Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Rechtsprechung der französischen Schwurgerichte.

Was jedoch in Deutschland eine höchst seltene und auch dann sogleich von
den ruhiger denkenden mißbilligte und bekämpfte Ausnahme bildet: die gänz¬
liche Mißachtung oder Beiseitesetzuug des Gesetzes, die Urteilsschöpfung nicht
nach der Stimme des Gewissens, sondern nach Eingebung des Mitleids, des
Zorns, kurz, einer augenblicklichen Erregung -- das ist bei der französischen
Jury nachgerade zur ständigen Erscheinung geworden und hat sich nach mancher
Richtung zum förmlichen System ausgebildet.

Vergegenwärtigen wir uns einmal die Lage, wie sie mit einer fast er¬
schreckenden Regelmäßigkeit in den Verhandlungssälen französischer Assisen
wiederkehrt.

Die Angeklagte tritt auf; sie ist jung, schön, natürlich in tiefes Schwarz
gekleidet, in Thränen gebadet, das Bild einer reuigen Magdalena. Es wird
ihr zur Last gelegt, ihr Kind getötet zu haben. Sie gesteht die That mit
allen Einzelheiten ein; aber -- sie war das Opfer eines Gewissenlosen, der sie
schnöde verlassen hat; in ihrer schrecklichen Lage, von Not, Schande, Ver¬
zweiflung getrieben, halb wahnsinnig, habe sie die Unthat begangen. Der Ver¬
teidiger braucht sich ihretwegen nicht besonders anzustrengen, er kann seine
rednerischen Kunststücke sparen. Die Geschwornen sind längst mit sich im Reinen:
nach einer Beratung von wenigen Minuten verkünden sie die Freisprechung,
und die Freigesprochene wird im Triumphzuge von ihren Freunden aus dem
Saale geführt.

Andres Bild: Vor den Schranken des Gerichts erscheint wieder eine junge
Dame -- wie man merkt, spielt bei diesen Urteilen der Einfluß des Ewig-
Weiblichen keine geringe Rolle --, mit allen Reizen einer feinen Pariserin aus¬
gestattet. Es ist die alte Geschichte: ihr Geliebter, nachdem er sie zur Mutter
gemacht, hat ihr den Rücken gekehrt und nach dem bewährten Grundsatze:
VaristW clole-not sich einem andern Gegenstande seiner Verführungskunst zu¬
gewendet. Von Eifersucht und Rache getrieben, hat sie dem Treulosen auf¬
gelauert und seine edelgeformten Züge mit einem wohlangebrachten Strahl von
Vitriol aller weitern Anziehungskraft zu berauben gesucht. Auch in diesem Falle
hat der Verteidiger leichtes Spiel.

Ungemein lehrreich und bezeichnend für derlei Fälle ist uuter andern die Ver¬
teidigung, mit welcher der berühmte Advokat Lachaud*) im Jahre 1880 für die
eines Mordversuchs an ihrem frühern Geliebten Gentien angeklagte Marie Biere
vor dem Assisengerichtshofe der Seine eintrat. Da giebt es keinerlei oratorische
Bewegung, keine leidenschaftlichen Ausbrüche, kaum den schwachen Versuch einer
Beweisführung; die Anstrengung ist ja ganz überflüssig. Dieser geschickte Anwalt
will seine Richter garnicht glauben machen, daß er sich ihrer zu bemächtigen suche,



*) Siehe ?1s,iäoz?srs as OK. I^clrauä, rseusillis xar N. SanMisr. Paris, Char-
pentier, 188ö.
Die Rechtsprechung der französischen Schwurgerichte.

Was jedoch in Deutschland eine höchst seltene und auch dann sogleich von
den ruhiger denkenden mißbilligte und bekämpfte Ausnahme bildet: die gänz¬
liche Mißachtung oder Beiseitesetzuug des Gesetzes, die Urteilsschöpfung nicht
nach der Stimme des Gewissens, sondern nach Eingebung des Mitleids, des
Zorns, kurz, einer augenblicklichen Erregung — das ist bei der französischen
Jury nachgerade zur ständigen Erscheinung geworden und hat sich nach mancher
Richtung zum förmlichen System ausgebildet.

Vergegenwärtigen wir uns einmal die Lage, wie sie mit einer fast er¬
schreckenden Regelmäßigkeit in den Verhandlungssälen französischer Assisen
wiederkehrt.

Die Angeklagte tritt auf; sie ist jung, schön, natürlich in tiefes Schwarz
gekleidet, in Thränen gebadet, das Bild einer reuigen Magdalena. Es wird
ihr zur Last gelegt, ihr Kind getötet zu haben. Sie gesteht die That mit
allen Einzelheiten ein; aber — sie war das Opfer eines Gewissenlosen, der sie
schnöde verlassen hat; in ihrer schrecklichen Lage, von Not, Schande, Ver¬
zweiflung getrieben, halb wahnsinnig, habe sie die Unthat begangen. Der Ver¬
teidiger braucht sich ihretwegen nicht besonders anzustrengen, er kann seine
rednerischen Kunststücke sparen. Die Geschwornen sind längst mit sich im Reinen:
nach einer Beratung von wenigen Minuten verkünden sie die Freisprechung,
und die Freigesprochene wird im Triumphzuge von ihren Freunden aus dem
Saale geführt.

Andres Bild: Vor den Schranken des Gerichts erscheint wieder eine junge
Dame — wie man merkt, spielt bei diesen Urteilen der Einfluß des Ewig-
Weiblichen keine geringe Rolle —, mit allen Reizen einer feinen Pariserin aus¬
gestattet. Es ist die alte Geschichte: ihr Geliebter, nachdem er sie zur Mutter
gemacht, hat ihr den Rücken gekehrt und nach dem bewährten Grundsatze:
VaristW clole-not sich einem andern Gegenstande seiner Verführungskunst zu¬
gewendet. Von Eifersucht und Rache getrieben, hat sie dem Treulosen auf¬
gelauert und seine edelgeformten Züge mit einem wohlangebrachten Strahl von
Vitriol aller weitern Anziehungskraft zu berauben gesucht. Auch in diesem Falle
hat der Verteidiger leichtes Spiel.

Ungemein lehrreich und bezeichnend für derlei Fälle ist uuter andern die Ver¬
teidigung, mit welcher der berühmte Advokat Lachaud*) im Jahre 1880 für die
eines Mordversuchs an ihrem frühern Geliebten Gentien angeklagte Marie Biere
vor dem Assisengerichtshofe der Seine eintrat. Da giebt es keinerlei oratorische
Bewegung, keine leidenschaftlichen Ausbrüche, kaum den schwachen Versuch einer
Beweisführung; die Anstrengung ist ja ganz überflüssig. Dieser geschickte Anwalt
will seine Richter garnicht glauben machen, daß er sich ihrer zu bemächtigen suche,



*) Siehe ?1s,iäoz?srs as OK. I^clrauä, rseusillis xar N. SanMisr. Paris, Char-
pentier, 188ö.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0139" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/288592"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Rechtsprechung der französischen Schwurgerichte.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_391"> Was jedoch in Deutschland eine höchst seltene und auch dann sogleich von<lb/>
den ruhiger denkenden mißbilligte und bekämpfte Ausnahme bildet: die gänz¬<lb/>
liche Mißachtung oder Beiseitesetzuug des Gesetzes, die Urteilsschöpfung nicht<lb/>
nach der Stimme des Gewissens, sondern nach Eingebung des Mitleids, des<lb/>
Zorns, kurz, einer augenblicklichen Erregung &#x2014; das ist bei der französischen<lb/>
Jury nachgerade zur ständigen Erscheinung geworden und hat sich nach mancher<lb/>
Richtung zum förmlichen System ausgebildet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_392"> Vergegenwärtigen wir uns einmal die Lage, wie sie mit einer fast er¬<lb/>
schreckenden Regelmäßigkeit in den Verhandlungssälen französischer Assisen<lb/>
wiederkehrt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_393"> Die Angeklagte tritt auf; sie ist jung, schön, natürlich in tiefes Schwarz<lb/>
gekleidet, in Thränen gebadet, das Bild einer reuigen Magdalena. Es wird<lb/>
ihr zur Last gelegt, ihr Kind getötet zu haben. Sie gesteht die That mit<lb/>
allen Einzelheiten ein; aber &#x2014; sie war das Opfer eines Gewissenlosen, der sie<lb/>
schnöde verlassen hat; in ihrer schrecklichen Lage, von Not, Schande, Ver¬<lb/>
zweiflung getrieben, halb wahnsinnig, habe sie die Unthat begangen. Der Ver¬<lb/>
teidiger braucht sich ihretwegen nicht besonders anzustrengen, er kann seine<lb/>
rednerischen Kunststücke sparen. Die Geschwornen sind längst mit sich im Reinen:<lb/>
nach einer Beratung von wenigen Minuten verkünden sie die Freisprechung,<lb/>
und die Freigesprochene wird im Triumphzuge von ihren Freunden aus dem<lb/>
Saale geführt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_394"> Andres Bild: Vor den Schranken des Gerichts erscheint wieder eine junge<lb/>
Dame &#x2014; wie man merkt, spielt bei diesen Urteilen der Einfluß des Ewig-<lb/>
Weiblichen keine geringe Rolle &#x2014;, mit allen Reizen einer feinen Pariserin aus¬<lb/>
gestattet. Es ist die alte Geschichte: ihr Geliebter, nachdem er sie zur Mutter<lb/>
gemacht, hat ihr den Rücken gekehrt und nach dem bewährten Grundsatze:<lb/>
VaristW clole-not sich einem andern Gegenstande seiner Verführungskunst zu¬<lb/>
gewendet. Von Eifersucht und Rache getrieben, hat sie dem Treulosen auf¬<lb/>
gelauert und seine edelgeformten Züge mit einem wohlangebrachten Strahl von<lb/>
Vitriol aller weitern Anziehungskraft zu berauben gesucht. Auch in diesem Falle<lb/>
hat der Verteidiger leichtes Spiel.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_395" next="#ID_396"> Ungemein lehrreich und bezeichnend für derlei Fälle ist uuter andern die Ver¬<lb/>
teidigung, mit welcher der berühmte Advokat Lachaud*) im Jahre 1880 für die<lb/>
eines Mordversuchs an ihrem frühern Geliebten Gentien angeklagte Marie Biere<lb/>
vor dem Assisengerichtshofe der Seine eintrat. Da giebt es keinerlei oratorische<lb/>
Bewegung, keine leidenschaftlichen Ausbrüche, kaum den schwachen Versuch einer<lb/>
Beweisführung; die Anstrengung ist ja ganz überflüssig. Dieser geschickte Anwalt<lb/>
will seine Richter garnicht glauben machen, daß er sich ihrer zu bemächtigen suche,</p><lb/>
          <note xml:id="FID_27" place="foot"> *) Siehe ?1s,iäoz?srs as OK. I^clrauä, rseusillis xar N. SanMisr. Paris, Char-<lb/>
pentier, 188ö.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0139] Die Rechtsprechung der französischen Schwurgerichte. Was jedoch in Deutschland eine höchst seltene und auch dann sogleich von den ruhiger denkenden mißbilligte und bekämpfte Ausnahme bildet: die gänz¬ liche Mißachtung oder Beiseitesetzuug des Gesetzes, die Urteilsschöpfung nicht nach der Stimme des Gewissens, sondern nach Eingebung des Mitleids, des Zorns, kurz, einer augenblicklichen Erregung — das ist bei der französischen Jury nachgerade zur ständigen Erscheinung geworden und hat sich nach mancher Richtung zum förmlichen System ausgebildet. Vergegenwärtigen wir uns einmal die Lage, wie sie mit einer fast er¬ schreckenden Regelmäßigkeit in den Verhandlungssälen französischer Assisen wiederkehrt. Die Angeklagte tritt auf; sie ist jung, schön, natürlich in tiefes Schwarz gekleidet, in Thränen gebadet, das Bild einer reuigen Magdalena. Es wird ihr zur Last gelegt, ihr Kind getötet zu haben. Sie gesteht die That mit allen Einzelheiten ein; aber — sie war das Opfer eines Gewissenlosen, der sie schnöde verlassen hat; in ihrer schrecklichen Lage, von Not, Schande, Ver¬ zweiflung getrieben, halb wahnsinnig, habe sie die Unthat begangen. Der Ver¬ teidiger braucht sich ihretwegen nicht besonders anzustrengen, er kann seine rednerischen Kunststücke sparen. Die Geschwornen sind längst mit sich im Reinen: nach einer Beratung von wenigen Minuten verkünden sie die Freisprechung, und die Freigesprochene wird im Triumphzuge von ihren Freunden aus dem Saale geführt. Andres Bild: Vor den Schranken des Gerichts erscheint wieder eine junge Dame — wie man merkt, spielt bei diesen Urteilen der Einfluß des Ewig- Weiblichen keine geringe Rolle —, mit allen Reizen einer feinen Pariserin aus¬ gestattet. Es ist die alte Geschichte: ihr Geliebter, nachdem er sie zur Mutter gemacht, hat ihr den Rücken gekehrt und nach dem bewährten Grundsatze: VaristW clole-not sich einem andern Gegenstande seiner Verführungskunst zu¬ gewendet. Von Eifersucht und Rache getrieben, hat sie dem Treulosen auf¬ gelauert und seine edelgeformten Züge mit einem wohlangebrachten Strahl von Vitriol aller weitern Anziehungskraft zu berauben gesucht. Auch in diesem Falle hat der Verteidiger leichtes Spiel. Ungemein lehrreich und bezeichnend für derlei Fälle ist uuter andern die Ver¬ teidigung, mit welcher der berühmte Advokat Lachaud*) im Jahre 1880 für die eines Mordversuchs an ihrem frühern Geliebten Gentien angeklagte Marie Biere vor dem Assisengerichtshofe der Seine eintrat. Da giebt es keinerlei oratorische Bewegung, keine leidenschaftlichen Ausbrüche, kaum den schwachen Versuch einer Beweisführung; die Anstrengung ist ja ganz überflüssig. Dieser geschickte Anwalt will seine Richter garnicht glauben machen, daß er sich ihrer zu bemächtigen suche, *) Siehe ?1s,iäoz?srs as OK. I^clrauä, rseusillis xar N. SanMisr. Paris, Char- pentier, 188ö.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/139
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/139>, abgerufen am 17.09.2024.