begriffe, und daß treue Anhänglichkeit an eigner Sprache, eignen Sitten, eignem Glauben das Nationalgefühl nicht beeinträchtigt, ^cum nur die verschiedenen Stämme zusammengeschmolzen oder doch zusammen¬ geschweißt sind. Völlig verschmolzen sind nicht einmal, obwohl Du Vois dieser Ansicht ist, die Normannen, Vrctagner, Burgunder, Provenzalen u. s. w., ge¬ schweige denn die Castilianer, Catalanen, Arragonesen, Basken, oder gar die Lombarden, Toskaner, Römer, Süditaliener. Die Kelten in Wales Pflegen ihre untergebracht sei. Aber darauf kommt wenig an. Auf dein eigentlichen Arbeits¬ gebiete des Verfassers bewegen sich: Voltaire als Naturforscher, Leibnizische Gedanken in der neuern Naturwisscnschcift, über die Grenzen des Natnrerkcnnens (jener wohlthätige kalte Strahl gegen die Überhebung gewisser Naturforscher), ^a Marie, Darwin vorsu8 Galiani, Kulturgeschichte und Naturwissenschaft, die Neben Welträtsel, über die Lebenslose, über tierische Bewegung, ans Paul ^unam, Eduard Hallmanns Leben, über Zitterwelse, auf Johannes Müller, "r physiologische Unterricht sonst und jetzt, ans den Llanos, über die Übung. er Geschichte der Wissenschaft, über die wissenschaftlichen Zustände der Gegen¬ wart, die britische Naturforscherversammlung zu Southampton, Darwin und ^opernicus. endlich die meisten Begrüßungsreden. Wenn allen diesen AbHand- ungen nachgerühmt werden muß, daß sie viel und daher manchem etwas bringen, ^"d aus demi Schatze großer Gelehrsamkeit und Belesenheit mitteilen, bald die ^murre des ans einem gewissen Punkte bis jetzt erreichten ziehen, bald kampfes- Neudig Richtungen in der gelehrten Welt entgegentreten, so greift in andern er Redner oft weit über seine Fachwissenschaft hinaus, und auch dann ist er stets geistvoll und anregend — sei es zum Beifall oder zum Widerspruch. Zu einigem aus dieser Gruppe möchten wir uns ein paar Bemerkungen gestatten, die wir teil¬ weise als verspätet zurückhalten würden, wenn uns nicht neue Anmerkungen be¬ ehrten, daß der Verfasser auch heute noch den Inhalt seiner ältern Reden vertritt.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/179
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/179>, abgerufen am 17.09.2024.