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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Donatello.

nichts soll zu der Schönheit über die Wahrheit hinaus hinzugethan werden.
Wenn das schon in andern Dingen Unrecht ist, so ist das in der Skulptur
ganz besonders, da diese dann nicht bloß einmal einen Einzelnen durch Schmei¬
chelei täuscht, sondern immerzu alle hintergeht."*) Aber nicht nur die Einzel¬
heiten der Form sollen diese Lebenswahrheit zum Ausdruck bringen, auch
Stellung und Bewegung dienen diesem Zweck. "Daher lobt man auch die¬
jenigen Stellungen, welche aus Bewegungen hervorgegangen zu sein scheinen
oder in Bewegungen übergehen."**) Man möchte glauben, Gaurims habe
diesen Satz vor der Gestalt der Annunziata in dem bekannten Tabernakel Dona¬
tellos in Santa Croce geschrieben: eben hat sich die gebenedeite Jungfrau vom
Betstuhl erhoben und schickt sich zum Fortgehen an, als die Stimme des ver¬
kündigenden Erzengels sie zurückruft und ihren Oberkörper mit scheu gesenktem
Antlitz halb nach ihm umwenden läßt. Kein einfacheres Motiv kann die Über¬
raschung und das bescheidene Erstaunen zugleich "sprechender" versinnlichen als
dieses. In solchen Werken haben wir auch die Antriebe für die künstlerische
Richtung Michel Angelo's zu suchen, der nicht etwa, als er seinen Moses
schuf, Douatellos Evangelisten Johannes in äußerlicher Haltung sich zum Vor¬
bilde nahm, wie man uns glauben machen will -- beide Bildwerke gleichen ein¬
ander nicht mehr und nicht minder als ihre äußern Bedingungen --, sondern
der mit Nachdenken die Konsequenzen zog aus den Aufgaben, die sein Vorläufer
sich gestellt hatte. Dieser geistige Zusammenhang beider Künstler wird nicht
bewiesen durch ein paar gemeinsame Formen und Motive, sondern durch die Art,
wie sie ihre Aufgaben auffaßten und durch die einzelnen Stufen künstlerischer Ge¬
staltung durchführten. In diesem Sinne hat z. B. die Laab vom Juliusgrabe
Michel Angelos mehr innerliche Verwandtschaft mit Dvnatellos Maria in
Sa. Croce, als der Moses mit dem Johannes.

Vasari erzählt uns, daß sich Donatello durch dies Taberuakelrelief in
dem alten Franzist'anerkloster zuerst Ruhm und Ansehen errungen habe. Infolge
dieser sicherlich nicht ernst zu nehmenden Wendung, mit der unser Künstlerbio¬
graph zu der chronologisch ganz willkürlichen Aufzählung der Werke Donatcllos
überleitet, hat man die Verkündigung insgemein als erste Jugendarbeit des¬
selben gepriesen und für die frühe Datirung um 1406 auch noch einen äußern,
aber durchaus nicht zwingenden Grund hervorgesucht. Stilistisch paßt es, von
einigen bei Doucitello überhaupt befremdenden Eigenschaften abgesehen, entschieden
mehr in die spätere Entwicklung hinein, und Einzelheiten in der Gewandung
und Ornamentik erinnern stark an die Paduaner Reliefs, deren Entstehung um
das Jahr 1444 gesichert ist. Das einzige Jugendwerk Donatellos, dem sich
das Tabernakelrelief vergleichen ließe, ist eine der Figuren, die seit 1406 im
Auftrage der Florentiner Zünfte zum Schmuck der Nischen von Or San Michele



') Übersetzung von Blockhaus (Leipzig, 1836), S. 119. -- Ebenda S. 213.
Donatello.

nichts soll zu der Schönheit über die Wahrheit hinaus hinzugethan werden.
Wenn das schon in andern Dingen Unrecht ist, so ist das in der Skulptur
ganz besonders, da diese dann nicht bloß einmal einen Einzelnen durch Schmei¬
chelei täuscht, sondern immerzu alle hintergeht."*) Aber nicht nur die Einzel¬
heiten der Form sollen diese Lebenswahrheit zum Ausdruck bringen, auch
Stellung und Bewegung dienen diesem Zweck. „Daher lobt man auch die¬
jenigen Stellungen, welche aus Bewegungen hervorgegangen zu sein scheinen
oder in Bewegungen übergehen."**) Man möchte glauben, Gaurims habe
diesen Satz vor der Gestalt der Annunziata in dem bekannten Tabernakel Dona¬
tellos in Santa Croce geschrieben: eben hat sich die gebenedeite Jungfrau vom
Betstuhl erhoben und schickt sich zum Fortgehen an, als die Stimme des ver¬
kündigenden Erzengels sie zurückruft und ihren Oberkörper mit scheu gesenktem
Antlitz halb nach ihm umwenden läßt. Kein einfacheres Motiv kann die Über¬
raschung und das bescheidene Erstaunen zugleich „sprechender" versinnlichen als
dieses. In solchen Werken haben wir auch die Antriebe für die künstlerische
Richtung Michel Angelo's zu suchen, der nicht etwa, als er seinen Moses
schuf, Douatellos Evangelisten Johannes in äußerlicher Haltung sich zum Vor¬
bilde nahm, wie man uns glauben machen will — beide Bildwerke gleichen ein¬
ander nicht mehr und nicht minder als ihre äußern Bedingungen —, sondern
der mit Nachdenken die Konsequenzen zog aus den Aufgaben, die sein Vorläufer
sich gestellt hatte. Dieser geistige Zusammenhang beider Künstler wird nicht
bewiesen durch ein paar gemeinsame Formen und Motive, sondern durch die Art,
wie sie ihre Aufgaben auffaßten und durch die einzelnen Stufen künstlerischer Ge¬
staltung durchführten. In diesem Sinne hat z. B. die Laab vom Juliusgrabe
Michel Angelos mehr innerliche Verwandtschaft mit Dvnatellos Maria in
Sa. Croce, als der Moses mit dem Johannes.

Vasari erzählt uns, daß sich Donatello durch dies Taberuakelrelief in
dem alten Franzist'anerkloster zuerst Ruhm und Ansehen errungen habe. Infolge
dieser sicherlich nicht ernst zu nehmenden Wendung, mit der unser Künstlerbio¬
graph zu der chronologisch ganz willkürlichen Aufzählung der Werke Donatcllos
überleitet, hat man die Verkündigung insgemein als erste Jugendarbeit des¬
selben gepriesen und für die frühe Datirung um 1406 auch noch einen äußern,
aber durchaus nicht zwingenden Grund hervorgesucht. Stilistisch paßt es, von
einigen bei Doucitello überhaupt befremdenden Eigenschaften abgesehen, entschieden
mehr in die spätere Entwicklung hinein, und Einzelheiten in der Gewandung
und Ornamentik erinnern stark an die Paduaner Reliefs, deren Entstehung um
das Jahr 1444 gesichert ist. Das einzige Jugendwerk Donatellos, dem sich
das Tabernakelrelief vergleichen ließe, ist eine der Figuren, die seit 1406 im
Auftrage der Florentiner Zünfte zum Schmuck der Nischen von Or San Michele



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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/130>, abgerufen am 17.09.2024.