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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Jugenderinnerungen.

Achtung vor dem Heilige" war mir von Jugend auf eingeprägt worden.
Fehlte es mir nun auch noch an eignem Urteil, das mich zu einer lauten
Äußerung hätte veranlassen können, so fühlte ich doch ein tiefes Weh im Herzen
bei diesem Anblick. Jüdische Knaben, nicht älter als ich selbst, handelten vor
den Thüren christlicher Kirchen mit Abbildern des Gekreuzigten! Wußten sie
denn nicht, was sie thaten, oder dachten sie sich nichts dabei?

Der Vater schüttelte den Kops, ließ sich aber nicht weiter darüber aus,
vermutlich, weil er uns noch für zu jung hielt, um sich mit uns über einen
solchen Gegenstand eingehend unterhalten zu können. Ich selbst wagte deshalb
keine Frage an ihn zu richten, obwohl sie mir auf der Zunge lag und ich
große Lust dazu verspürte. Aber ich war vor einiger Zeit mit meiner knaben¬
haften Naseweisheit übel angekommen. Es war von der Schöpfung die Rede
gewesen, und daß durch die Weisheit und Allmacht Gottes aus Nichts Erde,
Sonne. Mond und Sterne gemacht worden seien. Da warf ich dummer Junge
die dreiste Frage hin: wer denn eigentlich den lieben Gott gemacht habe? Der
Vater mußte wohl sehr über meine unüberlegte Frage erschrocken sein, denn er
hielt mir eine kurze Strafpredigt, die mit der warnenden Rüge schloß, daß wer
solche Fragen aufzuwerfen sich unterfange, eines schönen Tages den Verstand
verlieren könne. Den wollte ich nun gern behalten, und darum fragte ich nicht
wieder so kindisch, obwohl ich den Gedanken garnicht aus dem Kopfe verscheuchen
konnte. Weil ich nnn besorgte, es könnte mir bei einer neuen unüberlegten
Frage über den Schacher mit Christusbildern, den die schwarzlockigen, schwarz¬
äugigen Judenknaben trieben, abermals ein scharfer väterlicher Tadel zu Teil
werden, so schwieg ich. Mein kindisches Denken aber klammerte sich fest an
das über die ganze Erde zerstreute Volk Gottes, und die Leidensgeschichte, die
ich längst auswendig wußte, stand leibhaftig vor meines Geistes Augen. So
oft ich eines Juden ansichtig wurde, und wir begegneten ihnen, sobald wir die
Straße betraten, sah ich den gefesselten Heiland auf der Richtstätte vor Pilatus'
Hause, blutend unter den Geißelhieben der römischen Schergen, hörte das Wut¬
geheul der Juden, die rachedürstend ihr "Kreuzige ihn!" und das entsetzliche
Wort riefen: "Sein Blut komme über uns und unsre Kinder!"

Die Frage, die ich dem Vater nicht vorzulegen wagte, warum Gott das
zugelassen habe, beschäftigte mich fortwährend, und das jüdische Volk in seiner
Zerstreuung über die ganze bewohnte Erde wurde mir interessanter als jedes
andre. Zwar betrachtete ich jeden mir begegnenden Juden mit scheuem Blick;
mich überkam ein Gefühl der Bangigkeit, dem sich zugleich eine unklare Em¬
pfindung von Mitleid beigesellte. Die Strafe, welche das Volk Gottes für die
Kreuzigung Christi getroffen hatte, erschien mir über alle Begriffe hart, zu hart
für einen Gott, der aus Liebe zu der irrenden Menschheit freiwillig den eignen
Sohn zum Opfer brachte. War es wirklich möglich und denkbar, daß dieser
Gott der Liebe länger denn achtzehnhundert Jahre zürnen und nach so langer


Grenzboten II. 1887.
Jugenderinnerungen.

Achtung vor dem Heilige» war mir von Jugend auf eingeprägt worden.
Fehlte es mir nun auch noch an eignem Urteil, das mich zu einer lauten
Äußerung hätte veranlassen können, so fühlte ich doch ein tiefes Weh im Herzen
bei diesem Anblick. Jüdische Knaben, nicht älter als ich selbst, handelten vor
den Thüren christlicher Kirchen mit Abbildern des Gekreuzigten! Wußten sie
denn nicht, was sie thaten, oder dachten sie sich nichts dabei?

Der Vater schüttelte den Kops, ließ sich aber nicht weiter darüber aus,
vermutlich, weil er uns noch für zu jung hielt, um sich mit uns über einen
solchen Gegenstand eingehend unterhalten zu können. Ich selbst wagte deshalb
keine Frage an ihn zu richten, obwohl sie mir auf der Zunge lag und ich
große Lust dazu verspürte. Aber ich war vor einiger Zeit mit meiner knaben¬
haften Naseweisheit übel angekommen. Es war von der Schöpfung die Rede
gewesen, und daß durch die Weisheit und Allmacht Gottes aus Nichts Erde,
Sonne. Mond und Sterne gemacht worden seien. Da warf ich dummer Junge
die dreiste Frage hin: wer denn eigentlich den lieben Gott gemacht habe? Der
Vater mußte wohl sehr über meine unüberlegte Frage erschrocken sein, denn er
hielt mir eine kurze Strafpredigt, die mit der warnenden Rüge schloß, daß wer
solche Fragen aufzuwerfen sich unterfange, eines schönen Tages den Verstand
verlieren könne. Den wollte ich nun gern behalten, und darum fragte ich nicht
wieder so kindisch, obwohl ich den Gedanken garnicht aus dem Kopfe verscheuchen
konnte. Weil ich nnn besorgte, es könnte mir bei einer neuen unüberlegten
Frage über den Schacher mit Christusbildern, den die schwarzlockigen, schwarz¬
äugigen Judenknaben trieben, abermals ein scharfer väterlicher Tadel zu Teil
werden, so schwieg ich. Mein kindisches Denken aber klammerte sich fest an
das über die ganze Erde zerstreute Volk Gottes, und die Leidensgeschichte, die
ich längst auswendig wußte, stand leibhaftig vor meines Geistes Augen. So
oft ich eines Juden ansichtig wurde, und wir begegneten ihnen, sobald wir die
Straße betraten, sah ich den gefesselten Heiland auf der Richtstätte vor Pilatus'
Hause, blutend unter den Geißelhieben der römischen Schergen, hörte das Wut¬
geheul der Juden, die rachedürstend ihr „Kreuzige ihn!" und das entsetzliche
Wort riefen: „Sein Blut komme über uns und unsre Kinder!"

Die Frage, die ich dem Vater nicht vorzulegen wagte, warum Gott das
zugelassen habe, beschäftigte mich fortwährend, und das jüdische Volk in seiner
Zerstreuung über die ganze bewohnte Erde wurde mir interessanter als jedes
andre. Zwar betrachtete ich jeden mir begegnenden Juden mit scheuem Blick;
mich überkam ein Gefühl der Bangigkeit, dem sich zugleich eine unklare Em¬
pfindung von Mitleid beigesellte. Die Strafe, welche das Volk Gottes für die
Kreuzigung Christi getroffen hatte, erschien mir über alle Begriffe hart, zu hart
für einen Gott, der aus Liebe zu der irrenden Menschheit freiwillig den eignen
Sohn zum Opfer brachte. War es wirklich möglich und denkbar, daß dieser
Gott der Liebe länger denn achtzehnhundert Jahre zürnen und nach so langer


Grenzboten II. 1887.
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[0145] Jugenderinnerungen. Achtung vor dem Heilige» war mir von Jugend auf eingeprägt worden. Fehlte es mir nun auch noch an eignem Urteil, das mich zu einer lauten Äußerung hätte veranlassen können, so fühlte ich doch ein tiefes Weh im Herzen bei diesem Anblick. Jüdische Knaben, nicht älter als ich selbst, handelten vor den Thüren christlicher Kirchen mit Abbildern des Gekreuzigten! Wußten sie denn nicht, was sie thaten, oder dachten sie sich nichts dabei? Der Vater schüttelte den Kops, ließ sich aber nicht weiter darüber aus, vermutlich, weil er uns noch für zu jung hielt, um sich mit uns über einen solchen Gegenstand eingehend unterhalten zu können. Ich selbst wagte deshalb keine Frage an ihn zu richten, obwohl sie mir auf der Zunge lag und ich große Lust dazu verspürte. Aber ich war vor einiger Zeit mit meiner knaben¬ haften Naseweisheit übel angekommen. Es war von der Schöpfung die Rede gewesen, und daß durch die Weisheit und Allmacht Gottes aus Nichts Erde, Sonne. Mond und Sterne gemacht worden seien. Da warf ich dummer Junge die dreiste Frage hin: wer denn eigentlich den lieben Gott gemacht habe? Der Vater mußte wohl sehr über meine unüberlegte Frage erschrocken sein, denn er hielt mir eine kurze Strafpredigt, die mit der warnenden Rüge schloß, daß wer solche Fragen aufzuwerfen sich unterfange, eines schönen Tages den Verstand verlieren könne. Den wollte ich nun gern behalten, und darum fragte ich nicht wieder so kindisch, obwohl ich den Gedanken garnicht aus dem Kopfe verscheuchen konnte. Weil ich nnn besorgte, es könnte mir bei einer neuen unüberlegten Frage über den Schacher mit Christusbildern, den die schwarzlockigen, schwarz¬ äugigen Judenknaben trieben, abermals ein scharfer väterlicher Tadel zu Teil werden, so schwieg ich. Mein kindisches Denken aber klammerte sich fest an das über die ganze Erde zerstreute Volk Gottes, und die Leidensgeschichte, die ich längst auswendig wußte, stand leibhaftig vor meines Geistes Augen. So oft ich eines Juden ansichtig wurde, und wir begegneten ihnen, sobald wir die Straße betraten, sah ich den gefesselten Heiland auf der Richtstätte vor Pilatus' Hause, blutend unter den Geißelhieben der römischen Schergen, hörte das Wut¬ geheul der Juden, die rachedürstend ihr „Kreuzige ihn!" und das entsetzliche Wort riefen: „Sein Blut komme über uns und unsre Kinder!" Die Frage, die ich dem Vater nicht vorzulegen wagte, warum Gott das zugelassen habe, beschäftigte mich fortwährend, und das jüdische Volk in seiner Zerstreuung über die ganze bewohnte Erde wurde mir interessanter als jedes andre. Zwar betrachtete ich jeden mir begegnenden Juden mit scheuem Blick; mich überkam ein Gefühl der Bangigkeit, dem sich zugleich eine unklare Em¬ pfindung von Mitleid beigesellte. Die Strafe, welche das Volk Gottes für die Kreuzigung Christi getroffen hatte, erschien mir über alle Begriffe hart, zu hart für einen Gott, der aus Liebe zu der irrenden Menschheit freiwillig den eignen Sohn zum Opfer brachte. War es wirklich möglich und denkbar, daß dieser Gott der Liebe länger denn achtzehnhundert Jahre zürnen und nach so langer Grenzboten II. 1887.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/145>, abgerufen am 17.09.2024.