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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Elementen, den einzelnen Anschauungen und Erfahrungen, überhaupt sinnlich
zugänglich sein; er muß ferner der jeweiligen Verdauungsfähigkeit entsprechen,
d. h. auf jeder Stufe des Unterrichts Anknüpfungspunkte in dem bis dahin
erworbenen Wissen finden; er muß dabei aber zugleich das Nahrungsbedürfnis
wirklich befriedigen und nicht durch falsche Diät abstumpfend, sondern anregend
auf den natürlichen Trieb wirken, d. h. wirklich neues bieten und in Auswahl,
Form und Menge des Gebotenen der Richtung und den Grenzen des natür¬
lichen Bedürfnisses Rechnung tragen; er muß endlich gesunde Speise, d. h. wahr¬
haftes Wissen, Kenntnis des wirklichen Verhaltens der Dinge sein. Da ferner
der geistige Stoffumsatz gleich dem körperlichen nur durch Selbstthätigkeit be¬
wirkt werden kaun, da für einen andern denken genau so unmöglich ist, wie für
einen andern essen und verdauen, so ist die Lehrthätigkeit vor allen Dingen so
einzurichten, daß alles Wissen das Ergebnis eigner Geistesarbeit des Lernenden
ist: der wahre Unterricht ist in letzter Linie Anleitung zum Selbstbevbachten-
und Selbstdeutentonnen.

Aus der Physiologie des geistigen Stoffumsatzes ergiebt sich ferner die
für eine gründliche Reform des Unterrichts notwendige Beschränkung der Auf¬
gaben der Schule. Die Schule darf nie ausschließlich eine Unterrichtsanstalt
sein, "wo auf ähnliche Weise Wissen erworben werden kann, wie man im Laden
die vorrätigen Waaren gegen Zahlung erwirbt," wo eine den Gesetzen der
geistigen Ernährung widersprechende aufgezwungene Lernpein die angeborene
Lernfreude systematisch erstickt. Dies ist leider der Fall bei einem großen Teile
dessen, was der Lehrplan unsrer höhern Schulen fordert. Der charakteristische
Faktor unsers modernen Humanismus, der formale Sprachunterricht, arbeitet
mit Begriffen, die für das kindliche Auffassungsvermögen zu abstrakt, zu kom-
plizirt und erfahrungsmäßig nichts weniger als anregend und interessant sind,
er mißbraucht das "weichere" Kindergehirn jahrelang zu der gewaltsamen "Ein-
prcigung" der Formatier,, ja verabscheut geradezu das "zu frühe Räsonnement
als gedächtnisschwächend"! Die Schule soll ferner nicht dadurch auf das Leben
vorbereiten, daß sie durch Pflege der verschiedenartigsten Spezialkenntnisse dem
Zögling jeden etwa später einzuschlagenden Berufsweg zu ebnen sucht oder mit
besondern Vorrechten verknüpfte einseitige Bildungsziele verfolgt; sie hat die
Vorbereitung zu jedem speziellen Wissen nur zu suchen in der naturgemäßen
Entwicklung der cuigebornen allgemeinen Fähigkeiten zum Erwerbe eines solchen,
in der harmonischen Ausbildung aller Seelenkrüfte. Und da der Bethätigung
der Seelenkrüfte bei allen Menschen dieselben Gesetze zu Grunde liegen, so hat
die Schule die Erfüllung ihrer Aufgaben überall mit gleichen Mitteln, auf
gleichem Wege zu erstreben, sie muß eine Einheitsschule im strengsten Sinne
des Wortes sein, eine Stätte der Erziehung durch Unterricht, die allen ohne
Unterschied des Geschlechts und des Standes dieselbe allgemein menschliche
Bildung, wenn auch in verschiednen Abstufungen, vermittelt.


Elementen, den einzelnen Anschauungen und Erfahrungen, überhaupt sinnlich
zugänglich sein; er muß ferner der jeweiligen Verdauungsfähigkeit entsprechen,
d. h. auf jeder Stufe des Unterrichts Anknüpfungspunkte in dem bis dahin
erworbenen Wissen finden; er muß dabei aber zugleich das Nahrungsbedürfnis
wirklich befriedigen und nicht durch falsche Diät abstumpfend, sondern anregend
auf den natürlichen Trieb wirken, d. h. wirklich neues bieten und in Auswahl,
Form und Menge des Gebotenen der Richtung und den Grenzen des natür¬
lichen Bedürfnisses Rechnung tragen; er muß endlich gesunde Speise, d. h. wahr¬
haftes Wissen, Kenntnis des wirklichen Verhaltens der Dinge sein. Da ferner
der geistige Stoffumsatz gleich dem körperlichen nur durch Selbstthätigkeit be¬
wirkt werden kaun, da für einen andern denken genau so unmöglich ist, wie für
einen andern essen und verdauen, so ist die Lehrthätigkeit vor allen Dingen so
einzurichten, daß alles Wissen das Ergebnis eigner Geistesarbeit des Lernenden
ist: der wahre Unterricht ist in letzter Linie Anleitung zum Selbstbevbachten-
und Selbstdeutentonnen.

Aus der Physiologie des geistigen Stoffumsatzes ergiebt sich ferner die
für eine gründliche Reform des Unterrichts notwendige Beschränkung der Auf¬
gaben der Schule. Die Schule darf nie ausschließlich eine Unterrichtsanstalt
sein, „wo auf ähnliche Weise Wissen erworben werden kann, wie man im Laden
die vorrätigen Waaren gegen Zahlung erwirbt," wo eine den Gesetzen der
geistigen Ernährung widersprechende aufgezwungene Lernpein die angeborene
Lernfreude systematisch erstickt. Dies ist leider der Fall bei einem großen Teile
dessen, was der Lehrplan unsrer höhern Schulen fordert. Der charakteristische
Faktor unsers modernen Humanismus, der formale Sprachunterricht, arbeitet
mit Begriffen, die für das kindliche Auffassungsvermögen zu abstrakt, zu kom-
plizirt und erfahrungsmäßig nichts weniger als anregend und interessant sind,
er mißbraucht das „weichere" Kindergehirn jahrelang zu der gewaltsamen „Ein-
prcigung" der Formatier,, ja verabscheut geradezu das „zu frühe Räsonnement
als gedächtnisschwächend"! Die Schule soll ferner nicht dadurch auf das Leben
vorbereiten, daß sie durch Pflege der verschiedenartigsten Spezialkenntnisse dem
Zögling jeden etwa später einzuschlagenden Berufsweg zu ebnen sucht oder mit
besondern Vorrechten verknüpfte einseitige Bildungsziele verfolgt; sie hat die
Vorbereitung zu jedem speziellen Wissen nur zu suchen in der naturgemäßen
Entwicklung der cuigebornen allgemeinen Fähigkeiten zum Erwerbe eines solchen,
in der harmonischen Ausbildung aller Seelenkrüfte. Und da der Bethätigung
der Seelenkrüfte bei allen Menschen dieselben Gesetze zu Grunde liegen, so hat
die Schule die Erfüllung ihrer Aufgaben überall mit gleichen Mitteln, auf
gleichem Wege zu erstreben, sie muß eine Einheitsschule im strengsten Sinne
des Wortes sein, eine Stätte der Erziehung durch Unterricht, die allen ohne
Unterschied des Geschlechts und des Standes dieselbe allgemein menschliche
Bildung, wenn auch in verschiednen Abstufungen, vermittelt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/120>, abgerufen am 17.09.2024.