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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Deutscher Patriotismus vor hundert Jahren.

Standpunkte betrachtet, zu wenig. Es mangelte den Deutschen ein politisches
Ganze, das sie als Leib ihres Gemeinlebens empfunden hätten wie die Fran¬
zosen und die Engländer ihr Staatswesen. Für das Alltagsleben des Einzelnen
bot der Sonderstaat, dem er angehörte, Stoff und Grenze, und an den hiermit
zusammenhängenden Interessen, Gewohnheiten und Erinnerungen nährte sich eine
Menge Partikularistischer Gefühle. Teils Pietät, teils träges oder trotziges Be¬
harrenwollen beim .Herkömmlichen verstärkten diese Sinnesweise, die sich da
am undurchdringlichsten zeigte und am längsten erhielt, wo moderne Bildung
nur spärlich eingedrungen war. Reichspatriotismus fand sich nur noch in den
Reichsstädten hin und wieder, sowie in fränkischen und schwäbischen Landschaften,
deren Teilung in eine Menge winziger, meist ohnmächtiger politischer Körper eine
Beschränkung des Blickes auf das einzelne Territorium nicht aufkommen ließ, und
bei denen der Gedanke an Kaiser und Reich schon durch die Betrachtung wach
erhalten wurde, daß nur. sofern die Reichsverfassung erhalten bleibe, unter der
Masse dieser kleinen gebrechlichen Staaten ein leidlich geregelter Zustand und
einige Sicherheit vor dem Verschlungenwerden dnrch die größern Nachbarn ge¬
wahrt sei. Moser und von Soden sind Beispiele solcher Patrioten, aber selbst
in Süddeutschland gab es deren nicht viele. Im Norden schlugen zwar gewal¬
tige Worte von einem deutschen Vaterlande an das Ohr aller Gebildeten, nur
schwebten sie jenseits der Wirklichkeit. Meinte Herder, als er 1778 vom Kaiser
Josef ein solches Vaterland verlangte, nur Förderung einer Gemeinschaft der
Deutschen in Bildung, Literatur und Glauben, so hatten Klopstock und seine
Jünger allerdings mehr, aber doch keine konkrete Vorstellung vor Augen. Das
damalige römische Reich deutscher Nation konnte keine Fassung für die deutsche
Vaterlandsliebe abgeben, man mußte auf Armin und seine Cherusker zurück¬
greifen. In der Prosa der Gegenwart kam jenes Reich und seine Verfassung
für den Preußen, den Sachsen, den Hannoveraner nur noch als eine Maschinerie
in Betracht, vermittels deren der mächtigere Reichsstand über die Landesgrenzen
hinaus Einfluß übte; sich selbst dem Reiche unterzuordnen, fiel wenigen ein.
Wohl hatte Möser schon 1749 in Worten, die er seinem "Arminius" in den
Mund gelegt, mit einer praktisch realistischen Wendung über die Kleinstaaten
hinweg nach einer deutschen Einheit hingewiesen, aber er nahm damit eine Stelle
abseits von der herrschenden Strömung ein. Die Aufklärung, welche, während
hoch droben in den Lüften die Vaterlaudsgesänge Klopstocks und andrer über-
schwänglichen Barden rauschten, die Beherrschung des wirklichen Lebens bean¬
spruchte, vermochte ihrem innersten Wesen nach am wenigsten Opferung der
kleinen Verhältnisse zu Gunsten eines deutschen Vaterlandes zu fordern. Bei
ihr trat der Begriff des letztern hinter dem Gedanken a" die Menschheit zurück,
wie er bei der Geistlichkeit, die früher die Vorstellungen des Volkes von der mensch¬
lichen Bestimmung und Pflicht beherrscht hatte, vor dem Gedanken an das Jen¬
seits, das himmlische Vaterland, zurückgetreten war. Man war nicht blind gegen


Deutscher Patriotismus vor hundert Jahren.

Standpunkte betrachtet, zu wenig. Es mangelte den Deutschen ein politisches
Ganze, das sie als Leib ihres Gemeinlebens empfunden hätten wie die Fran¬
zosen und die Engländer ihr Staatswesen. Für das Alltagsleben des Einzelnen
bot der Sonderstaat, dem er angehörte, Stoff und Grenze, und an den hiermit
zusammenhängenden Interessen, Gewohnheiten und Erinnerungen nährte sich eine
Menge Partikularistischer Gefühle. Teils Pietät, teils träges oder trotziges Be¬
harrenwollen beim .Herkömmlichen verstärkten diese Sinnesweise, die sich da
am undurchdringlichsten zeigte und am längsten erhielt, wo moderne Bildung
nur spärlich eingedrungen war. Reichspatriotismus fand sich nur noch in den
Reichsstädten hin und wieder, sowie in fränkischen und schwäbischen Landschaften,
deren Teilung in eine Menge winziger, meist ohnmächtiger politischer Körper eine
Beschränkung des Blickes auf das einzelne Territorium nicht aufkommen ließ, und
bei denen der Gedanke an Kaiser und Reich schon durch die Betrachtung wach
erhalten wurde, daß nur. sofern die Reichsverfassung erhalten bleibe, unter der
Masse dieser kleinen gebrechlichen Staaten ein leidlich geregelter Zustand und
einige Sicherheit vor dem Verschlungenwerden dnrch die größern Nachbarn ge¬
wahrt sei. Moser und von Soden sind Beispiele solcher Patrioten, aber selbst
in Süddeutschland gab es deren nicht viele. Im Norden schlugen zwar gewal¬
tige Worte von einem deutschen Vaterlande an das Ohr aller Gebildeten, nur
schwebten sie jenseits der Wirklichkeit. Meinte Herder, als er 1778 vom Kaiser
Josef ein solches Vaterland verlangte, nur Förderung einer Gemeinschaft der
Deutschen in Bildung, Literatur und Glauben, so hatten Klopstock und seine
Jünger allerdings mehr, aber doch keine konkrete Vorstellung vor Augen. Das
damalige römische Reich deutscher Nation konnte keine Fassung für die deutsche
Vaterlandsliebe abgeben, man mußte auf Armin und seine Cherusker zurück¬
greifen. In der Prosa der Gegenwart kam jenes Reich und seine Verfassung
für den Preußen, den Sachsen, den Hannoveraner nur noch als eine Maschinerie
in Betracht, vermittels deren der mächtigere Reichsstand über die Landesgrenzen
hinaus Einfluß übte; sich selbst dem Reiche unterzuordnen, fiel wenigen ein.
Wohl hatte Möser schon 1749 in Worten, die er seinem „Arminius" in den
Mund gelegt, mit einer praktisch realistischen Wendung über die Kleinstaaten
hinweg nach einer deutschen Einheit hingewiesen, aber er nahm damit eine Stelle
abseits von der herrschenden Strömung ein. Die Aufklärung, welche, während
hoch droben in den Lüften die Vaterlaudsgesänge Klopstocks und andrer über-
schwänglichen Barden rauschten, die Beherrschung des wirklichen Lebens bean¬
spruchte, vermochte ihrem innersten Wesen nach am wenigsten Opferung der
kleinen Verhältnisse zu Gunsten eines deutschen Vaterlandes zu fordern. Bei
ihr trat der Begriff des letztern hinter dem Gedanken a» die Menschheit zurück,
wie er bei der Geistlichkeit, die früher die Vorstellungen des Volkes von der mensch¬
lichen Bestimmung und Pflicht beherrscht hatte, vor dem Gedanken an das Jen¬
seits, das himmlische Vaterland, zurückgetreten war. Man war nicht blind gegen


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[0107] Deutscher Patriotismus vor hundert Jahren. Standpunkte betrachtet, zu wenig. Es mangelte den Deutschen ein politisches Ganze, das sie als Leib ihres Gemeinlebens empfunden hätten wie die Fran¬ zosen und die Engländer ihr Staatswesen. Für das Alltagsleben des Einzelnen bot der Sonderstaat, dem er angehörte, Stoff und Grenze, und an den hiermit zusammenhängenden Interessen, Gewohnheiten und Erinnerungen nährte sich eine Menge Partikularistischer Gefühle. Teils Pietät, teils träges oder trotziges Be¬ harrenwollen beim .Herkömmlichen verstärkten diese Sinnesweise, die sich da am undurchdringlichsten zeigte und am längsten erhielt, wo moderne Bildung nur spärlich eingedrungen war. Reichspatriotismus fand sich nur noch in den Reichsstädten hin und wieder, sowie in fränkischen und schwäbischen Landschaften, deren Teilung in eine Menge winziger, meist ohnmächtiger politischer Körper eine Beschränkung des Blickes auf das einzelne Territorium nicht aufkommen ließ, und bei denen der Gedanke an Kaiser und Reich schon durch die Betrachtung wach erhalten wurde, daß nur. sofern die Reichsverfassung erhalten bleibe, unter der Masse dieser kleinen gebrechlichen Staaten ein leidlich geregelter Zustand und einige Sicherheit vor dem Verschlungenwerden dnrch die größern Nachbarn ge¬ wahrt sei. Moser und von Soden sind Beispiele solcher Patrioten, aber selbst in Süddeutschland gab es deren nicht viele. Im Norden schlugen zwar gewal¬ tige Worte von einem deutschen Vaterlande an das Ohr aller Gebildeten, nur schwebten sie jenseits der Wirklichkeit. Meinte Herder, als er 1778 vom Kaiser Josef ein solches Vaterland verlangte, nur Förderung einer Gemeinschaft der Deutschen in Bildung, Literatur und Glauben, so hatten Klopstock und seine Jünger allerdings mehr, aber doch keine konkrete Vorstellung vor Augen. Das damalige römische Reich deutscher Nation konnte keine Fassung für die deutsche Vaterlandsliebe abgeben, man mußte auf Armin und seine Cherusker zurück¬ greifen. In der Prosa der Gegenwart kam jenes Reich und seine Verfassung für den Preußen, den Sachsen, den Hannoveraner nur noch als eine Maschinerie in Betracht, vermittels deren der mächtigere Reichsstand über die Landesgrenzen hinaus Einfluß übte; sich selbst dem Reiche unterzuordnen, fiel wenigen ein. Wohl hatte Möser schon 1749 in Worten, die er seinem „Arminius" in den Mund gelegt, mit einer praktisch realistischen Wendung über die Kleinstaaten hinweg nach einer deutschen Einheit hingewiesen, aber er nahm damit eine Stelle abseits von der herrschenden Strömung ein. Die Aufklärung, welche, während hoch droben in den Lüften die Vaterlaudsgesänge Klopstocks und andrer über- schwänglichen Barden rauschten, die Beherrschung des wirklichen Lebens bean¬ spruchte, vermochte ihrem innersten Wesen nach am wenigsten Opferung der kleinen Verhältnisse zu Gunsten eines deutschen Vaterlandes zu fordern. Bei ihr trat der Begriff des letztern hinter dem Gedanken a» die Menschheit zurück, wie er bei der Geistlichkeit, die früher die Vorstellungen des Volkes von der mensch¬ lichen Bestimmung und Pflicht beherrscht hatte, vor dem Gedanken an das Jen¬ seits, das himmlische Vaterland, zurückgetreten war. Man war nicht blind gegen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/107>, abgerufen am 17.09.2024.