Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Gevatter Tod.

nießens auch für den alten Jens gekommen. Es war, als fiele eine schwere
Last von seinem Herzen, und eine nie gekannte Seligkeit erfüllte seine Brust.

Aber was war das? Es war allmählich finster um sie her geworden, aber
aus der Hinterstube fiel durch die geborstene Thür plötzlich ein Heller Licht¬
schimmer in das Dunkel, das sie umgab. Er hörte leise Fußtritte, die sich zu
entfernen schienen, dann wurde eine Thür schnell ins Schloß geworfen. Aber
ehe Jens noch Zeit hatte, sich darüber zu verwundern, hatte eine weiche Hand
sich in die seine gelegt und ihn mit sich fortgezogen. Die Thür flog auf, und
der Glanz des Weihnachtsbaumes strömte ihm blendend entgegen.

Das alles ist dein, alter Jens! rief Tippe und klatschte freudestrahlend
in seine Hände. Aber ehe du daran pflücken darfst, mußt du erst mit mir um
den Baum herumgehen und singen I

Und nun nahm Tippe das alte Kind bei der Hand, ging mit ihm um den
Baum herum und sang mit Heller, klarer Stimme, bis der alte Jens mit ein¬
fiel, erst schwach und zitternd, dann lauter und lauter, immer sicherer werdend:


[Beginn Spaltensatz]
Ein Stern mit Wunderpracht,
O seht, ist aufgegangen!
Verschwunden ist die Nacht,
Die schwer uns hielt umfangen.
Hosianna in der Höh!
Ein König Einzug hält,
Das will der Stern verkünden,
Ein Retter dieser Welt,
Ein Heiland unsrer Sünden.
Hosianna in der Höh!
Geringer Herberg Dach
Hat Jesum aufgenommen,
Ein Kindlein arm und schwach
Ist er zu uns gekommen.
Hosianna in der Höh!
Ach Herr, durch meine Schuld
Hast du dein Reich verloren,
Für mich hast voll Geduld
Solch niedrig Loos erkoren!
Hosianna in der Höh!
[Spaltenumbruch]
Da liegt mein Jesulein
Auf hartem Stroh, doch fließet
Um ihn ein lichter Schein,
Den jener Stern ergießet.
Hosianna in der Höh!
Und Engel dienend stehn
Um ihn an seiner Krippen,
Die neigen sich gar schön,
Hold tönt's von ihren Lippen
Hosianna in der Höh!
Und Engel halten Wacht
Ums niedre Haus, die singen,
Daß durch die heil'ge Nacht
Es zieht mit süßem Klingen
Hosianna in der Höh!
Und aufwärts dringt der Schall,
Empor zum Sternenkreise
Des Himmels Chöre all
Einstimmen in die Weise
Hosianna in der Höh!
[Ende Spaltensatz]

Den Gesang hatte die Mutter ihrem Tippe und dem alten Jens im vorigen
Jahre gelehrt, und Tippe und die Mutter des kleinen Knaben hatten ihn fleißig
geübt, während sie den Tannenbaum aufputzten. Und klang er auch nur schwach
und lallend, so paßte er doch wunderbar gut zu dem Lobliede, mit dem die
Engel an jenem Abend aufflogen, und weder Tippes dünnes Stimmchen, noch
die gebrochenen Töne des alten Jens verletzten die Ohren der himmlischen
Heerscharen.


Gevatter Tod.

nießens auch für den alten Jens gekommen. Es war, als fiele eine schwere
Last von seinem Herzen, und eine nie gekannte Seligkeit erfüllte seine Brust.

Aber was war das? Es war allmählich finster um sie her geworden, aber
aus der Hinterstube fiel durch die geborstene Thür plötzlich ein Heller Licht¬
schimmer in das Dunkel, das sie umgab. Er hörte leise Fußtritte, die sich zu
entfernen schienen, dann wurde eine Thür schnell ins Schloß geworfen. Aber
ehe Jens noch Zeit hatte, sich darüber zu verwundern, hatte eine weiche Hand
sich in die seine gelegt und ihn mit sich fortgezogen. Die Thür flog auf, und
der Glanz des Weihnachtsbaumes strömte ihm blendend entgegen.

Das alles ist dein, alter Jens! rief Tippe und klatschte freudestrahlend
in seine Hände. Aber ehe du daran pflücken darfst, mußt du erst mit mir um
den Baum herumgehen und singen I

Und nun nahm Tippe das alte Kind bei der Hand, ging mit ihm um den
Baum herum und sang mit Heller, klarer Stimme, bis der alte Jens mit ein¬
fiel, erst schwach und zitternd, dann lauter und lauter, immer sicherer werdend:


[Beginn Spaltensatz]
Ein Stern mit Wunderpracht,
O seht, ist aufgegangen!
Verschwunden ist die Nacht,
Die schwer uns hielt umfangen.
Hosianna in der Höh!
Ein König Einzug hält,
Das will der Stern verkünden,
Ein Retter dieser Welt,
Ein Heiland unsrer Sünden.
Hosianna in der Höh!
Geringer Herberg Dach
Hat Jesum aufgenommen,
Ein Kindlein arm und schwach
Ist er zu uns gekommen.
Hosianna in der Höh!
Ach Herr, durch meine Schuld
Hast du dein Reich verloren,
Für mich hast voll Geduld
Solch niedrig Loos erkoren!
Hosianna in der Höh!
[Spaltenumbruch]
Da liegt mein Jesulein
Auf hartem Stroh, doch fließet
Um ihn ein lichter Schein,
Den jener Stern ergießet.
Hosianna in der Höh!
Und Engel dienend stehn
Um ihn an seiner Krippen,
Die neigen sich gar schön,
Hold tönt's von ihren Lippen
Hosianna in der Höh!
Und Engel halten Wacht
Ums niedre Haus, die singen,
Daß durch die heil'ge Nacht
Es zieht mit süßem Klingen
Hosianna in der Höh!
Und aufwärts dringt der Schall,
Empor zum Sternenkreise
Des Himmels Chöre all
Einstimmen in die Weise
Hosianna in der Höh!
[Ende Spaltensatz]

Den Gesang hatte die Mutter ihrem Tippe und dem alten Jens im vorigen
Jahre gelehrt, und Tippe und die Mutter des kleinen Knaben hatten ihn fleißig
geübt, während sie den Tannenbaum aufputzten. Und klang er auch nur schwach
und lallend, so paßte er doch wunderbar gut zu dem Lobliede, mit dem die
Engel an jenem Abend aufflogen, und weder Tippes dünnes Stimmchen, noch
die gebrochenen Töne des alten Jens verletzten die Ohren der himmlischen
Heerscharen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0654" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/202083"/>
          <fw type="header" place="top"> Gevatter Tod.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1889" prev="#ID_1888"> nießens auch für den alten Jens gekommen. Es war, als fiele eine schwere<lb/>
Last von seinem Herzen, und eine nie gekannte Seligkeit erfüllte seine Brust.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1890"> Aber was war das? Es war allmählich finster um sie her geworden, aber<lb/>
aus der Hinterstube fiel durch die geborstene Thür plötzlich ein Heller Licht¬<lb/>
schimmer in das Dunkel, das sie umgab. Er hörte leise Fußtritte, die sich zu<lb/>
entfernen schienen, dann wurde eine Thür schnell ins Schloß geworfen. Aber<lb/>
ehe Jens noch Zeit hatte, sich darüber zu verwundern, hatte eine weiche Hand<lb/>
sich in die seine gelegt und ihn mit sich fortgezogen. Die Thür flog auf, und<lb/>
der Glanz des Weihnachtsbaumes strömte ihm blendend entgegen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1891"> Das alles ist dein, alter Jens! rief Tippe und klatschte freudestrahlend<lb/>
in seine Hände. Aber ehe du daran pflücken darfst, mußt du erst mit mir um<lb/>
den Baum herumgehen und singen I</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1892"> Und nun nahm Tippe das alte Kind bei der Hand, ging mit ihm um den<lb/>
Baum herum und sang mit Heller, klarer Stimme, bis der alte Jens mit ein¬<lb/>
fiel, erst schwach und zitternd, dann lauter und lauter, immer sicherer werdend:</p><lb/>
          <cb type="start"/>
          <lg xml:id="POEMID_145" type="poem" next="#POEMID_146">
            <l> Ein Stern mit Wunderpracht,<lb/>
O seht, ist aufgegangen!<lb/>
Verschwunden ist die Nacht,<lb/>
Die schwer uns hielt umfangen.<lb/>
Hosianna in der Höh!</l>
          </lg>
          <lg xml:id="POEMID_146" prev="#POEMID_145" type="poem" next="#POEMID_147">
            <l> Ein König Einzug hält,<lb/>
Das will der Stern verkünden,<lb/>
Ein Retter dieser Welt,<lb/>
Ein Heiland unsrer Sünden.<lb/>
Hosianna in der Höh!</l>
          </lg>
          <lg xml:id="POEMID_147" prev="#POEMID_146" type="poem" next="#POEMID_148">
            <l> Geringer Herberg Dach<lb/>
Hat Jesum aufgenommen,<lb/>
Ein Kindlein arm und schwach<lb/>
Ist er zu uns gekommen.<lb/>
Hosianna in der Höh!</l>
          </lg>
          <lg xml:id="POEMID_148" prev="#POEMID_147" type="poem" next="#POEMID_149">
            <l> Ach Herr, durch meine Schuld<lb/>
Hast du dein Reich verloren,<lb/>
Für mich hast voll Geduld<lb/>
Solch niedrig Loos erkoren!<lb/>
Hosianna in der Höh!</l>
          </lg>
          <cb/><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_149" prev="#POEMID_148" type="poem" next="#POEMID_150">
            <l> Da liegt mein Jesulein<lb/>
Auf hartem Stroh, doch fließet<lb/>
Um ihn ein lichter Schein,<lb/>
Den jener Stern ergießet.<lb/>
Hosianna in der Höh!</l>
          </lg>
          <lg xml:id="POEMID_150" prev="#POEMID_149" type="poem" next="#POEMID_151">
            <l> Und Engel dienend stehn<lb/>
Um ihn an seiner Krippen,<lb/>
Die neigen sich gar schön,<lb/>
Hold tönt's von ihren Lippen<lb/>
Hosianna in der Höh!</l>
          </lg>
          <lg xml:id="POEMID_151" prev="#POEMID_150" type="poem" next="#POEMID_152">
            <l> Und Engel halten Wacht<lb/>
Ums niedre Haus, die singen,<lb/>
Daß durch die heil'ge Nacht<lb/>
Es zieht mit süßem Klingen<lb/>
Hosianna in der Höh!</l>
          </lg>
          <lg xml:id="POEMID_152" prev="#POEMID_151" type="poem">
            <l> Und aufwärts dringt der Schall,<lb/>
Empor zum Sternenkreise<lb/>
Des Himmels Chöre all<lb/>
Einstimmen in die Weise<lb/>
Hosianna in der Höh!</l>
          </lg>
          <cb type="end"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1893"> Den Gesang hatte die Mutter ihrem Tippe und dem alten Jens im vorigen<lb/>
Jahre gelehrt, und Tippe und die Mutter des kleinen Knaben hatten ihn fleißig<lb/>
geübt, während sie den Tannenbaum aufputzten. Und klang er auch nur schwach<lb/>
und lallend, so paßte er doch wunderbar gut zu dem Lobliede, mit dem die<lb/>
Engel an jenem Abend aufflogen, und weder Tippes dünnes Stimmchen, noch<lb/>
die gebrochenen Töne des alten Jens verletzten die Ohren der himmlischen<lb/>
Heerscharen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0654] Gevatter Tod. nießens auch für den alten Jens gekommen. Es war, als fiele eine schwere Last von seinem Herzen, und eine nie gekannte Seligkeit erfüllte seine Brust. Aber was war das? Es war allmählich finster um sie her geworden, aber aus der Hinterstube fiel durch die geborstene Thür plötzlich ein Heller Licht¬ schimmer in das Dunkel, das sie umgab. Er hörte leise Fußtritte, die sich zu entfernen schienen, dann wurde eine Thür schnell ins Schloß geworfen. Aber ehe Jens noch Zeit hatte, sich darüber zu verwundern, hatte eine weiche Hand sich in die seine gelegt und ihn mit sich fortgezogen. Die Thür flog auf, und der Glanz des Weihnachtsbaumes strömte ihm blendend entgegen. Das alles ist dein, alter Jens! rief Tippe und klatschte freudestrahlend in seine Hände. Aber ehe du daran pflücken darfst, mußt du erst mit mir um den Baum herumgehen und singen I Und nun nahm Tippe das alte Kind bei der Hand, ging mit ihm um den Baum herum und sang mit Heller, klarer Stimme, bis der alte Jens mit ein¬ fiel, erst schwach und zitternd, dann lauter und lauter, immer sicherer werdend: Ein Stern mit Wunderpracht, O seht, ist aufgegangen! Verschwunden ist die Nacht, Die schwer uns hielt umfangen. Hosianna in der Höh! Ein König Einzug hält, Das will der Stern verkünden, Ein Retter dieser Welt, Ein Heiland unsrer Sünden. Hosianna in der Höh! Geringer Herberg Dach Hat Jesum aufgenommen, Ein Kindlein arm und schwach Ist er zu uns gekommen. Hosianna in der Höh! Ach Herr, durch meine Schuld Hast du dein Reich verloren, Für mich hast voll Geduld Solch niedrig Loos erkoren! Hosianna in der Höh! Da liegt mein Jesulein Auf hartem Stroh, doch fließet Um ihn ein lichter Schein, Den jener Stern ergießet. Hosianna in der Höh! Und Engel dienend stehn Um ihn an seiner Krippen, Die neigen sich gar schön, Hold tönt's von ihren Lippen Hosianna in der Höh! Und Engel halten Wacht Ums niedre Haus, die singen, Daß durch die heil'ge Nacht Es zieht mit süßem Klingen Hosianna in der Höh! Und aufwärts dringt der Schall, Empor zum Sternenkreise Des Himmels Chöre all Einstimmen in die Weise Hosianna in der Höh! Den Gesang hatte die Mutter ihrem Tippe und dem alten Jens im vorigen Jahre gelehrt, und Tippe und die Mutter des kleinen Knaben hatten ihn fleißig geübt, während sie den Tannenbaum aufputzten. Und klang er auch nur schwach und lallend, so paßte er doch wunderbar gut zu dem Lobliede, mit dem die Engel an jenem Abend aufflogen, und weder Tippes dünnes Stimmchen, noch die gebrochenen Töne des alten Jens verletzten die Ohren der himmlischen Heerscharen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/654
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/654>, abgerufen am 22.07.2024.