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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Und immer wieder zur Schulreform.

gegenstände als auch in Bezug auf die wahren Ziele und Wege des Unter¬
richts überhaupt, jener Zustand der Überbürdung, der in steter Wechselwirkung
der steigenden Anforderungen und der natur- und gesundheitswidrigen Art ihrer
Befriedigung eine gleichzeitige Abnahme der Erziehungsergebnisse wie der körper¬
lichen und geistigen Gesundheit unsrer Jugend aufweist.

Die Wahrnehmung dieser Thatsachen hat zu einer Bewegung gegen die
herrschenden Schuleinrichtungen geführt, die von Tag zu Tag an Umfang wächst.
Bisher bewegte sich aber die Erörterung vorwiegend in einer negativen Kritik
der bestehenden Verhältnisse. Es ist das Verdienst und die Bedeutung des vor¬
liegenden Buches, die Frage mit Erfolg auf das Gebiet positiver Verbesserungs-
vorschläge hinübergeleitet zu haben: der Verfasser bietet nichts weniger als einen
in seinen Grundzügen gelungenen Versuch einer entwicklungswissenschaftlichen
Begründung der notwendigen Unterrichtsreformen. Das Buch, eine Sammlung
von sieben in Genf und in Bern gehaltenen Vortrügen und Vorläufer eines,
hoffentlich bald erscheinenden, umfassenderen Werkes über die gesamte Erziehungs¬
hygiene, ist nicht nur für den Schulmann und den Mediziner, sondern für jeden
Gebildeten lesbar und nützlich. In unsern Augen kein geringer Vorzug. Denn
darauf kommt es hauptsächlich an, diejenigen, für welche eine Unterrichtsreform
von der höchsten Bedeutung ist und welche jm allgemeinen allen einschlägigen
Fragen seltsamerweise am gleichgiltigsten gegenüberstehen, die Eltern der heran¬
wachsenden Jugend, für die neuen Ideen zu gewinnen und so durch den Druck
der aufgeklärten öffentlichen Meinung die Beseitigung eines unhaltbaren Zu¬
standes zu beschleunigen.

Die leitenden Gedanken des Buches sind folgende. Nach den Grundlehren
der Biologie sind seelische Funktionen nicht nur zum Leben notwendig, sondern
in ihrer angemessenen, weder gewaltsam gehemmte" noch gesteigerten Bethätigung
eine unerläßliche Bedingung des Wohlbefindens. Es ist also die Aufnahme von
Eindrücken, das Festhalten und Ordnen der Eindrücke zu Begriffen, die An¬
wendung der gewonnenen Begriffe zu gleichartiger Verarbeitung neuer Eindrücke,
mit einem Worte der Vorgang des Lernens zum Zwecke des Wissens ein ebenso
naturnvtwendiges Bedürfnis des Menschen wie Essen und Trinken zum Zwecke
der leiblichen Ernährung. Wie die Bestandteile des aufgelösten Nährstoffes das
körperliche Zellengewebe neubildend und ersetzend aufbauen und in lebendigem
Muffe der Entwicklung erhalten, so kann auch die Seele nur leben und wachsen
in der ununterbrochenen Verarbeitung der auf sie eindringenden Anschauungen
und Erfahrungen zu Begriffen, die in steter Wechselwirkung und Verknüpfung
mit den jeweilig vorhandenen Begriffen den schon gewonnenen Wissensschatz
fortwährend läuternd umsetzen und vermehren.

Aus dieser Auffassung des Lernens als eines geistigen Ernährungsprozesses
ergeben sich die allgemeinen Grundsätze über das Was und das Wie des
Unterrichts. Der geistige Nährstoff muß vor allem verdaulich, d. h. in seinen


Und immer wieder zur Schulreform.

gegenstände als auch in Bezug auf die wahren Ziele und Wege des Unter¬
richts überhaupt, jener Zustand der Überbürdung, der in steter Wechselwirkung
der steigenden Anforderungen und der natur- und gesundheitswidrigen Art ihrer
Befriedigung eine gleichzeitige Abnahme der Erziehungsergebnisse wie der körper¬
lichen und geistigen Gesundheit unsrer Jugend aufweist.

Die Wahrnehmung dieser Thatsachen hat zu einer Bewegung gegen die
herrschenden Schuleinrichtungen geführt, die von Tag zu Tag an Umfang wächst.
Bisher bewegte sich aber die Erörterung vorwiegend in einer negativen Kritik
der bestehenden Verhältnisse. Es ist das Verdienst und die Bedeutung des vor¬
liegenden Buches, die Frage mit Erfolg auf das Gebiet positiver Verbesserungs-
vorschläge hinübergeleitet zu haben: der Verfasser bietet nichts weniger als einen
in seinen Grundzügen gelungenen Versuch einer entwicklungswissenschaftlichen
Begründung der notwendigen Unterrichtsreformen. Das Buch, eine Sammlung
von sieben in Genf und in Bern gehaltenen Vortrügen und Vorläufer eines,
hoffentlich bald erscheinenden, umfassenderen Werkes über die gesamte Erziehungs¬
hygiene, ist nicht nur für den Schulmann und den Mediziner, sondern für jeden
Gebildeten lesbar und nützlich. In unsern Augen kein geringer Vorzug. Denn
darauf kommt es hauptsächlich an, diejenigen, für welche eine Unterrichtsreform
von der höchsten Bedeutung ist und welche jm allgemeinen allen einschlägigen
Fragen seltsamerweise am gleichgiltigsten gegenüberstehen, die Eltern der heran¬
wachsenden Jugend, für die neuen Ideen zu gewinnen und so durch den Druck
der aufgeklärten öffentlichen Meinung die Beseitigung eines unhaltbaren Zu¬
standes zu beschleunigen.

Die leitenden Gedanken des Buches sind folgende. Nach den Grundlehren
der Biologie sind seelische Funktionen nicht nur zum Leben notwendig, sondern
in ihrer angemessenen, weder gewaltsam gehemmte» noch gesteigerten Bethätigung
eine unerläßliche Bedingung des Wohlbefindens. Es ist also die Aufnahme von
Eindrücken, das Festhalten und Ordnen der Eindrücke zu Begriffen, die An¬
wendung der gewonnenen Begriffe zu gleichartiger Verarbeitung neuer Eindrücke,
mit einem Worte der Vorgang des Lernens zum Zwecke des Wissens ein ebenso
naturnvtwendiges Bedürfnis des Menschen wie Essen und Trinken zum Zwecke
der leiblichen Ernährung. Wie die Bestandteile des aufgelösten Nährstoffes das
körperliche Zellengewebe neubildend und ersetzend aufbauen und in lebendigem
Muffe der Entwicklung erhalten, so kann auch die Seele nur leben und wachsen
in der ununterbrochenen Verarbeitung der auf sie eindringenden Anschauungen
und Erfahrungen zu Begriffen, die in steter Wechselwirkung und Verknüpfung
mit den jeweilig vorhandenen Begriffen den schon gewonnenen Wissensschatz
fortwährend läuternd umsetzen und vermehren.

Aus dieser Auffassung des Lernens als eines geistigen Ernährungsprozesses
ergeben sich die allgemeinen Grundsätze über das Was und das Wie des
Unterrichts. Der geistige Nährstoff muß vor allem verdaulich, d. h. in seinen


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[0119] Und immer wieder zur Schulreform. gegenstände als auch in Bezug auf die wahren Ziele und Wege des Unter¬ richts überhaupt, jener Zustand der Überbürdung, der in steter Wechselwirkung der steigenden Anforderungen und der natur- und gesundheitswidrigen Art ihrer Befriedigung eine gleichzeitige Abnahme der Erziehungsergebnisse wie der körper¬ lichen und geistigen Gesundheit unsrer Jugend aufweist. Die Wahrnehmung dieser Thatsachen hat zu einer Bewegung gegen die herrschenden Schuleinrichtungen geführt, die von Tag zu Tag an Umfang wächst. Bisher bewegte sich aber die Erörterung vorwiegend in einer negativen Kritik der bestehenden Verhältnisse. Es ist das Verdienst und die Bedeutung des vor¬ liegenden Buches, die Frage mit Erfolg auf das Gebiet positiver Verbesserungs- vorschläge hinübergeleitet zu haben: der Verfasser bietet nichts weniger als einen in seinen Grundzügen gelungenen Versuch einer entwicklungswissenschaftlichen Begründung der notwendigen Unterrichtsreformen. Das Buch, eine Sammlung von sieben in Genf und in Bern gehaltenen Vortrügen und Vorläufer eines, hoffentlich bald erscheinenden, umfassenderen Werkes über die gesamte Erziehungs¬ hygiene, ist nicht nur für den Schulmann und den Mediziner, sondern für jeden Gebildeten lesbar und nützlich. In unsern Augen kein geringer Vorzug. Denn darauf kommt es hauptsächlich an, diejenigen, für welche eine Unterrichtsreform von der höchsten Bedeutung ist und welche jm allgemeinen allen einschlägigen Fragen seltsamerweise am gleichgiltigsten gegenüberstehen, die Eltern der heran¬ wachsenden Jugend, für die neuen Ideen zu gewinnen und so durch den Druck der aufgeklärten öffentlichen Meinung die Beseitigung eines unhaltbaren Zu¬ standes zu beschleunigen. Die leitenden Gedanken des Buches sind folgende. Nach den Grundlehren der Biologie sind seelische Funktionen nicht nur zum Leben notwendig, sondern in ihrer angemessenen, weder gewaltsam gehemmte» noch gesteigerten Bethätigung eine unerläßliche Bedingung des Wohlbefindens. Es ist also die Aufnahme von Eindrücken, das Festhalten und Ordnen der Eindrücke zu Begriffen, die An¬ wendung der gewonnenen Begriffe zu gleichartiger Verarbeitung neuer Eindrücke, mit einem Worte der Vorgang des Lernens zum Zwecke des Wissens ein ebenso naturnvtwendiges Bedürfnis des Menschen wie Essen und Trinken zum Zwecke der leiblichen Ernährung. Wie die Bestandteile des aufgelösten Nährstoffes das körperliche Zellengewebe neubildend und ersetzend aufbauen und in lebendigem Muffe der Entwicklung erhalten, so kann auch die Seele nur leben und wachsen in der ununterbrochenen Verarbeitung der auf sie eindringenden Anschauungen und Erfahrungen zu Begriffen, die in steter Wechselwirkung und Verknüpfung mit den jeweilig vorhandenen Begriffen den schon gewonnenen Wissensschatz fortwährend läuternd umsetzen und vermehren. Aus dieser Auffassung des Lernens als eines geistigen Ernährungsprozesses ergeben sich die allgemeinen Grundsätze über das Was und das Wie des Unterrichts. Der geistige Nährstoff muß vor allem verdaulich, d. h. in seinen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/119>, abgerufen am 17.09.2024.