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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Gevatter Tod.

gelegen hatte, als er in die Augen des Todes geschaut hatte. Jetzt schien die
Klarheit des Himmels darauf, und ein Ausdruck unaussprechlicher Glückseligkeit
lag über der ganzen Schaar ausgebreitet, die von dem Flügel getragen
dahinschwebte.

Mutter! rief Tippe wie damals. Ich sehe dich im Licht! O Vater --
ich kenne dich. Du breitest die Arme nach mir ans. Nimm mich mit, nimm
mich mit! Ach, nimm mich doch mit!

Aber was für eine Stimme war das, die jetzt dicht hinter ihm ertönte?

Warte doch einen Augenblick, kleiner Tippe! Warte doch! flehte sie. Du
hast mich bis hierher mitgenommen, du mußt mich nun auch weiter führen!

Und der Gevatter Tod nickte mit seinem milden Lächeln, und Tippe nahm
den alten Jens bei der Hand und führte ihn vorwärts.

Da erglänzte ein Stern in der Höhe, und es erklang ein Loblied im
Himmel. Es war, als wären Tippes Augen geblendet, als sauste es vor seinen
Ohren, aber es war ihm, als stünde der Weihnachtsbaum des Himmels vor
ihm, und das Christkind selber mit dem hellen Glorienschein um die Stirn und
der göttlichen Liebe in den Angen und alle die himmlischen Heerscharen um¬
stünden den Baum und sängen: Hosianna in der Höhe!

Als er aber seine Augen aufhob, um in das milde Antlitz Gottes zu
schauen, da strömte ein blendender Glanz auf ihn herab. Ein Beben durch¬
zuckte ihn, seine Augen schlossen sich von selber, und der Gevatter Tod hob ihn
auf seine starken Schwingen. Die ewige Liebe nahm den kleinen Tippe zu sich,
Gott küßte ihn auf die Augen, und mit diesem Kuß war Tippe der Erde ent¬
rückt, flog er hinein in den Himmel, und den alten Jens nahm er im Fluge
mit sich! --

Aber in dem kleinen Dorfe auf der Erde waren nur wenige Minuten ver¬
gangen, die alte Kirchenglocke hatte die beiden schon eingeläutet in die ewige
Weihnachtsfreude des Himmels. Da schwieg sie plötzlich, als hätte sie ihr
Werk vollendet und wollte nun ruhen nach der Arbeit und still darüber nach¬
sinnen. Und Bewegung und Verwirrung kam in das Dorf.

Der gelle Schrei war darüber hingegangen und hatte die Bewohner aus
ihrer Ruhe aufgeschreckt, wie sehr sie auch im Genusse ihrer Weihnachtsfreuden
vertieft waren. Er war wie eine unheilverkündende Botschaft an ihre Ohren
gedrungen und hatte ihre Herzen mit Entsetzen erfüllt, und jetzt strömten sie
von allen Seiten herbei. Und draußen auf dem Teiche stand der Schulmeister
mit seiner Laterne -- er hatte die Glocke im Stich gelassen und war heraus geeilt.

Dort muß jemand ertrunken sein! sagte er. Es ist ein Loch im Eise, und
was schwimmt denn da?

Das ist die Mütze des alten Jens! rief einer.

Und das Tuch des kleinen Tippe! Ich kenne es! fiel die Frau des Schul¬
meisters ein, denn auch sie war hierher geeilt. Herr du mein Gott! liegt der


Gevatter Tod.

gelegen hatte, als er in die Augen des Todes geschaut hatte. Jetzt schien die
Klarheit des Himmels darauf, und ein Ausdruck unaussprechlicher Glückseligkeit
lag über der ganzen Schaar ausgebreitet, die von dem Flügel getragen
dahinschwebte.

Mutter! rief Tippe wie damals. Ich sehe dich im Licht! O Vater —
ich kenne dich. Du breitest die Arme nach mir ans. Nimm mich mit, nimm
mich mit! Ach, nimm mich doch mit!

Aber was für eine Stimme war das, die jetzt dicht hinter ihm ertönte?

Warte doch einen Augenblick, kleiner Tippe! Warte doch! flehte sie. Du
hast mich bis hierher mitgenommen, du mußt mich nun auch weiter führen!

Und der Gevatter Tod nickte mit seinem milden Lächeln, und Tippe nahm
den alten Jens bei der Hand und führte ihn vorwärts.

Da erglänzte ein Stern in der Höhe, und es erklang ein Loblied im
Himmel. Es war, als wären Tippes Augen geblendet, als sauste es vor seinen
Ohren, aber es war ihm, als stünde der Weihnachtsbaum des Himmels vor
ihm, und das Christkind selber mit dem hellen Glorienschein um die Stirn und
der göttlichen Liebe in den Angen und alle die himmlischen Heerscharen um¬
stünden den Baum und sängen: Hosianna in der Höhe!

Als er aber seine Augen aufhob, um in das milde Antlitz Gottes zu
schauen, da strömte ein blendender Glanz auf ihn herab. Ein Beben durch¬
zuckte ihn, seine Augen schlossen sich von selber, und der Gevatter Tod hob ihn
auf seine starken Schwingen. Die ewige Liebe nahm den kleinen Tippe zu sich,
Gott küßte ihn auf die Augen, und mit diesem Kuß war Tippe der Erde ent¬
rückt, flog er hinein in den Himmel, und den alten Jens nahm er im Fluge
mit sich! —

Aber in dem kleinen Dorfe auf der Erde waren nur wenige Minuten ver¬
gangen, die alte Kirchenglocke hatte die beiden schon eingeläutet in die ewige
Weihnachtsfreude des Himmels. Da schwieg sie plötzlich, als hätte sie ihr
Werk vollendet und wollte nun ruhen nach der Arbeit und still darüber nach¬
sinnen. Und Bewegung und Verwirrung kam in das Dorf.

Der gelle Schrei war darüber hingegangen und hatte die Bewohner aus
ihrer Ruhe aufgeschreckt, wie sehr sie auch im Genusse ihrer Weihnachtsfreuden
vertieft waren. Er war wie eine unheilverkündende Botschaft an ihre Ohren
gedrungen und hatte ihre Herzen mit Entsetzen erfüllt, und jetzt strömten sie
von allen Seiten herbei. Und draußen auf dem Teiche stand der Schulmeister
mit seiner Laterne — er hatte die Glocke im Stich gelassen und war heraus geeilt.

Dort muß jemand ertrunken sein! sagte er. Es ist ein Loch im Eise, und
was schwimmt denn da?

Das ist die Mütze des alten Jens! rief einer.

Und das Tuch des kleinen Tippe! Ich kenne es! fiel die Frau des Schul¬
meisters ein, denn auch sie war hierher geeilt. Herr du mein Gott! liegt der


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[0658] Gevatter Tod. gelegen hatte, als er in die Augen des Todes geschaut hatte. Jetzt schien die Klarheit des Himmels darauf, und ein Ausdruck unaussprechlicher Glückseligkeit lag über der ganzen Schaar ausgebreitet, die von dem Flügel getragen dahinschwebte. Mutter! rief Tippe wie damals. Ich sehe dich im Licht! O Vater — ich kenne dich. Du breitest die Arme nach mir ans. Nimm mich mit, nimm mich mit! Ach, nimm mich doch mit! Aber was für eine Stimme war das, die jetzt dicht hinter ihm ertönte? Warte doch einen Augenblick, kleiner Tippe! Warte doch! flehte sie. Du hast mich bis hierher mitgenommen, du mußt mich nun auch weiter führen! Und der Gevatter Tod nickte mit seinem milden Lächeln, und Tippe nahm den alten Jens bei der Hand und führte ihn vorwärts. Da erglänzte ein Stern in der Höhe, und es erklang ein Loblied im Himmel. Es war, als wären Tippes Augen geblendet, als sauste es vor seinen Ohren, aber es war ihm, als stünde der Weihnachtsbaum des Himmels vor ihm, und das Christkind selber mit dem hellen Glorienschein um die Stirn und der göttlichen Liebe in den Angen und alle die himmlischen Heerscharen um¬ stünden den Baum und sängen: Hosianna in der Höhe! Als er aber seine Augen aufhob, um in das milde Antlitz Gottes zu schauen, da strömte ein blendender Glanz auf ihn herab. Ein Beben durch¬ zuckte ihn, seine Augen schlossen sich von selber, und der Gevatter Tod hob ihn auf seine starken Schwingen. Die ewige Liebe nahm den kleinen Tippe zu sich, Gott küßte ihn auf die Augen, und mit diesem Kuß war Tippe der Erde ent¬ rückt, flog er hinein in den Himmel, und den alten Jens nahm er im Fluge mit sich! — Aber in dem kleinen Dorfe auf der Erde waren nur wenige Minuten ver¬ gangen, die alte Kirchenglocke hatte die beiden schon eingeläutet in die ewige Weihnachtsfreude des Himmels. Da schwieg sie plötzlich, als hätte sie ihr Werk vollendet und wollte nun ruhen nach der Arbeit und still darüber nach¬ sinnen. Und Bewegung und Verwirrung kam in das Dorf. Der gelle Schrei war darüber hingegangen und hatte die Bewohner aus ihrer Ruhe aufgeschreckt, wie sehr sie auch im Genusse ihrer Weihnachtsfreuden vertieft waren. Er war wie eine unheilverkündende Botschaft an ihre Ohren gedrungen und hatte ihre Herzen mit Entsetzen erfüllt, und jetzt strömten sie von allen Seiten herbei. Und draußen auf dem Teiche stand der Schulmeister mit seiner Laterne — er hatte die Glocke im Stich gelassen und war heraus geeilt. Dort muß jemand ertrunken sein! sagte er. Es ist ein Loch im Eise, und was schwimmt denn da? Das ist die Mütze des alten Jens! rief einer. Und das Tuch des kleinen Tippe! Ich kenne es! fiel die Frau des Schul¬ meisters ein, denn auch sie war hierher geeilt. Herr du mein Gott! liegt der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/658>, abgerufen am 22.07.2024.