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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Gevatter Tod.

Einen solchen Weihnachtsbaum wie diesen und eine solche Weihnachtsfreude
wie die, welche jetzt das Herz des kleinen Tippe erfüllte, gab es an jenem Abend
nirgends in der weiten Welt.

Aber Tippe! Aber Tippe! Was ist das nur alles! fragte der alte Jens
einmal über das andre und sah ganz verwirrt dazu aus.

Es ist dein, alter Jens, alles, alles gehört dir! sagte Tippe wieder und
wieder mit strahlenden Augen. Komm doch nur und pflück dir etwas ab, es
gehört dir ja ganz allein!

Solche Tuten wuchsen sonst nicht an den Bäumen, das wußte Tippe wohl,
denn er hatte selber von jeder genascht, um sich davon zu überzeugen. Und
die Geschenke! Ja, die waren wie für diesen Zweck gemacht. Da war eine
Schachtel mit Bäumen und Klötzen, mit denen man einen Friedhof und eine
Kirche aufbauen konnte -- so recht passend für die Neigungen eines alten Toten¬
gräbers. "Dem artigen Kinde!" stand auf dem Deckel zu lesen. Das hatte
die Mutter ihrem Tippe erklärt, und war denn der alte Jens nicht ein artiges
Kind gewesen? Ja, er war artiger und artiger geworden, je älter er ward,
und das war ja gerade das Schöne bei der Sache.

"Für ein Kind, das in der Schule fleißig gewesen ist!" stand mit großen,
goldnen Buchstaben auf einem wunderschönen Bilderbuche. Und war denn der
alte Jens nicht fleißig und treulich zur Schule gegangen? Ja, wahrhaftig! das
war der Fall gewesen, lind er hatte sich die Lehren derselben alle angeeignet,
die schweren wie die leichten. Niemand hatte das Geschenk mehr verdient, als
gerade er. Aber er wußte es selber nicht, und nun stand er da wie aus den
Wolken gefallen und starrte die ganze Herrlichkeit an.

Freust du dich auch recht, alter Jens? fragte Tippe und streckte ihm die
Arme voller Glückseligkeit entgegen.

Da schloß ihn der alte Jens in seine Arme und beugte das graue Haupt
auf seine Locken herab, während ihm heiße Thränen aus den Angen strömten.
Und Weihnachtsfreude war ebensowohl in den Thränen des alten Jens wie in
Tippes Glückseligkeit, und die Wände des alten Hauses strahlten sie zurück, und
aus dem dunkeln Zimmer, zu dem die Thür geöffnet war, schaute der Tod
mit seinem Lächeln zu ihnen herüber.

Und da mußte gerade die alte Glocke, die so viele Jahre hindurch die bittern
Gedanken des alten Jens über das Dorf hin hatte erschallen lassen, jetzt auch
mit einstimmen und seine Weihnachtsfreude einläuten! Sie brach ihr Schweigen,
und tief und ernst wie immer schallten ihre Töne in die Stille des Abends
hinaus, aber es lag heute ein eigenartiger Jubel in dem Liede, das der alte
Jens ihr gelehrt hatte:

Kling klang!
Der Tag ist verglommen.
Kling klang!
Der Tod wird kommen.

Gevatter Tod.

Einen solchen Weihnachtsbaum wie diesen und eine solche Weihnachtsfreude
wie die, welche jetzt das Herz des kleinen Tippe erfüllte, gab es an jenem Abend
nirgends in der weiten Welt.

Aber Tippe! Aber Tippe! Was ist das nur alles! fragte der alte Jens
einmal über das andre und sah ganz verwirrt dazu aus.

Es ist dein, alter Jens, alles, alles gehört dir! sagte Tippe wieder und
wieder mit strahlenden Augen. Komm doch nur und pflück dir etwas ab, es
gehört dir ja ganz allein!

Solche Tuten wuchsen sonst nicht an den Bäumen, das wußte Tippe wohl,
denn er hatte selber von jeder genascht, um sich davon zu überzeugen. Und
die Geschenke! Ja, die waren wie für diesen Zweck gemacht. Da war eine
Schachtel mit Bäumen und Klötzen, mit denen man einen Friedhof und eine
Kirche aufbauen konnte — so recht passend für die Neigungen eines alten Toten¬
gräbers. „Dem artigen Kinde!" stand auf dem Deckel zu lesen. Das hatte
die Mutter ihrem Tippe erklärt, und war denn der alte Jens nicht ein artiges
Kind gewesen? Ja, er war artiger und artiger geworden, je älter er ward,
und das war ja gerade das Schöne bei der Sache.

„Für ein Kind, das in der Schule fleißig gewesen ist!" stand mit großen,
goldnen Buchstaben auf einem wunderschönen Bilderbuche. Und war denn der
alte Jens nicht fleißig und treulich zur Schule gegangen? Ja, wahrhaftig! das
war der Fall gewesen, lind er hatte sich die Lehren derselben alle angeeignet,
die schweren wie die leichten. Niemand hatte das Geschenk mehr verdient, als
gerade er. Aber er wußte es selber nicht, und nun stand er da wie aus den
Wolken gefallen und starrte die ganze Herrlichkeit an.

Freust du dich auch recht, alter Jens? fragte Tippe und streckte ihm die
Arme voller Glückseligkeit entgegen.

Da schloß ihn der alte Jens in seine Arme und beugte das graue Haupt
auf seine Locken herab, während ihm heiße Thränen aus den Angen strömten.
Und Weihnachtsfreude war ebensowohl in den Thränen des alten Jens wie in
Tippes Glückseligkeit, und die Wände des alten Hauses strahlten sie zurück, und
aus dem dunkeln Zimmer, zu dem die Thür geöffnet war, schaute der Tod
mit seinem Lächeln zu ihnen herüber.

Und da mußte gerade die alte Glocke, die so viele Jahre hindurch die bittern
Gedanken des alten Jens über das Dorf hin hatte erschallen lassen, jetzt auch
mit einstimmen und seine Weihnachtsfreude einläuten! Sie brach ihr Schweigen,
und tief und ernst wie immer schallten ihre Töne in die Stille des Abends
hinaus, aber es lag heute ein eigenartiger Jubel in dem Liede, das der alte
Jens ihr gelehrt hatte:

Kling klang!
Der Tag ist verglommen.
Kling klang!
Der Tod wird kommen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/655>, abgerufen am 22.07.2024.