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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Die politische Lage am Jahresschlusse.

Eine schwere Prüfung bedroht uns überdies in der Krankheit des deutschen
Kronprinzen, dessen Schicksal selbst bei den uns feindlichen Völkern das tiefste
Mitgefühl erregt. Die Frage, ob der Kronprinz Friedrich Wilhelm zur Re¬
gierung kommen und bis zu einem hohen Alter die Geschicke des Reiches und
Preußens zu leiten berufen sein wird, ist von hoher politischer Bedeutung.
Nächst dem Kaiser ist der Kronprinz am meisten mit der Einigkeit Deutschlands
verbunden; er hat sie auf den Schlachtfeldern erringen helfen, und unter seiner
Führung haben die siegreichen Söhne ans allen Volksstümmen den gemein¬
schaftlichen Erbfeind niedergeworfen. Eine reiche Lebenserfahrung würde seiner
Regierung eine sichere Grundlage geben, von der jeder Teil der Nation für
sich nur Gutes erhoffen kann. Mit bangem Herzen blicken wir in das neue
Jahr, denn auf die Frage, ob das Leben des Kronprinzen uns lange erhalten
werden kann, giebt es keine sichere Antwort.

Aber bei aller Sorge und allem Zweifel ist doch kein Grund zum Verzage";
noch treibt der Hohenzollernstamm reiche Zweige, und der jugendlich frische und
pflichteifrige Prinz Wilhelm giebt die Gewähr, daß er ein echter Sohn seiner
Ahnen ist und ein kräftiger und gerechter Herrscher für sein Volk sein wird.
Angesichts unsrer äußern Lage gilt es freilich, mehr denn je im Innern fest
und einig zusammenzustehen. Wer es gut mit dem Vaterlande meint, der muß
von einer Verfolgung einseitiger Interessen absehen. Jeder muß auch die Re¬
signation üben, von Zielen und Mitteln abzulassen, welche uns nicht verbinden,
sondern trennen. Gegenüber den von der Sozialdemokratie bearbeiteten Volks¬
massen gilt es, das gesamte Bürgertum einig zusammenzuhalten, alle Kräfte zu
sammeln und alle Mittel auf die Abwehr der den Umsturz drohenden Gewalten
zu verwenden.

Jede Richtung, welche sich von diesem gemeinsamen Wege trennt, muß
vermiede" werden, und es ist die Aufgabe aller Parteien, sich solcher Teile zu
entledigen, welche sich von den gemeinsamen Zielen losmachen. Es ist für
unser Staatsleben ein großer Gewinn, daß der Kulturkampf beendet ist, und
daß nicht mehr religiöse Fragen dazu benutzt werden können, Zwietracht in das
Volk zu tragen. Die religiöse Gesinnung im Volke ist eine große Macht und
eine feste Grundlage, aber sie muß aus sich selbst heraus wachsen und nicht
durch äußere Mittel oder in zelotischer Weise gefördert werden. Gerade der
Protestantismus widerstrebt am meisten einem solchen Einfluß, gerade er will
die religiöse Überzeugung rein erhalten und nicht mit politischen und sozialen
Fragen verquickt sehen. Man hüte sich daher vor solcher Verquickung und be¬
gnüge sich das Bündnis der Parteien zu erhalten, welche sich frei von allen
religiösen Trennungen zusammengefunden haben, um auf den politischen und
wirtschaftlichen Gebieten die gemeinsamen Gegner zu bekämpfen. Jede Partei
hat bei diesem Zusammenwirken Opfer zu bringen, aber ans diesen Opfern kann
ein Band erwachsen, welches das Reich kräftigt und in jedem das freudige Ge-


Die politische Lage am Jahresschlusse.

Eine schwere Prüfung bedroht uns überdies in der Krankheit des deutschen
Kronprinzen, dessen Schicksal selbst bei den uns feindlichen Völkern das tiefste
Mitgefühl erregt. Die Frage, ob der Kronprinz Friedrich Wilhelm zur Re¬
gierung kommen und bis zu einem hohen Alter die Geschicke des Reiches und
Preußens zu leiten berufen sein wird, ist von hoher politischer Bedeutung.
Nächst dem Kaiser ist der Kronprinz am meisten mit der Einigkeit Deutschlands
verbunden; er hat sie auf den Schlachtfeldern erringen helfen, und unter seiner
Führung haben die siegreichen Söhne ans allen Volksstümmen den gemein¬
schaftlichen Erbfeind niedergeworfen. Eine reiche Lebenserfahrung würde seiner
Regierung eine sichere Grundlage geben, von der jeder Teil der Nation für
sich nur Gutes erhoffen kann. Mit bangem Herzen blicken wir in das neue
Jahr, denn auf die Frage, ob das Leben des Kronprinzen uns lange erhalten
werden kann, giebt es keine sichere Antwort.

Aber bei aller Sorge und allem Zweifel ist doch kein Grund zum Verzage»;
noch treibt der Hohenzollernstamm reiche Zweige, und der jugendlich frische und
pflichteifrige Prinz Wilhelm giebt die Gewähr, daß er ein echter Sohn seiner
Ahnen ist und ein kräftiger und gerechter Herrscher für sein Volk sein wird.
Angesichts unsrer äußern Lage gilt es freilich, mehr denn je im Innern fest
und einig zusammenzustehen. Wer es gut mit dem Vaterlande meint, der muß
von einer Verfolgung einseitiger Interessen absehen. Jeder muß auch die Re¬
signation üben, von Zielen und Mitteln abzulassen, welche uns nicht verbinden,
sondern trennen. Gegenüber den von der Sozialdemokratie bearbeiteten Volks¬
massen gilt es, das gesamte Bürgertum einig zusammenzuhalten, alle Kräfte zu
sammeln und alle Mittel auf die Abwehr der den Umsturz drohenden Gewalten
zu verwenden.

Jede Richtung, welche sich von diesem gemeinsamen Wege trennt, muß
vermiede» werden, und es ist die Aufgabe aller Parteien, sich solcher Teile zu
entledigen, welche sich von den gemeinsamen Zielen losmachen. Es ist für
unser Staatsleben ein großer Gewinn, daß der Kulturkampf beendet ist, und
daß nicht mehr religiöse Fragen dazu benutzt werden können, Zwietracht in das
Volk zu tragen. Die religiöse Gesinnung im Volke ist eine große Macht und
eine feste Grundlage, aber sie muß aus sich selbst heraus wachsen und nicht
durch äußere Mittel oder in zelotischer Weise gefördert werden. Gerade der
Protestantismus widerstrebt am meisten einem solchen Einfluß, gerade er will
die religiöse Überzeugung rein erhalten und nicht mit politischen und sozialen
Fragen verquickt sehen. Man hüte sich daher vor solcher Verquickung und be¬
gnüge sich das Bündnis der Parteien zu erhalten, welche sich frei von allen
religiösen Trennungen zusammengefunden haben, um auf den politischen und
wirtschaftlichen Gebieten die gemeinsamen Gegner zu bekämpfen. Jede Partei
hat bei diesem Zusammenwirken Opfer zu bringen, aber ans diesen Opfern kann
ein Band erwachsen, welches das Reich kräftigt und in jedem das freudige Ge-


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[0622] Die politische Lage am Jahresschlusse. Eine schwere Prüfung bedroht uns überdies in der Krankheit des deutschen Kronprinzen, dessen Schicksal selbst bei den uns feindlichen Völkern das tiefste Mitgefühl erregt. Die Frage, ob der Kronprinz Friedrich Wilhelm zur Re¬ gierung kommen und bis zu einem hohen Alter die Geschicke des Reiches und Preußens zu leiten berufen sein wird, ist von hoher politischer Bedeutung. Nächst dem Kaiser ist der Kronprinz am meisten mit der Einigkeit Deutschlands verbunden; er hat sie auf den Schlachtfeldern erringen helfen, und unter seiner Führung haben die siegreichen Söhne ans allen Volksstümmen den gemein¬ schaftlichen Erbfeind niedergeworfen. Eine reiche Lebenserfahrung würde seiner Regierung eine sichere Grundlage geben, von der jeder Teil der Nation für sich nur Gutes erhoffen kann. Mit bangem Herzen blicken wir in das neue Jahr, denn auf die Frage, ob das Leben des Kronprinzen uns lange erhalten werden kann, giebt es keine sichere Antwort. Aber bei aller Sorge und allem Zweifel ist doch kein Grund zum Verzage»; noch treibt der Hohenzollernstamm reiche Zweige, und der jugendlich frische und pflichteifrige Prinz Wilhelm giebt die Gewähr, daß er ein echter Sohn seiner Ahnen ist und ein kräftiger und gerechter Herrscher für sein Volk sein wird. Angesichts unsrer äußern Lage gilt es freilich, mehr denn je im Innern fest und einig zusammenzustehen. Wer es gut mit dem Vaterlande meint, der muß von einer Verfolgung einseitiger Interessen absehen. Jeder muß auch die Re¬ signation üben, von Zielen und Mitteln abzulassen, welche uns nicht verbinden, sondern trennen. Gegenüber den von der Sozialdemokratie bearbeiteten Volks¬ massen gilt es, das gesamte Bürgertum einig zusammenzuhalten, alle Kräfte zu sammeln und alle Mittel auf die Abwehr der den Umsturz drohenden Gewalten zu verwenden. Jede Richtung, welche sich von diesem gemeinsamen Wege trennt, muß vermiede» werden, und es ist die Aufgabe aller Parteien, sich solcher Teile zu entledigen, welche sich von den gemeinsamen Zielen losmachen. Es ist für unser Staatsleben ein großer Gewinn, daß der Kulturkampf beendet ist, und daß nicht mehr religiöse Fragen dazu benutzt werden können, Zwietracht in das Volk zu tragen. Die religiöse Gesinnung im Volke ist eine große Macht und eine feste Grundlage, aber sie muß aus sich selbst heraus wachsen und nicht durch äußere Mittel oder in zelotischer Weise gefördert werden. Gerade der Protestantismus widerstrebt am meisten einem solchen Einfluß, gerade er will die religiöse Überzeugung rein erhalten und nicht mit politischen und sozialen Fragen verquickt sehen. Man hüte sich daher vor solcher Verquickung und be¬ gnüge sich das Bündnis der Parteien zu erhalten, welche sich frei von allen religiösen Trennungen zusammengefunden haben, um auf den politischen und wirtschaftlichen Gebieten die gemeinsamen Gegner zu bekämpfen. Jede Partei hat bei diesem Zusammenwirken Opfer zu bringen, aber ans diesen Opfern kann ein Band erwachsen, welches das Reich kräftigt und in jedem das freudige Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/622>, abgerufen am 22.07.2024.