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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Und immer wieder zur Schulreform.

zeugt, daß jeder, der Gelegenheit hat, irgendwie erzieherisch thätig zu sein, nicht
nur in den Grundzügen des entwickelten Reformplanes, sondern auch in dem
reichhaltigen Detail seiner Veranschaulichung und Begründung vielseitige An¬
regung und Förderung finden wird.

Wir verweilen dafür noch einen Augenblick bei den angeregten prinzipiellen
Fragen. Die Aufstellungen des Verfassers werden, zumal in der summarischen
Darstellung dieses Aufsatzes, auf manchen Leser den Eindruck des Radikale"
machen, im günstigen Falle eines schönen Idealbildes, an dessen Verwirklichung
niemand im Ernste denkt. Unsrer Meinung nach mit Unrecht. Zunächst haben
wir es hier mit nichts anderm zu thun als mit einer systematischen Entwicklung
und wissenschaftlichen Begründung dessen, was im einzelnen die Kritik seit
langer Zeit als wünschenswert bezeichnet hat. Der Verfasser stellt keine For¬
derung, die nicht in der Richtung des Zieles läge, welchem die pädagogische
Reformbewegung nicht bloß in Deutschland von Jahr zu Jahr in entschiedenerer
und breiterer Strömung zustrebt. Fast jede Woche bringt in mehr oder weniger
bedeutsamen Kundgebungen Berührungspunkte mit den Ausführungen des vor¬
liegenden Buches. Wir erinnern nnr an die Verhandlungen der Sektion für
naturwissenschaftlichen Unterricht auf der Naturforscherversammlung in Berlin,
besonders an der Vortrug des Professor Häckel "Über die allgemeinen Ziele
der Unterrichtsreform," der in der Zurückweisung eines zu "exakten" Unterrichts
in den Naturwissenschaften und in dem Vorschlage, die Methoden der Morpho¬
logie und Biologie, die Anthropologie als allgemeine Bildungsmittel für die
Schule zu verwerten, sich in bemerkenswerter Übereinstimmung mit Löwenthal
befindet. Wir verWeifen serner auf die reformatorische Thätigkeit des Unter¬
richtsministers des Kantons Bern, des Regierungsrath Dr. Gobat. Auch dieser
einflußreiche Beamte fordert für einen zweckmäßigen Unterrichtsplan die psycho¬
logische Grundlage, die Anpassung an die natürliche geistige Entwicklung des
Kindes, stärkere Betonung der Lehrgegenstände, für welche die geistigen Kräfte der
Jugend besonders zugänglich siud, und Zurückweisung alles "unverdaulichen und
schwerverdaulichen Zeuges." Sodann ist es, näher betrachtet, nur ein Umstand, dessen
allgemeine Anerkennung mit einem Schlage einer gründlichen Reform das Haupt¬
hindernis aus dem Wege räumen würde. Es ist dies die Auffassung der Sprachen
als eines bloßen Lernwerkzeuges und die aus dieser Auffassung fließende Forderung
einer empirischen Aneignung derselben. Die herrschende Anschauung sieht be¬
kanntlich im Gegensatz hierzu im fremdsprachlichen Unterricht ein direktes geistiges
Vildungsmittel.' und zwar ein solches, welches durch kein andres auch nur an¬
nähernd zu ersetzen sei. Diese Anschauung gerade ist es, die die gegenwärtige
Unterrichtsorganisation bis ins einzelne beeinflußt. Ihr verdanken orr acht
nur jene vollständige Verkehrung des richtigen Maßstabes für die Wertschätzung
der Bildungsmittel, die Überbürdung mit Lehrgegenständen, We den Bedürf¬
nissen der Zeit so wenig wie den Gesetzen der geistigen Ernährung entsprechen.


Und immer wieder zur Schulreform.

zeugt, daß jeder, der Gelegenheit hat, irgendwie erzieherisch thätig zu sein, nicht
nur in den Grundzügen des entwickelten Reformplanes, sondern auch in dem
reichhaltigen Detail seiner Veranschaulichung und Begründung vielseitige An¬
regung und Förderung finden wird.

Wir verweilen dafür noch einen Augenblick bei den angeregten prinzipiellen
Fragen. Die Aufstellungen des Verfassers werden, zumal in der summarischen
Darstellung dieses Aufsatzes, auf manchen Leser den Eindruck des Radikale»
machen, im günstigen Falle eines schönen Idealbildes, an dessen Verwirklichung
niemand im Ernste denkt. Unsrer Meinung nach mit Unrecht. Zunächst haben
wir es hier mit nichts anderm zu thun als mit einer systematischen Entwicklung
und wissenschaftlichen Begründung dessen, was im einzelnen die Kritik seit
langer Zeit als wünschenswert bezeichnet hat. Der Verfasser stellt keine For¬
derung, die nicht in der Richtung des Zieles läge, welchem die pädagogische
Reformbewegung nicht bloß in Deutschland von Jahr zu Jahr in entschiedenerer
und breiterer Strömung zustrebt. Fast jede Woche bringt in mehr oder weniger
bedeutsamen Kundgebungen Berührungspunkte mit den Ausführungen des vor¬
liegenden Buches. Wir erinnern nnr an die Verhandlungen der Sektion für
naturwissenschaftlichen Unterricht auf der Naturforscherversammlung in Berlin,
besonders an der Vortrug des Professor Häckel „Über die allgemeinen Ziele
der Unterrichtsreform," der in der Zurückweisung eines zu „exakten" Unterrichts
in den Naturwissenschaften und in dem Vorschlage, die Methoden der Morpho¬
logie und Biologie, die Anthropologie als allgemeine Bildungsmittel für die
Schule zu verwerten, sich in bemerkenswerter Übereinstimmung mit Löwenthal
befindet. Wir verWeifen serner auf die reformatorische Thätigkeit des Unter¬
richtsministers des Kantons Bern, des Regierungsrath Dr. Gobat. Auch dieser
einflußreiche Beamte fordert für einen zweckmäßigen Unterrichtsplan die psycho¬
logische Grundlage, die Anpassung an die natürliche geistige Entwicklung des
Kindes, stärkere Betonung der Lehrgegenstände, für welche die geistigen Kräfte der
Jugend besonders zugänglich siud, und Zurückweisung alles „unverdaulichen und
schwerverdaulichen Zeuges." Sodann ist es, näher betrachtet, nur ein Umstand, dessen
allgemeine Anerkennung mit einem Schlage einer gründlichen Reform das Haupt¬
hindernis aus dem Wege räumen würde. Es ist dies die Auffassung der Sprachen
als eines bloßen Lernwerkzeuges und die aus dieser Auffassung fließende Forderung
einer empirischen Aneignung derselben. Die herrschende Anschauung sieht be¬
kanntlich im Gegensatz hierzu im fremdsprachlichen Unterricht ein direktes geistiges
Vildungsmittel.' und zwar ein solches, welches durch kein andres auch nur an¬
nähernd zu ersetzen sei. Diese Anschauung gerade ist es, die die gegenwärtige
Unterrichtsorganisation bis ins einzelne beeinflußt. Ihr verdanken orr acht
nur jene vollständige Verkehrung des richtigen Maßstabes für die Wertschätzung
der Bildungsmittel, die Überbürdung mit Lehrgegenständen, We den Bedürf¬
nissen der Zeit so wenig wie den Gesetzen der geistigen Ernährung entsprechen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/123>, abgerufen am 17.09.2024.