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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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gellen wäre, daß noch eine Kleinigkeit an dem Grabe zu thun sei und daß
er sich deswegen nur noch schnell einmal darnach umsehen wolle. Das rettete
das Geheimnis, und nun war es sicher.

In der hintersten Stube, in der die Mutter und Tippe früher geschlafen
hatten, herrschte, während der alte Jens seinen stillen Gang zu den Toten
ging, reges Leben und Geschäftigkeit.

Die Mutter des Knaben kam in fliegender Eile gelaufen und sagte, daß
sie sich die Zeit wirklich hätte abstehlen müssen, deswegen wollten sie sie nun
auch gehörig ausnutzen. Einen reizenden kleinen Tannenbaum hatte sie schon
im voraus aus dem Vorrat des alten Totengräbers ausgewählt. Er war
eigentlich zum Schmuck der Gräber bestimmt, aber das schadete nichts; jetzt
ward er in einen Kübel gesetzt und war nun der schönste kleine Weihnachtsbaum
geworden. Und aus dem Korbe, den sie mitgebracht hatte, kamen Tuten und
Lichter zum Vorschein, und Tippe half ihr, diese aufzuhängen. Wie das dem
alten Jens schmecken sollte! Wie sich seine alten Augen darüber freuen würden!

Aber die Weihnachtsgeschenke lieferte Tippe selber: es waren seine eignen,
die er im vorigen Jahre von der Mutter zu Weihnachten bekommen hatte.
Er war ja ein ordentlicher kleiner Junge, der seine Sachen in Acht nahm, und
deswegen hatte er jetzt auch etwas zu verschenken.

Was wohl der alte Jens sagen wird, wenn er all die Herrlichkeiten sieht!
meinte der kleine Tippe, als sie fertig waren und er das Ganze voller Be¬
wunderung betrachtete.

Ja, der wird sich freuen! erwiederte die Mutter des Knaben. Aber nun
muß ich laufen, ich muß ja noch den Tannenbaum für meinen kleinen Jungen
aufputzen! Aber sobald es dunkel wird, schleiche ich mich leise herüber; doch
dann sehe ich dich nicht, denn es soll ja eine Überraschung werden und darum
will ich dir nur gleich jetzt dein Weihnachtsgeschenk geben.

Aber der Tannenbaum und alles andre ist ja für den alten Jens! sagte
Tippe sehr bestimmt. Ich selber will ja gar nichts haben.

Es ist auch nur das Geschenk einer Mutter für ihren kleinen Jungen.
Sie hat mir gesagt, daß ich gegen dich sein sollte, wie ich möchte, daß eine
Mutter gegen meinen kleinen Jungen wäre, wenn ich einmal gestorben wäre!

Und ehe er sich versah, hatte sie ihn in ihre Arme genommen und ihn
geküßt, und dann war sie fort und Tippe stand allein da. Und nun war alles
fertig, es brauchte nur noch dunkel zu werden, dann konnte es in seinem ganzen
Glänze dastehen.

Ach, wenn es doch erst dunkel wäre! dachte Tippe. Aber noch war die
Sonne draußen nicht untergegangen, und je mehr sie sich dem Horizonte näherte,
desto Heller fielen ihre Strahlen ins Zimmer, als würde es ihr schwer, sich
von dem schönen Tannenbäume zu trennen. Auch dem kleinen Tippe wurde
es sehr schwer, aber es mußte ja sein, denn der alte Jens konnte jeden Augen-


gellen wäre, daß noch eine Kleinigkeit an dem Grabe zu thun sei und daß
er sich deswegen nur noch schnell einmal darnach umsehen wolle. Das rettete
das Geheimnis, und nun war es sicher.

In der hintersten Stube, in der die Mutter und Tippe früher geschlafen
hatten, herrschte, während der alte Jens seinen stillen Gang zu den Toten
ging, reges Leben und Geschäftigkeit.

Die Mutter des Knaben kam in fliegender Eile gelaufen und sagte, daß
sie sich die Zeit wirklich hätte abstehlen müssen, deswegen wollten sie sie nun
auch gehörig ausnutzen. Einen reizenden kleinen Tannenbaum hatte sie schon
im voraus aus dem Vorrat des alten Totengräbers ausgewählt. Er war
eigentlich zum Schmuck der Gräber bestimmt, aber das schadete nichts; jetzt
ward er in einen Kübel gesetzt und war nun der schönste kleine Weihnachtsbaum
geworden. Und aus dem Korbe, den sie mitgebracht hatte, kamen Tuten und
Lichter zum Vorschein, und Tippe half ihr, diese aufzuhängen. Wie das dem
alten Jens schmecken sollte! Wie sich seine alten Augen darüber freuen würden!

Aber die Weihnachtsgeschenke lieferte Tippe selber: es waren seine eignen,
die er im vorigen Jahre von der Mutter zu Weihnachten bekommen hatte.
Er war ja ein ordentlicher kleiner Junge, der seine Sachen in Acht nahm, und
deswegen hatte er jetzt auch etwas zu verschenken.

Was wohl der alte Jens sagen wird, wenn er all die Herrlichkeiten sieht!
meinte der kleine Tippe, als sie fertig waren und er das Ganze voller Be¬
wunderung betrachtete.

Ja, der wird sich freuen! erwiederte die Mutter des Knaben. Aber nun
muß ich laufen, ich muß ja noch den Tannenbaum für meinen kleinen Jungen
aufputzen! Aber sobald es dunkel wird, schleiche ich mich leise herüber; doch
dann sehe ich dich nicht, denn es soll ja eine Überraschung werden und darum
will ich dir nur gleich jetzt dein Weihnachtsgeschenk geben.

Aber der Tannenbaum und alles andre ist ja für den alten Jens! sagte
Tippe sehr bestimmt. Ich selber will ja gar nichts haben.

Es ist auch nur das Geschenk einer Mutter für ihren kleinen Jungen.
Sie hat mir gesagt, daß ich gegen dich sein sollte, wie ich möchte, daß eine
Mutter gegen meinen kleinen Jungen wäre, wenn ich einmal gestorben wäre!

Und ehe er sich versah, hatte sie ihn in ihre Arme genommen und ihn
geküßt, und dann war sie fort und Tippe stand allein da. Und nun war alles
fertig, es brauchte nur noch dunkel zu werden, dann konnte es in seinem ganzen
Glänze dastehen.

Ach, wenn es doch erst dunkel wäre! dachte Tippe. Aber noch war die
Sonne draußen nicht untergegangen, und je mehr sie sich dem Horizonte näherte,
desto Heller fielen ihre Strahlen ins Zimmer, als würde es ihr schwer, sich
von dem schönen Tannenbäume zu trennen. Auch dem kleinen Tippe wurde
es sehr schwer, aber es mußte ja sein, denn der alte Jens konnte jeden Augen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/608>, abgerufen am 22.07.2024.