Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Deutsch-böhinischö Briefe.

gemeinte Reichenberg wurde auf Verlangen von hundertdreiundneunzig Tschechen
mit dreihündertachtzehn Kindern gezwungen, die vom tschechischen Schulvereine
gegründete Schule auf ihre Kosten zu erhalten, obwohl von den hundertdrei¬
undneunzig Petenten viele garnicht im Stadtbezirke ansässig waren und viele
andre, als der Streit zum Austrage gelangte, die Gegend ganz verlassen hatten.
Es ist eben eine fluktuirende Bevölkerung, für welche so eifrig gesorgt wird.
Reichenberg giebt jährlich 70273 Gulden für seine Schulen aus, und dazu
träfen die Tschechen, welche eine eigne Schule beanspruchten, 200 Gulden und
99^2 Kreuzer bei. Solche Tschechenschulen waren 1884 teils schon errichtet
und von deutschen Gemeinden übernommen oder sollten nächstens übernommen
tverden in Trautenciu, in Teplitz, in DuK, Saaz, Nürschan, Krumau und ver¬
schiedenen andern Orten. Auch darin liegt System: ein Netz tschechischer Vvlks-
schuleti soll über Deutschböhmen ausgespannt werden, um dieses für das
Tschechentüm einzUfcmgen. Das wird durch die natürliche Verschiebung der
Nationalitäten begünstigt. Wie in andern deutschen Ländern Österreichs geht
nämlich auch in den deutschen Gemeinden Böhmens die sogenannte einheimische
Bevölkerung stetig zurück. In einer bestimmten deutschböhmischen Stadt -- der
Name thut nichts zur Sache -- werden alljährlich nach Ausweis der Geburts-
ünd Sterbelisten zweihundert Menschen mehr begraben als geboren. Nach den
Ergebnissen der Volkszählungen von 1854, 1869 und 1880 steigt die Gesamt-
bevölkerung dieser Gemeinde in zehn Jahren um durchschnittlich fünftausend
Seelen. Das heißt, da in demselben Zeiträume die Zahl der Einheimischen
um zweitausend abnimmt, ist die Bevölkerung im Laufe eines Jahrzehnts durch
Zuzug von auswärts und nur dadurch um siebentausend Seelen gewachsen.
Woher aber kommt dieser Zuzug? Aus Deutschböhmen gewiß nur in sehr ge¬
ringem Maße, da hier die Bevölkerung fast allenthalben auf die angegebene
Weise sich vermindert. Aus dem Auslande wohl ebensowenig, weil die amtliche
Statistik den Ausländer, worunter auch der Ungar verstanden wird, garnicht
zählt. Die Vermehrung ist also dem Inlands, und zwar in der Hauptsache
dem tschechischen Teile desselben, auf die Rechnung zu setzen. Das fand aller¬
dings auch früher, namentlich seit dem Aufschwünge der böhmischen Fabriken
Und Kohlengruben, statt, denen die Tschechen ihre meisten Arbeiter lieferten.
Nur besteht zwischen damals und heute ein wesentlicher Unterschied. Ehedem
gingen die tschechischen Einwanderer nUs dem Innern des Landes sehr rasch
in der Bevölkerung der deutschen Städte an und in dessen Randgebirgen auf,
in welchen sie ihr Brot gesucht und gefunden hatten. Sie schätzten sich glücklich,
so schnell und so unauffällig als möglich in ihr zu verschwinden, sie schickten,
als ob sich das von selbst verstünde, ihren Familienzuwachs in die deutschen
Schulen, wo die Kinder bis zu ihrem siebenten Jahre so viel Deutsch lernten,
daß sie die Unterrichtssprache verstanden. Die Folge war: die Kinder wurden
germanisirt, und sie erblickten darin keinen Schaden, sondern einen Gewinn für


Deutsch-böhinischö Briefe.

gemeinte Reichenberg wurde auf Verlangen von hundertdreiundneunzig Tschechen
mit dreihündertachtzehn Kindern gezwungen, die vom tschechischen Schulvereine
gegründete Schule auf ihre Kosten zu erhalten, obwohl von den hundertdrei¬
undneunzig Petenten viele garnicht im Stadtbezirke ansässig waren und viele
andre, als der Streit zum Austrage gelangte, die Gegend ganz verlassen hatten.
Es ist eben eine fluktuirende Bevölkerung, für welche so eifrig gesorgt wird.
Reichenberg giebt jährlich 70273 Gulden für seine Schulen aus, und dazu
träfen die Tschechen, welche eine eigne Schule beanspruchten, 200 Gulden und
99^2 Kreuzer bei. Solche Tschechenschulen waren 1884 teils schon errichtet
und von deutschen Gemeinden übernommen oder sollten nächstens übernommen
tverden in Trautenciu, in Teplitz, in DuK, Saaz, Nürschan, Krumau und ver¬
schiedenen andern Orten. Auch darin liegt System: ein Netz tschechischer Vvlks-
schuleti soll über Deutschböhmen ausgespannt werden, um dieses für das
Tschechentüm einzUfcmgen. Das wird durch die natürliche Verschiebung der
Nationalitäten begünstigt. Wie in andern deutschen Ländern Österreichs geht
nämlich auch in den deutschen Gemeinden Böhmens die sogenannte einheimische
Bevölkerung stetig zurück. In einer bestimmten deutschböhmischen Stadt — der
Name thut nichts zur Sache — werden alljährlich nach Ausweis der Geburts-
ünd Sterbelisten zweihundert Menschen mehr begraben als geboren. Nach den
Ergebnissen der Volkszählungen von 1854, 1869 und 1880 steigt die Gesamt-
bevölkerung dieser Gemeinde in zehn Jahren um durchschnittlich fünftausend
Seelen. Das heißt, da in demselben Zeiträume die Zahl der Einheimischen
um zweitausend abnimmt, ist die Bevölkerung im Laufe eines Jahrzehnts durch
Zuzug von auswärts und nur dadurch um siebentausend Seelen gewachsen.
Woher aber kommt dieser Zuzug? Aus Deutschböhmen gewiß nur in sehr ge¬
ringem Maße, da hier die Bevölkerung fast allenthalben auf die angegebene
Weise sich vermindert. Aus dem Auslande wohl ebensowenig, weil die amtliche
Statistik den Ausländer, worunter auch der Ungar verstanden wird, garnicht
zählt. Die Vermehrung ist also dem Inlands, und zwar in der Hauptsache
dem tschechischen Teile desselben, auf die Rechnung zu setzen. Das fand aller¬
dings auch früher, namentlich seit dem Aufschwünge der böhmischen Fabriken
Und Kohlengruben, statt, denen die Tschechen ihre meisten Arbeiter lieferten.
Nur besteht zwischen damals und heute ein wesentlicher Unterschied. Ehedem
gingen die tschechischen Einwanderer nUs dem Innern des Landes sehr rasch
in der Bevölkerung der deutschen Städte an und in dessen Randgebirgen auf,
in welchen sie ihr Brot gesucht und gefunden hatten. Sie schätzten sich glücklich,
so schnell und so unauffällig als möglich in ihr zu verschwinden, sie schickten,
als ob sich das von selbst verstünde, ihren Familienzuwachs in die deutschen
Schulen, wo die Kinder bis zu ihrem siebenten Jahre so viel Deutsch lernten,
daß sie die Unterrichtssprache verstanden. Die Folge war: die Kinder wurden
germanisirt, und sie erblickten darin keinen Schaden, sondern einen Gewinn für


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0114" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/288567"/>
          <fw type="header" place="top"> Deutsch-böhinischö Briefe.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_325" prev="#ID_324" next="#ID_326"> gemeinte Reichenberg wurde auf Verlangen von hundertdreiundneunzig Tschechen<lb/>
mit dreihündertachtzehn Kindern gezwungen, die vom tschechischen Schulvereine<lb/>
gegründete Schule auf ihre Kosten zu erhalten, obwohl von den hundertdrei¬<lb/>
undneunzig Petenten viele garnicht im Stadtbezirke ansässig waren und viele<lb/>
andre, als der Streit zum Austrage gelangte, die Gegend ganz verlassen hatten.<lb/>
Es ist eben eine fluktuirende Bevölkerung, für welche so eifrig gesorgt wird.<lb/>
Reichenberg giebt jährlich 70273 Gulden für seine Schulen aus, und dazu<lb/>
träfen die Tschechen, welche eine eigne Schule beanspruchten, 200 Gulden und<lb/>
99^2 Kreuzer bei. Solche Tschechenschulen waren 1884 teils schon errichtet<lb/>
und von deutschen Gemeinden übernommen oder sollten nächstens übernommen<lb/>
tverden in Trautenciu, in Teplitz, in DuK, Saaz, Nürschan, Krumau und ver¬<lb/>
schiedenen andern Orten. Auch darin liegt System: ein Netz tschechischer Vvlks-<lb/>
schuleti soll über Deutschböhmen ausgespannt werden, um dieses für das<lb/>
Tschechentüm einzUfcmgen. Das wird durch die natürliche Verschiebung der<lb/>
Nationalitäten begünstigt. Wie in andern deutschen Ländern Österreichs geht<lb/>
nämlich auch in den deutschen Gemeinden Böhmens die sogenannte einheimische<lb/>
Bevölkerung stetig zurück. In einer bestimmten deutschböhmischen Stadt &#x2014; der<lb/>
Name thut nichts zur Sache &#x2014; werden alljährlich nach Ausweis der Geburts-<lb/>
ünd Sterbelisten zweihundert Menschen mehr begraben als geboren. Nach den<lb/>
Ergebnissen der Volkszählungen von 1854, 1869 und 1880 steigt die Gesamt-<lb/>
bevölkerung dieser Gemeinde in zehn Jahren um durchschnittlich fünftausend<lb/>
Seelen. Das heißt, da in demselben Zeiträume die Zahl der Einheimischen<lb/>
um zweitausend abnimmt, ist die Bevölkerung im Laufe eines Jahrzehnts durch<lb/>
Zuzug von auswärts und nur dadurch um siebentausend Seelen gewachsen.<lb/>
Woher aber kommt dieser Zuzug? Aus Deutschböhmen gewiß nur in sehr ge¬<lb/>
ringem Maße, da hier die Bevölkerung fast allenthalben auf die angegebene<lb/>
Weise sich vermindert. Aus dem Auslande wohl ebensowenig, weil die amtliche<lb/>
Statistik den Ausländer, worunter auch der Ungar verstanden wird, garnicht<lb/>
zählt. Die Vermehrung ist also dem Inlands, und zwar in der Hauptsache<lb/>
dem tschechischen Teile desselben, auf die Rechnung zu setzen. Das fand aller¬<lb/>
dings auch früher, namentlich seit dem Aufschwünge der böhmischen Fabriken<lb/>
Und Kohlengruben, statt, denen die Tschechen ihre meisten Arbeiter lieferten.<lb/>
Nur besteht zwischen damals und heute ein wesentlicher Unterschied. Ehedem<lb/>
gingen die tschechischen Einwanderer nUs dem Innern des Landes sehr rasch<lb/>
in der Bevölkerung der deutschen Städte an und in dessen Randgebirgen auf,<lb/>
in welchen sie ihr Brot gesucht und gefunden hatten. Sie schätzten sich glücklich,<lb/>
so schnell und so unauffällig als möglich in ihr zu verschwinden, sie schickten,<lb/>
als ob sich das von selbst verstünde, ihren Familienzuwachs in die deutschen<lb/>
Schulen, wo die Kinder bis zu ihrem siebenten Jahre so viel Deutsch lernten,<lb/>
daß sie die Unterrichtssprache verstanden. Die Folge war: die Kinder wurden<lb/>
germanisirt, und sie erblickten darin keinen Schaden, sondern einen Gewinn für</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0114] Deutsch-böhinischö Briefe. gemeinte Reichenberg wurde auf Verlangen von hundertdreiundneunzig Tschechen mit dreihündertachtzehn Kindern gezwungen, die vom tschechischen Schulvereine gegründete Schule auf ihre Kosten zu erhalten, obwohl von den hundertdrei¬ undneunzig Petenten viele garnicht im Stadtbezirke ansässig waren und viele andre, als der Streit zum Austrage gelangte, die Gegend ganz verlassen hatten. Es ist eben eine fluktuirende Bevölkerung, für welche so eifrig gesorgt wird. Reichenberg giebt jährlich 70273 Gulden für seine Schulen aus, und dazu träfen die Tschechen, welche eine eigne Schule beanspruchten, 200 Gulden und 99^2 Kreuzer bei. Solche Tschechenschulen waren 1884 teils schon errichtet und von deutschen Gemeinden übernommen oder sollten nächstens übernommen tverden in Trautenciu, in Teplitz, in DuK, Saaz, Nürschan, Krumau und ver¬ schiedenen andern Orten. Auch darin liegt System: ein Netz tschechischer Vvlks- schuleti soll über Deutschböhmen ausgespannt werden, um dieses für das Tschechentüm einzUfcmgen. Das wird durch die natürliche Verschiebung der Nationalitäten begünstigt. Wie in andern deutschen Ländern Österreichs geht nämlich auch in den deutschen Gemeinden Böhmens die sogenannte einheimische Bevölkerung stetig zurück. In einer bestimmten deutschböhmischen Stadt — der Name thut nichts zur Sache — werden alljährlich nach Ausweis der Geburts- ünd Sterbelisten zweihundert Menschen mehr begraben als geboren. Nach den Ergebnissen der Volkszählungen von 1854, 1869 und 1880 steigt die Gesamt- bevölkerung dieser Gemeinde in zehn Jahren um durchschnittlich fünftausend Seelen. Das heißt, da in demselben Zeiträume die Zahl der Einheimischen um zweitausend abnimmt, ist die Bevölkerung im Laufe eines Jahrzehnts durch Zuzug von auswärts und nur dadurch um siebentausend Seelen gewachsen. Woher aber kommt dieser Zuzug? Aus Deutschböhmen gewiß nur in sehr ge¬ ringem Maße, da hier die Bevölkerung fast allenthalben auf die angegebene Weise sich vermindert. Aus dem Auslande wohl ebensowenig, weil die amtliche Statistik den Ausländer, worunter auch der Ungar verstanden wird, garnicht zählt. Die Vermehrung ist also dem Inlands, und zwar in der Hauptsache dem tschechischen Teile desselben, auf die Rechnung zu setzen. Das fand aller¬ dings auch früher, namentlich seit dem Aufschwünge der böhmischen Fabriken Und Kohlengruben, statt, denen die Tschechen ihre meisten Arbeiter lieferten. Nur besteht zwischen damals und heute ein wesentlicher Unterschied. Ehedem gingen die tschechischen Einwanderer nUs dem Innern des Landes sehr rasch in der Bevölkerung der deutschen Städte an und in dessen Randgebirgen auf, in welchen sie ihr Brot gesucht und gefunden hatten. Sie schätzten sich glücklich, so schnell und so unauffällig als möglich in ihr zu verschwinden, sie schickten, als ob sich das von selbst verstünde, ihren Familienzuwachs in die deutschen Schulen, wo die Kinder bis zu ihrem siebenten Jahre so viel Deutsch lernten, daß sie die Unterrichtssprache verstanden. Die Folge war: die Kinder wurden germanisirt, und sie erblickten darin keinen Schaden, sondern einen Gewinn für

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/114
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/114>, abgerufen am 17.09.2024.