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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Und immer wieder zur Schulreform.

die Unmöglichkeit der wirksamen Einführung neuer Disziplinen, die Verkümme¬
rung aller nichtsprachlichen Unterrichtsfächer, die Thatsache, daß diejenige Schule,
welche sich mit Vorliebe das "humanistische" Gymnasium nennt, allmählich zu
einer rein "grammatikalischen" Bildungsanstalt herabgesunken ist. Ihr nach¬
teiliger Einfluß erstreckt sich sogar bis auf die Methode der übrigen Diszi¬
plinen, sie drückt, wie im Grunde unsrer ganzen Denkweise, so auch "unsrer
Unterrichtsweise überhaupt ihren Stempel auf. Das ewige Auswendiglernen
von zuscunmenhcmgs- und bedeutungslosen Einzelheiten; die peinliche Genauig¬
keit, mit welcher der Primaner Wortlaut und Datum der verschiednen römischen
Is^c-s, die Zenturieneinteilung des Servius Tullius nach Vollhufncrn, Drei¬
viertel- und Halbhufnern u. s. w. oder die einzelnen Bestimmungen des west¬
fälischen Friedens, die Wirren des spanischen Erbfolgckrieges sich einprägen muß;
die Gewissenhaftigkeit, die dem Schüler bei keinem Berge, keiner Stadt die An¬
gabe der Höhe, der Einwohnerzahl erspart; das übermäßige Klassisiziren und
Systematisiren in der Naturkunde -- kurz, der Bienenfleiß, mit welchem wir
in der Schule lange Jahre hindurch die Materialien zu de" Grundlagen eines
Gebäudes zusammentragen, dessen eigentlicher Auf- und Ausbau niemals auch
nur begonnen wird, beruht nicht zum geringsten Teile auf jener zum leeren
Verbalismus und Schematismus neigenden Betrachtungsweise der Dinge, welche
durch die herrschende Stellung der Philologie und Grammatik in uns gro߬
gezogen worden ist.

Deshalb wird einer vernünftigen Verbesserung unsers Schulwesens nichts
mehr im Wege stehen, sobald die eben gekennzeichnete Anschauungsweise über¬
wunden ist. Daß sie im Schwinden begriffen ist, dafür mehren sich die
Anzeichen von Tag zu Tag. Freilich wird es noch einiger Zeit und An¬
strengung bedürfen, um einen vollständigen Umschwung herbeizuführen und
wirksam zu machen: unser ganzes Denken und Empfinden hat sich seit mehr
als drei Menschenaltern zu einseitig in jener Richtung bewegt, unsre Unterrichts¬
organisation zu fest und einheitlich auf den formalen Sprachunterricht ge¬
gründet. Wir hoffen, daß es den beweglicheren Einrichtungen der Schweiz, des
Vaterlandes des Verfassers, gelingen werde, zuerst mit der Überlieferung zu
brechen und dem übrigen Europa in einer Reform voranzugehen, welche, wenn
auch nicht in allen Einzelheiten, so doch in ihren Grundzügen die in dem
Löwenthalscheu Buche entwickelten Gedanken und Vorschläge verwirklichen wird.




Und immer wieder zur Schulreform.

die Unmöglichkeit der wirksamen Einführung neuer Disziplinen, die Verkümme¬
rung aller nichtsprachlichen Unterrichtsfächer, die Thatsache, daß diejenige Schule,
welche sich mit Vorliebe das „humanistische" Gymnasium nennt, allmählich zu
einer rein „grammatikalischen" Bildungsanstalt herabgesunken ist. Ihr nach¬
teiliger Einfluß erstreckt sich sogar bis auf die Methode der übrigen Diszi¬
plinen, sie drückt, wie im Grunde unsrer ganzen Denkweise, so auch "unsrer
Unterrichtsweise überhaupt ihren Stempel auf. Das ewige Auswendiglernen
von zuscunmenhcmgs- und bedeutungslosen Einzelheiten; die peinliche Genauig¬
keit, mit welcher der Primaner Wortlaut und Datum der verschiednen römischen
Is^c-s, die Zenturieneinteilung des Servius Tullius nach Vollhufncrn, Drei¬
viertel- und Halbhufnern u. s. w. oder die einzelnen Bestimmungen des west¬
fälischen Friedens, die Wirren des spanischen Erbfolgckrieges sich einprägen muß;
die Gewissenhaftigkeit, die dem Schüler bei keinem Berge, keiner Stadt die An¬
gabe der Höhe, der Einwohnerzahl erspart; das übermäßige Klassisiziren und
Systematisiren in der Naturkunde — kurz, der Bienenfleiß, mit welchem wir
in der Schule lange Jahre hindurch die Materialien zu de» Grundlagen eines
Gebäudes zusammentragen, dessen eigentlicher Auf- und Ausbau niemals auch
nur begonnen wird, beruht nicht zum geringsten Teile auf jener zum leeren
Verbalismus und Schematismus neigenden Betrachtungsweise der Dinge, welche
durch die herrschende Stellung der Philologie und Grammatik in uns gro߬
gezogen worden ist.

Deshalb wird einer vernünftigen Verbesserung unsers Schulwesens nichts
mehr im Wege stehen, sobald die eben gekennzeichnete Anschauungsweise über¬
wunden ist. Daß sie im Schwinden begriffen ist, dafür mehren sich die
Anzeichen von Tag zu Tag. Freilich wird es noch einiger Zeit und An¬
strengung bedürfen, um einen vollständigen Umschwung herbeizuführen und
wirksam zu machen: unser ganzes Denken und Empfinden hat sich seit mehr
als drei Menschenaltern zu einseitig in jener Richtung bewegt, unsre Unterrichts¬
organisation zu fest und einheitlich auf den formalen Sprachunterricht ge¬
gründet. Wir hoffen, daß es den beweglicheren Einrichtungen der Schweiz, des
Vaterlandes des Verfassers, gelingen werde, zuerst mit der Überlieferung zu
brechen und dem übrigen Europa in einer Reform voranzugehen, welche, wenn
auch nicht in allen Einzelheiten, so doch in ihren Grundzügen die in dem
Löwenthalscheu Buche entwickelten Gedanken und Vorschläge verwirklichen wird.




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[0124] Und immer wieder zur Schulreform. die Unmöglichkeit der wirksamen Einführung neuer Disziplinen, die Verkümme¬ rung aller nichtsprachlichen Unterrichtsfächer, die Thatsache, daß diejenige Schule, welche sich mit Vorliebe das „humanistische" Gymnasium nennt, allmählich zu einer rein „grammatikalischen" Bildungsanstalt herabgesunken ist. Ihr nach¬ teiliger Einfluß erstreckt sich sogar bis auf die Methode der übrigen Diszi¬ plinen, sie drückt, wie im Grunde unsrer ganzen Denkweise, so auch "unsrer Unterrichtsweise überhaupt ihren Stempel auf. Das ewige Auswendiglernen von zuscunmenhcmgs- und bedeutungslosen Einzelheiten; die peinliche Genauig¬ keit, mit welcher der Primaner Wortlaut und Datum der verschiednen römischen Is^c-s, die Zenturieneinteilung des Servius Tullius nach Vollhufncrn, Drei¬ viertel- und Halbhufnern u. s. w. oder die einzelnen Bestimmungen des west¬ fälischen Friedens, die Wirren des spanischen Erbfolgckrieges sich einprägen muß; die Gewissenhaftigkeit, die dem Schüler bei keinem Berge, keiner Stadt die An¬ gabe der Höhe, der Einwohnerzahl erspart; das übermäßige Klassisiziren und Systematisiren in der Naturkunde — kurz, der Bienenfleiß, mit welchem wir in der Schule lange Jahre hindurch die Materialien zu de» Grundlagen eines Gebäudes zusammentragen, dessen eigentlicher Auf- und Ausbau niemals auch nur begonnen wird, beruht nicht zum geringsten Teile auf jener zum leeren Verbalismus und Schematismus neigenden Betrachtungsweise der Dinge, welche durch die herrschende Stellung der Philologie und Grammatik in uns gro߬ gezogen worden ist. Deshalb wird einer vernünftigen Verbesserung unsers Schulwesens nichts mehr im Wege stehen, sobald die eben gekennzeichnete Anschauungsweise über¬ wunden ist. Daß sie im Schwinden begriffen ist, dafür mehren sich die Anzeichen von Tag zu Tag. Freilich wird es noch einiger Zeit und An¬ strengung bedürfen, um einen vollständigen Umschwung herbeizuführen und wirksam zu machen: unser ganzes Denken und Empfinden hat sich seit mehr als drei Menschenaltern zu einseitig in jener Richtung bewegt, unsre Unterrichts¬ organisation zu fest und einheitlich auf den formalen Sprachunterricht ge¬ gründet. Wir hoffen, daß es den beweglicheren Einrichtungen der Schweiz, des Vaterlandes des Verfassers, gelingen werde, zuerst mit der Überlieferung zu brechen und dem übrigen Europa in einer Reform voranzugehen, welche, wenn auch nicht in allen Einzelheiten, so doch in ihren Grundzügen die in dem Löwenthalscheu Buche entwickelten Gedanken und Vorschläge verwirklichen wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/124>, abgerufen am 17.09.2024.