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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Geschichten aus Rorfu.

bezeichnen, weil sich in der Tonart seiner Ironie und in seiner vortrefflichen
Prosa die Verwandtschaft mit dem Staatsschreiber von Zürich offenbart. Daß
Hans Hoffmann die "Sieben Legenden" und die "Leute von Seldwyla"
mit Nutzen gelesen hat, bestreitet er selbst nicht, er hat es vielmehr durch die
"ehrfurchtsvolle" Widmung an Keller offen bekannt; allein er hat auch ein Recht
darauf, sich als ein Original, wenn auch immer in seinen wahren und nicht
parteiisch verkannten Grenzen, gewürdigt zu sehen.

Auf ein solches Urphänomen in der Natur Hans Hoffmanns führt die
erste Novelle des neuen Bandes: "Die Weinprobe," sofern man nur zum Ver¬
gleich die den ersten Band seiner Novellen "Unter blauem Himmel" eröffnende
Skizze "Der faule Beppo" heranzieht. Das heitere Thema der "Weinprobe"
ist wieder die lasterhaft-göttliche Faulheit. Der venezianische Prälat Marsilio
ist gleich ein Typus derselben. "Es ist keineswegs vernünftig -- Pflegte er zu
sagen --, daß jedermann sich mit schwerer Arbeit abmühe und seine Kraft ver¬
zehre; denn jegliche Arbeit ist nicht um ihrer selbst willen gut und löblich,
sondern um eines Zieles willen; wenn aber jedermann arbeitete und niemand
wäre, der die Früchte dieser Arbeit genösse, so ginge sie ihres Zieles verlustig
und wäre nichts als ein leeres Spiel, gleich dem Treiben der Kinder, die sich
jagen und abhetzen, ohne zu wissen warum, bloß um des Hetzens und Jagens
willen." Marsilio ist das Muster einer kontemplativ genußsrohen Natur: vor¬
nehm, reich gebildet, guten Herzens, aber auch ein wenig eitel und für Schmeichelei
sehr empfänglich, zumal wenn sie seinem (chimärischen) Fleiße gilt. Diese Art
Trägheit ist aber nirgends so sehr zu Hause als gerade bei dem phüakischen
Völklein auf Korfu, dem auch er entstammt. Schon die Natur des Eilandes
befördert diese bequeme Sinnesart; sie sorgt in reicher Fülle für die Bedürfnisse
der Menschen; sie ist so üppig fruchtbar, daß die Korfioten sich nicht die Mühe
zu geben brauchen, sorgfältig den Boden zu pflügen; die Ölbüume schütteln
sie gemütlich zur Erntezeit, daß die reifen Oliven herabfallen; als lächerlicher
Geizhals, als ein Esel geradezu erscheint ihnen derjenige, der sich die Arbeit
anstatt, den Baum zu erklettern, um die letzten Ölfrüchte aus den Zweigen zu
klopfen. Und noch von andrer Seite scheint die Natur der Trägheit der
Korfioten Vorschub zu leisten: Korfu ist als Landschaft gar so schön! Im
Grase unter dem Schatten der Olbciume hingestreckt zu liegen, das Bild der
üppigen Landschaft im goldigen Sonnenscheine in sich aufzusaugen, ist ein herr¬
licher Genuß. Ein Narr, der dies nicht thut, jede reichere Seele muß sich dem
Zauber dieser Herrlichkeit willenlos hingeben. Dies also ist das Thema der
Novelle, welches mit reicher Kunst und köstlicher Grazie in einer heitern Hand¬
lung ausgetragen wird. Gleich einer wohlabgestuften Tonleiter ordnen sich die
Gestalten um die Trägheit und ihr Gegenteil als den idealen Mittelpunkt der
Geschichte. Das ganze Dorf Gasturt auf Korfu wird dnrch den Besuch des
Prälaten Marsilio in Bewegung gebracht. Er will ein herrlich schönes Mädchen


Geschichten aus Rorfu.

bezeichnen, weil sich in der Tonart seiner Ironie und in seiner vortrefflichen
Prosa die Verwandtschaft mit dem Staatsschreiber von Zürich offenbart. Daß
Hans Hoffmann die „Sieben Legenden" und die „Leute von Seldwyla"
mit Nutzen gelesen hat, bestreitet er selbst nicht, er hat es vielmehr durch die
„ehrfurchtsvolle" Widmung an Keller offen bekannt; allein er hat auch ein Recht
darauf, sich als ein Original, wenn auch immer in seinen wahren und nicht
parteiisch verkannten Grenzen, gewürdigt zu sehen.

Auf ein solches Urphänomen in der Natur Hans Hoffmanns führt die
erste Novelle des neuen Bandes: „Die Weinprobe," sofern man nur zum Ver¬
gleich die den ersten Band seiner Novellen „Unter blauem Himmel" eröffnende
Skizze „Der faule Beppo" heranzieht. Das heitere Thema der „Weinprobe"
ist wieder die lasterhaft-göttliche Faulheit. Der venezianische Prälat Marsilio
ist gleich ein Typus derselben. „Es ist keineswegs vernünftig — Pflegte er zu
sagen —, daß jedermann sich mit schwerer Arbeit abmühe und seine Kraft ver¬
zehre; denn jegliche Arbeit ist nicht um ihrer selbst willen gut und löblich,
sondern um eines Zieles willen; wenn aber jedermann arbeitete und niemand
wäre, der die Früchte dieser Arbeit genösse, so ginge sie ihres Zieles verlustig
und wäre nichts als ein leeres Spiel, gleich dem Treiben der Kinder, die sich
jagen und abhetzen, ohne zu wissen warum, bloß um des Hetzens und Jagens
willen." Marsilio ist das Muster einer kontemplativ genußsrohen Natur: vor¬
nehm, reich gebildet, guten Herzens, aber auch ein wenig eitel und für Schmeichelei
sehr empfänglich, zumal wenn sie seinem (chimärischen) Fleiße gilt. Diese Art
Trägheit ist aber nirgends so sehr zu Hause als gerade bei dem phüakischen
Völklein auf Korfu, dem auch er entstammt. Schon die Natur des Eilandes
befördert diese bequeme Sinnesart; sie sorgt in reicher Fülle für die Bedürfnisse
der Menschen; sie ist so üppig fruchtbar, daß die Korfioten sich nicht die Mühe
zu geben brauchen, sorgfältig den Boden zu pflügen; die Ölbüume schütteln
sie gemütlich zur Erntezeit, daß die reifen Oliven herabfallen; als lächerlicher
Geizhals, als ein Esel geradezu erscheint ihnen derjenige, der sich die Arbeit
anstatt, den Baum zu erklettern, um die letzten Ölfrüchte aus den Zweigen zu
klopfen. Und noch von andrer Seite scheint die Natur der Trägheit der
Korfioten Vorschub zu leisten: Korfu ist als Landschaft gar so schön! Im
Grase unter dem Schatten der Olbciume hingestreckt zu liegen, das Bild der
üppigen Landschaft im goldigen Sonnenscheine in sich aufzusaugen, ist ein herr¬
licher Genuß. Ein Narr, der dies nicht thut, jede reichere Seele muß sich dem
Zauber dieser Herrlichkeit willenlos hingeben. Dies also ist das Thema der
Novelle, welches mit reicher Kunst und köstlicher Grazie in einer heitern Hand¬
lung ausgetragen wird. Gleich einer wohlabgestuften Tonleiter ordnen sich die
Gestalten um die Trägheit und ihr Gegenteil als den idealen Mittelpunkt der
Geschichte. Das ganze Dorf Gasturt auf Korfu wird dnrch den Besuch des
Prälaten Marsilio in Bewegung gebracht. Er will ein herrlich schönes Mädchen


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[0637] Geschichten aus Rorfu. bezeichnen, weil sich in der Tonart seiner Ironie und in seiner vortrefflichen Prosa die Verwandtschaft mit dem Staatsschreiber von Zürich offenbart. Daß Hans Hoffmann die „Sieben Legenden" und die „Leute von Seldwyla" mit Nutzen gelesen hat, bestreitet er selbst nicht, er hat es vielmehr durch die „ehrfurchtsvolle" Widmung an Keller offen bekannt; allein er hat auch ein Recht darauf, sich als ein Original, wenn auch immer in seinen wahren und nicht parteiisch verkannten Grenzen, gewürdigt zu sehen. Auf ein solches Urphänomen in der Natur Hans Hoffmanns führt die erste Novelle des neuen Bandes: „Die Weinprobe," sofern man nur zum Ver¬ gleich die den ersten Band seiner Novellen „Unter blauem Himmel" eröffnende Skizze „Der faule Beppo" heranzieht. Das heitere Thema der „Weinprobe" ist wieder die lasterhaft-göttliche Faulheit. Der venezianische Prälat Marsilio ist gleich ein Typus derselben. „Es ist keineswegs vernünftig — Pflegte er zu sagen —, daß jedermann sich mit schwerer Arbeit abmühe und seine Kraft ver¬ zehre; denn jegliche Arbeit ist nicht um ihrer selbst willen gut und löblich, sondern um eines Zieles willen; wenn aber jedermann arbeitete und niemand wäre, der die Früchte dieser Arbeit genösse, so ginge sie ihres Zieles verlustig und wäre nichts als ein leeres Spiel, gleich dem Treiben der Kinder, die sich jagen und abhetzen, ohne zu wissen warum, bloß um des Hetzens und Jagens willen." Marsilio ist das Muster einer kontemplativ genußsrohen Natur: vor¬ nehm, reich gebildet, guten Herzens, aber auch ein wenig eitel und für Schmeichelei sehr empfänglich, zumal wenn sie seinem (chimärischen) Fleiße gilt. Diese Art Trägheit ist aber nirgends so sehr zu Hause als gerade bei dem phüakischen Völklein auf Korfu, dem auch er entstammt. Schon die Natur des Eilandes befördert diese bequeme Sinnesart; sie sorgt in reicher Fülle für die Bedürfnisse der Menschen; sie ist so üppig fruchtbar, daß die Korfioten sich nicht die Mühe zu geben brauchen, sorgfältig den Boden zu pflügen; die Ölbüume schütteln sie gemütlich zur Erntezeit, daß die reifen Oliven herabfallen; als lächerlicher Geizhals, als ein Esel geradezu erscheint ihnen derjenige, der sich die Arbeit anstatt, den Baum zu erklettern, um die letzten Ölfrüchte aus den Zweigen zu klopfen. Und noch von andrer Seite scheint die Natur der Trägheit der Korfioten Vorschub zu leisten: Korfu ist als Landschaft gar so schön! Im Grase unter dem Schatten der Olbciume hingestreckt zu liegen, das Bild der üppigen Landschaft im goldigen Sonnenscheine in sich aufzusaugen, ist ein herr¬ licher Genuß. Ein Narr, der dies nicht thut, jede reichere Seele muß sich dem Zauber dieser Herrlichkeit willenlos hingeben. Dies also ist das Thema der Novelle, welches mit reicher Kunst und köstlicher Grazie in einer heitern Hand¬ lung ausgetragen wird. Gleich einer wohlabgestuften Tonleiter ordnen sich die Gestalten um die Trägheit und ihr Gegenteil als den idealen Mittelpunkt der Geschichte. Das ganze Dorf Gasturt auf Korfu wird dnrch den Besuch des Prälaten Marsilio in Bewegung gebracht. Er will ein herrlich schönes Mädchen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/637>, abgerufen am 25.08.2024.