Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Tagebuchblätter eines SonntagsphilosoxheN;

dyrt in Theologenkreisßn erfahren haben, denen das Bekenntnis des Dichters
begreiflich von besondern: Werte sein mußte.

Gerade in die Dornburger Zeit würde der erste Vers seiner Stimmung
nach ganz wohl Passer, denn der Dichter war dorthin entwichen, um sich mit
dem plötzlichen Verluste seines Karl August innerlich abzufinden, sich in seiner
Erschütterung zurecht zu finden. Sckells schlichte und ungefärbte Erzählungen
ließen deutlich sehen und fühle", wie er da neben den zur Beruhigung ge¬
triebenen Naturstudien mit seinem Denken und Empfinden auch in das Jenseits
hinübergriff und sein Weiterleben mit Sicherheit dorthin verlegte, wenn er
z. B. beim Abschiede den ihm liebgewordenen Mann fragte, ob sie sich denn
nicht bald in Weimar einmal wiedersahen, und als Sckell das für unwahr¬
scheinlich erklärte, mit gelüsteter Mütze nach oben blickend gesagt hat: Nun also
da oben! Aber der Vers kann älter sein, schon im Divan zeigt sich ein Ge¬
dankenkreis, in dem er Platz fände. Steht doch dort der Vers mit dem "Stirb
und werde," der mit seiner düster" Färbung weit eher dem Verdachte der
Fälschung verfallen müßte, wenn es möglich wäre. Und dort steht auch, unter
der Überschrift Talismane im ersten Buche, ein Spruch:


Ob ich Jrd'sches denk' und sinne,
Das gereicht zu höherem Gewinne.
Mit dem Staube nicht der Geist zerstoben,
Dringet in sich selbst gedrängt nach oben.

Goethe sich vor sich selbst rechtfertigend darum, daß er Irdisches dachte und
sann, wie uugoethisch! wenn man z. B. nur um die römischen Elegien denkt, um
andres in dieser Uichtung Gehendes nicht zu erwähnen, mit dessen Aufgeben
gar manche den rechten Goethe oder wenigstens ein Stück seines Centrums zu
verlieren meinen würden. Und das Irdische ist sicher im Gegensatz zum Oben
gedacht, beide wie entgegengesetzte Enden ein und derselben Bewegung, der Be¬
wegung des Ichs zu seinem Ziele. Das Irdische ist dem Zerstieben preis¬
gegeben, was f" der Hauptsache eins ist mit dem Zerstäuben dort, im Anschluß
an das längst geläufige Stäubchen für Atom oder Staubkorn, wie Herder sagt
(Ideen 2, S. 172). Im zweiten Gliede des Verses aber ist das Irdische von
der Anwendung auf das Äußere, Weltliche deutlich herttbergenvmmen auf das
irdische Nächste, Eigne, auf sein Leibliches, vom Makrvkvsmus auf den Mikro-
kosmus, er dachte schon dabei zugleich an sein Sterben, nicht bloß an das
höhere Streben im Leben selber. Denn der Geist "in sich gedrängt" ist eigent¬
lich gemeint, w,le ist der letzthin angeführten Äußerung der Madame Roland,
die ziW Tode ging (Sprüche in Prosa Ur. 341), der "gefaßte" Geist, d. h. der
in sich selbst gefaßte, vom Leibe gelöst oder sich eben lösend. Hier ist er aber
zugleich deutlicher in ein Bild gefaßt, wie es Goethe auch für abstracte Dinge
brauchte, ans seinem naturphilosophischen Denken heraus oder wie mans nennen


Tagebuchblätter eines SonntagsphilosoxheN;

dyrt in Theologenkreisßn erfahren haben, denen das Bekenntnis des Dichters
begreiflich von besondern: Werte sein mußte.

Gerade in die Dornburger Zeit würde der erste Vers seiner Stimmung
nach ganz wohl Passer, denn der Dichter war dorthin entwichen, um sich mit
dem plötzlichen Verluste seines Karl August innerlich abzufinden, sich in seiner
Erschütterung zurecht zu finden. Sckells schlichte und ungefärbte Erzählungen
ließen deutlich sehen und fühle», wie er da neben den zur Beruhigung ge¬
triebenen Naturstudien mit seinem Denken und Empfinden auch in das Jenseits
hinübergriff und sein Weiterleben mit Sicherheit dorthin verlegte, wenn er
z. B. beim Abschiede den ihm liebgewordenen Mann fragte, ob sie sich denn
nicht bald in Weimar einmal wiedersahen, und als Sckell das für unwahr¬
scheinlich erklärte, mit gelüsteter Mütze nach oben blickend gesagt hat: Nun also
da oben! Aber der Vers kann älter sein, schon im Divan zeigt sich ein Ge¬
dankenkreis, in dem er Platz fände. Steht doch dort der Vers mit dem „Stirb
und werde," der mit seiner düster» Färbung weit eher dem Verdachte der
Fälschung verfallen müßte, wenn es möglich wäre. Und dort steht auch, unter
der Überschrift Talismane im ersten Buche, ein Spruch:


Ob ich Jrd'sches denk' und sinne,
Das gereicht zu höherem Gewinne.
Mit dem Staube nicht der Geist zerstoben,
Dringet in sich selbst gedrängt nach oben.

Goethe sich vor sich selbst rechtfertigend darum, daß er Irdisches dachte und
sann, wie uugoethisch! wenn man z. B. nur um die römischen Elegien denkt, um
andres in dieser Uichtung Gehendes nicht zu erwähnen, mit dessen Aufgeben
gar manche den rechten Goethe oder wenigstens ein Stück seines Centrums zu
verlieren meinen würden. Und das Irdische ist sicher im Gegensatz zum Oben
gedacht, beide wie entgegengesetzte Enden ein und derselben Bewegung, der Be¬
wegung des Ichs zu seinem Ziele. Das Irdische ist dem Zerstieben preis¬
gegeben, was f» der Hauptsache eins ist mit dem Zerstäuben dort, im Anschluß
an das längst geläufige Stäubchen für Atom oder Staubkorn, wie Herder sagt
(Ideen 2, S. 172). Im zweiten Gliede des Verses aber ist das Irdische von
der Anwendung auf das Äußere, Weltliche deutlich herttbergenvmmen auf das
irdische Nächste, Eigne, auf sein Leibliches, vom Makrvkvsmus auf den Mikro-
kosmus, er dachte schon dabei zugleich an sein Sterben, nicht bloß an das
höhere Streben im Leben selber. Denn der Geist „in sich gedrängt" ist eigent¬
lich gemeint, w,le ist der letzthin angeführten Äußerung der Madame Roland,
die ziW Tode ging (Sprüche in Prosa Ur. 341), der „gefaßte" Geist, d. h. der
in sich selbst gefaßte, vom Leibe gelöst oder sich eben lösend. Hier ist er aber
zugleich deutlicher in ein Bild gefaßt, wie es Goethe auch für abstracte Dinge
brauchte, ans seinem naturphilosophischen Denken heraus oder wie mans nennen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0092" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/201521"/>
          <fw type="header" place="top"> Tagebuchblätter eines SonntagsphilosoxheN;</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_189" prev="#ID_188"> dyrt in Theologenkreisßn erfahren haben, denen das Bekenntnis des Dichters<lb/>
begreiflich von besondern: Werte sein mußte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_190"> Gerade in die Dornburger Zeit würde der erste Vers seiner Stimmung<lb/>
nach ganz wohl Passer, denn der Dichter war dorthin entwichen, um sich mit<lb/>
dem plötzlichen Verluste seines Karl August innerlich abzufinden, sich in seiner<lb/>
Erschütterung zurecht zu finden. Sckells schlichte und ungefärbte Erzählungen<lb/>
ließen deutlich sehen und fühle», wie er da neben den zur Beruhigung ge¬<lb/>
triebenen Naturstudien mit seinem Denken und Empfinden auch in das Jenseits<lb/>
hinübergriff und sein Weiterleben mit Sicherheit dorthin verlegte, wenn er<lb/>
z. B. beim Abschiede den ihm liebgewordenen Mann fragte, ob sie sich denn<lb/>
nicht bald in Weimar einmal wiedersahen, und als Sckell das für unwahr¬<lb/>
scheinlich erklärte, mit gelüsteter Mütze nach oben blickend gesagt hat: Nun also<lb/>
da oben! Aber der Vers kann älter sein, schon im Divan zeigt sich ein Ge¬<lb/>
dankenkreis, in dem er Platz fände. Steht doch dort der Vers mit dem &#x201E;Stirb<lb/>
und werde," der mit seiner düster» Färbung weit eher dem Verdachte der<lb/>
Fälschung verfallen müßte, wenn es möglich wäre. Und dort steht auch, unter<lb/>
der Überschrift Talismane im ersten Buche, ein Spruch:</p><lb/>
          <quote>
            <lg xml:id="POEMID_7" type="poem">
              <l> Ob ich Jrd'sches denk' und sinne,<lb/>
Das gereicht zu höherem Gewinne.<lb/>
Mit dem Staube nicht der Geist zerstoben,<lb/>
Dringet in sich selbst gedrängt nach oben.</l>
            </lg>
          </quote><lb/>
          <p xml:id="ID_191" next="#ID_192"> Goethe sich vor sich selbst rechtfertigend darum, daß er Irdisches dachte und<lb/>
sann, wie uugoethisch! wenn man z. B. nur um die römischen Elegien denkt, um<lb/>
andres in dieser Uichtung Gehendes nicht zu erwähnen, mit dessen Aufgeben<lb/>
gar manche den rechten Goethe oder wenigstens ein Stück seines Centrums zu<lb/>
verlieren meinen würden. Und das Irdische ist sicher im Gegensatz zum Oben<lb/>
gedacht, beide wie entgegengesetzte Enden ein und derselben Bewegung, der Be¬<lb/>
wegung des Ichs zu seinem Ziele. Das Irdische ist dem Zerstieben preis¬<lb/>
gegeben, was f» der Hauptsache eins ist mit dem Zerstäuben dort, im Anschluß<lb/>
an das längst geläufige Stäubchen für Atom oder Staubkorn, wie Herder sagt<lb/>
(Ideen 2, S. 172). Im zweiten Gliede des Verses aber ist das Irdische von<lb/>
der Anwendung auf das Äußere, Weltliche deutlich herttbergenvmmen auf das<lb/>
irdische Nächste, Eigne, auf sein Leibliches, vom Makrvkvsmus auf den Mikro-<lb/>
kosmus, er dachte schon dabei zugleich an sein Sterben, nicht bloß an das<lb/>
höhere Streben im Leben selber. Denn der Geist &#x201E;in sich gedrängt" ist eigent¬<lb/>
lich gemeint, w,le ist der letzthin angeführten Äußerung der Madame Roland,<lb/>
die ziW Tode ging (Sprüche in Prosa Ur. 341), der &#x201E;gefaßte" Geist, d. h. der<lb/>
in sich selbst gefaßte, vom Leibe gelöst oder sich eben lösend. Hier ist er aber<lb/>
zugleich deutlicher in ein Bild gefaßt, wie es Goethe auch für abstracte Dinge<lb/>
brauchte, ans seinem naturphilosophischen Denken heraus oder wie mans nennen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0092] Tagebuchblätter eines SonntagsphilosoxheN; dyrt in Theologenkreisßn erfahren haben, denen das Bekenntnis des Dichters begreiflich von besondern: Werte sein mußte. Gerade in die Dornburger Zeit würde der erste Vers seiner Stimmung nach ganz wohl Passer, denn der Dichter war dorthin entwichen, um sich mit dem plötzlichen Verluste seines Karl August innerlich abzufinden, sich in seiner Erschütterung zurecht zu finden. Sckells schlichte und ungefärbte Erzählungen ließen deutlich sehen und fühle», wie er da neben den zur Beruhigung ge¬ triebenen Naturstudien mit seinem Denken und Empfinden auch in das Jenseits hinübergriff und sein Weiterleben mit Sicherheit dorthin verlegte, wenn er z. B. beim Abschiede den ihm liebgewordenen Mann fragte, ob sie sich denn nicht bald in Weimar einmal wiedersahen, und als Sckell das für unwahr¬ scheinlich erklärte, mit gelüsteter Mütze nach oben blickend gesagt hat: Nun also da oben! Aber der Vers kann älter sein, schon im Divan zeigt sich ein Ge¬ dankenkreis, in dem er Platz fände. Steht doch dort der Vers mit dem „Stirb und werde," der mit seiner düster» Färbung weit eher dem Verdachte der Fälschung verfallen müßte, wenn es möglich wäre. Und dort steht auch, unter der Überschrift Talismane im ersten Buche, ein Spruch: Ob ich Jrd'sches denk' und sinne, Das gereicht zu höherem Gewinne. Mit dem Staube nicht der Geist zerstoben, Dringet in sich selbst gedrängt nach oben. Goethe sich vor sich selbst rechtfertigend darum, daß er Irdisches dachte und sann, wie uugoethisch! wenn man z. B. nur um die römischen Elegien denkt, um andres in dieser Uichtung Gehendes nicht zu erwähnen, mit dessen Aufgeben gar manche den rechten Goethe oder wenigstens ein Stück seines Centrums zu verlieren meinen würden. Und das Irdische ist sicher im Gegensatz zum Oben gedacht, beide wie entgegengesetzte Enden ein und derselben Bewegung, der Be¬ wegung des Ichs zu seinem Ziele. Das Irdische ist dem Zerstieben preis¬ gegeben, was f» der Hauptsache eins ist mit dem Zerstäuben dort, im Anschluß an das längst geläufige Stäubchen für Atom oder Staubkorn, wie Herder sagt (Ideen 2, S. 172). Im zweiten Gliede des Verses aber ist das Irdische von der Anwendung auf das Äußere, Weltliche deutlich herttbergenvmmen auf das irdische Nächste, Eigne, auf sein Leibliches, vom Makrvkvsmus auf den Mikro- kosmus, er dachte schon dabei zugleich an sein Sterben, nicht bloß an das höhere Streben im Leben selber. Denn der Geist „in sich gedrängt" ist eigent¬ lich gemeint, w,le ist der letzthin angeführten Äußerung der Madame Roland, die ziW Tode ging (Sprüche in Prosa Ur. 341), der „gefaßte" Geist, d. h. der in sich selbst gefaßte, vom Leibe gelöst oder sich eben lösend. Hier ist er aber zugleich deutlicher in ein Bild gefaßt, wie es Goethe auch für abstracte Dinge brauchte, ans seinem naturphilosophischen Denken heraus oder wie mans nennen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/92
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/92>, abgerufen am 04.07.2024.