Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Gevatter Tod.

und wegbleiben könnte. Sie war ja nur eine alte Witwe, die seit vielen, vielen
Jahren in der Ofenecke ans dem Altenteil gesessen hatte.

Und als der Mittag vor dem Weihnachtsabend kam, saß der alte Jens
wieder daheim in seiner Stube bei Tippe, und plötzlich beugte er seinen Kopf
herab und barg sein Antlitz in beiden Händen.

Weinst du, alter Jens? Das mußt du nicht thun! ertönte eine bittende
Stimme neben ihm, nachdem er eine Weile so dagesessen hatte.

Der alte Jens nahm seine Hände vor dem Gesicht weg und schlang sie
um Tippe, der vor ihm stand und ihn durch Thränen lächelnd ansah, denn er
konnte nicht recht verstehen, wie jemand an einem solchen Tage betrübt sein
konnte.

Du sollst dich ja freuen, alter Jens. Und du darfst nicht traurig sein!
Sollst du jemand begraben, den du sehr lieb hast?

Ja was nützt das, wenn ich dir's erzähle, kleiner Tippe, du kannst es ja
doch nicht verstehen! antwortete der alte Jens leise. Ja, ich habe ein Grab
für sie gegraben, die mir das Liebste auf Erden gewesen ist!

War das deine Mutter? fragte Tippe leise und schmiegte sich fester an ihn.

Nein, kleiner Tippe! lautete die Antwort des Alten. Und der liebe Gott
weiß, daß mir niemand in meinem ganzen Leben einen größeren Schmerz zu¬
gefügt hat als sie.

Bist du ihr deun böse, weil sie dir einen so großen Schmerz zugefügt
hat? fragte Tippe wieder, und der alte Jens schüttelte wehmütig den Kopf,
und Tippe fuhr fort: Warum bist du ihr denn nicht böse?

Das kommt alles durch den Tod, Tippe! antwortete der alte Jens mit
denselben Worten, die er schon einmal gebraucht hatte. Es ist nun einmal so,
daß man an einem Menschen, so lange er lebt, stets unendlich viel auszusetzen
hat, ist er aber erst gestorben, dann kann man nichts Böses mehr an ihm ent¬
decken. Der Tod ist ein guter Mann, der nimmt all das Schlechte fort und
läßt nur das Gute zurück.

Tippe stand eine Weile regungslos da und dachte über das eben gehörte
nach. Daun klärte sich sein kleines Gesicht plötzlich auf. Er legte seine Hand
auf das Knie des alten Jens und sagte: Dann hat sie also Gott ans beide
Augen geküßt, daß sie die Herrlichkeit des Himmels schauen kann. Das hat
die Mutter mir selber erzählt. Und du brauchst nicht mehr traurig zu sein,
du kannst mir glauben, heute Abend wirst du dich noch freuen! O, wie wirst
du dich freuen!

Und Tippe preßte die Hände zusammen in seinem unaussprechlichen Glück,
und der alte Jens sah ihn mit einem Blicke an, der förmlich strahlte. Und
sicher hätte es schlimm ausgesehen um das Geheimnis, welches Tippe und die
Mutter des Knaben mit einander hatten, wenn sich nicht in demselben Augen¬
blick die Augen des alten Jens mit Thränen gefüllt hätten und es ihm ein-


Gevatter Tod.

und wegbleiben könnte. Sie war ja nur eine alte Witwe, die seit vielen, vielen
Jahren in der Ofenecke ans dem Altenteil gesessen hatte.

Und als der Mittag vor dem Weihnachtsabend kam, saß der alte Jens
wieder daheim in seiner Stube bei Tippe, und plötzlich beugte er seinen Kopf
herab und barg sein Antlitz in beiden Händen.

Weinst du, alter Jens? Das mußt du nicht thun! ertönte eine bittende
Stimme neben ihm, nachdem er eine Weile so dagesessen hatte.

Der alte Jens nahm seine Hände vor dem Gesicht weg und schlang sie
um Tippe, der vor ihm stand und ihn durch Thränen lächelnd ansah, denn er
konnte nicht recht verstehen, wie jemand an einem solchen Tage betrübt sein
konnte.

Du sollst dich ja freuen, alter Jens. Und du darfst nicht traurig sein!
Sollst du jemand begraben, den du sehr lieb hast?

Ja was nützt das, wenn ich dir's erzähle, kleiner Tippe, du kannst es ja
doch nicht verstehen! antwortete der alte Jens leise. Ja, ich habe ein Grab
für sie gegraben, die mir das Liebste auf Erden gewesen ist!

War das deine Mutter? fragte Tippe leise und schmiegte sich fester an ihn.

Nein, kleiner Tippe! lautete die Antwort des Alten. Und der liebe Gott
weiß, daß mir niemand in meinem ganzen Leben einen größeren Schmerz zu¬
gefügt hat als sie.

Bist du ihr deun böse, weil sie dir einen so großen Schmerz zugefügt
hat? fragte Tippe wieder, und der alte Jens schüttelte wehmütig den Kopf,
und Tippe fuhr fort: Warum bist du ihr denn nicht böse?

Das kommt alles durch den Tod, Tippe! antwortete der alte Jens mit
denselben Worten, die er schon einmal gebraucht hatte. Es ist nun einmal so,
daß man an einem Menschen, so lange er lebt, stets unendlich viel auszusetzen
hat, ist er aber erst gestorben, dann kann man nichts Böses mehr an ihm ent¬
decken. Der Tod ist ein guter Mann, der nimmt all das Schlechte fort und
läßt nur das Gute zurück.

Tippe stand eine Weile regungslos da und dachte über das eben gehörte
nach. Daun klärte sich sein kleines Gesicht plötzlich auf. Er legte seine Hand
auf das Knie des alten Jens und sagte: Dann hat sie also Gott ans beide
Augen geküßt, daß sie die Herrlichkeit des Himmels schauen kann. Das hat
die Mutter mir selber erzählt. Und du brauchst nicht mehr traurig zu sein,
du kannst mir glauben, heute Abend wirst du dich noch freuen! O, wie wirst
du dich freuen!

Und Tippe preßte die Hände zusammen in seinem unaussprechlichen Glück,
und der alte Jens sah ihn mit einem Blicke an, der förmlich strahlte. Und
sicher hätte es schlimm ausgesehen um das Geheimnis, welches Tippe und die
Mutter des Knaben mit einander hatten, wenn sich nicht in demselben Augen¬
blick die Augen des alten Jens mit Thränen gefüllt hätten und es ihm ein-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0607" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/202036"/>
          <fw type="header" place="top"> Gevatter Tod.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1741" prev="#ID_1740"> und wegbleiben könnte. Sie war ja nur eine alte Witwe, die seit vielen, vielen<lb/>
Jahren in der Ofenecke ans dem Altenteil gesessen hatte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1742"> Und als der Mittag vor dem Weihnachtsabend kam, saß der alte Jens<lb/>
wieder daheim in seiner Stube bei Tippe, und plötzlich beugte er seinen Kopf<lb/>
herab und barg sein Antlitz in beiden Händen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1743"> Weinst du, alter Jens? Das mußt du nicht thun! ertönte eine bittende<lb/>
Stimme neben ihm, nachdem er eine Weile so dagesessen hatte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1744"> Der alte Jens nahm seine Hände vor dem Gesicht weg und schlang sie<lb/>
um Tippe, der vor ihm stand und ihn durch Thränen lächelnd ansah, denn er<lb/>
konnte nicht recht verstehen, wie jemand an einem solchen Tage betrübt sein<lb/>
konnte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1745"> Du sollst dich ja freuen, alter Jens. Und du darfst nicht traurig sein!<lb/>
Sollst du jemand begraben, den du sehr lieb hast?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1746"> Ja was nützt das, wenn ich dir's erzähle, kleiner Tippe, du kannst es ja<lb/>
doch nicht verstehen! antwortete der alte Jens leise. Ja, ich habe ein Grab<lb/>
für sie gegraben, die mir das Liebste auf Erden gewesen ist!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1747"> War das deine Mutter? fragte Tippe leise und schmiegte sich fester an ihn.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1748"> Nein, kleiner Tippe! lautete die Antwort des Alten. Und der liebe Gott<lb/>
weiß, daß mir niemand in meinem ganzen Leben einen größeren Schmerz zu¬<lb/>
gefügt hat als sie.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1749"> Bist du ihr deun böse, weil sie dir einen so großen Schmerz zugefügt<lb/>
hat? fragte Tippe wieder, und der alte Jens schüttelte wehmütig den Kopf,<lb/>
und Tippe fuhr fort: Warum bist du ihr denn nicht böse?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1750"> Das kommt alles durch den Tod, Tippe! antwortete der alte Jens mit<lb/>
denselben Worten, die er schon einmal gebraucht hatte. Es ist nun einmal so,<lb/>
daß man an einem Menschen, so lange er lebt, stets unendlich viel auszusetzen<lb/>
hat, ist er aber erst gestorben, dann kann man nichts Böses mehr an ihm ent¬<lb/>
decken. Der Tod ist ein guter Mann, der nimmt all das Schlechte fort und<lb/>
läßt nur das Gute zurück.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1751"> Tippe stand eine Weile regungslos da und dachte über das eben gehörte<lb/>
nach. Daun klärte sich sein kleines Gesicht plötzlich auf. Er legte seine Hand<lb/>
auf das Knie des alten Jens und sagte: Dann hat sie also Gott ans beide<lb/>
Augen geküßt, daß sie die Herrlichkeit des Himmels schauen kann. Das hat<lb/>
die Mutter mir selber erzählt. Und du brauchst nicht mehr traurig zu sein,<lb/>
du kannst mir glauben, heute Abend wirst du dich noch freuen! O, wie wirst<lb/>
du dich freuen!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1752" next="#ID_1753"> Und Tippe preßte die Hände zusammen in seinem unaussprechlichen Glück,<lb/>
und der alte Jens sah ihn mit einem Blicke an, der förmlich strahlte. Und<lb/>
sicher hätte es schlimm ausgesehen um das Geheimnis, welches Tippe und die<lb/>
Mutter des Knaben mit einander hatten, wenn sich nicht in demselben Augen¬<lb/>
blick die Augen des alten Jens mit Thränen gefüllt hätten und es ihm ein-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0607] Gevatter Tod. und wegbleiben könnte. Sie war ja nur eine alte Witwe, die seit vielen, vielen Jahren in der Ofenecke ans dem Altenteil gesessen hatte. Und als der Mittag vor dem Weihnachtsabend kam, saß der alte Jens wieder daheim in seiner Stube bei Tippe, und plötzlich beugte er seinen Kopf herab und barg sein Antlitz in beiden Händen. Weinst du, alter Jens? Das mußt du nicht thun! ertönte eine bittende Stimme neben ihm, nachdem er eine Weile so dagesessen hatte. Der alte Jens nahm seine Hände vor dem Gesicht weg und schlang sie um Tippe, der vor ihm stand und ihn durch Thränen lächelnd ansah, denn er konnte nicht recht verstehen, wie jemand an einem solchen Tage betrübt sein konnte. Du sollst dich ja freuen, alter Jens. Und du darfst nicht traurig sein! Sollst du jemand begraben, den du sehr lieb hast? Ja was nützt das, wenn ich dir's erzähle, kleiner Tippe, du kannst es ja doch nicht verstehen! antwortete der alte Jens leise. Ja, ich habe ein Grab für sie gegraben, die mir das Liebste auf Erden gewesen ist! War das deine Mutter? fragte Tippe leise und schmiegte sich fester an ihn. Nein, kleiner Tippe! lautete die Antwort des Alten. Und der liebe Gott weiß, daß mir niemand in meinem ganzen Leben einen größeren Schmerz zu¬ gefügt hat als sie. Bist du ihr deun böse, weil sie dir einen so großen Schmerz zugefügt hat? fragte Tippe wieder, und der alte Jens schüttelte wehmütig den Kopf, und Tippe fuhr fort: Warum bist du ihr denn nicht böse? Das kommt alles durch den Tod, Tippe! antwortete der alte Jens mit denselben Worten, die er schon einmal gebraucht hatte. Es ist nun einmal so, daß man an einem Menschen, so lange er lebt, stets unendlich viel auszusetzen hat, ist er aber erst gestorben, dann kann man nichts Böses mehr an ihm ent¬ decken. Der Tod ist ein guter Mann, der nimmt all das Schlechte fort und läßt nur das Gute zurück. Tippe stand eine Weile regungslos da und dachte über das eben gehörte nach. Daun klärte sich sein kleines Gesicht plötzlich auf. Er legte seine Hand auf das Knie des alten Jens und sagte: Dann hat sie also Gott ans beide Augen geküßt, daß sie die Herrlichkeit des Himmels schauen kann. Das hat die Mutter mir selber erzählt. Und du brauchst nicht mehr traurig zu sein, du kannst mir glauben, heute Abend wirst du dich noch freuen! O, wie wirst du dich freuen! Und Tippe preßte die Hände zusammen in seinem unaussprechlichen Glück, und der alte Jens sah ihn mit einem Blicke an, der förmlich strahlte. Und sicher hätte es schlimm ausgesehen um das Geheimnis, welches Tippe und die Mutter des Knaben mit einander hatten, wenn sich nicht in demselben Augen¬ blick die Augen des alten Jens mit Thränen gefüllt hätten und es ihm ein-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/607
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/607>, abgerufen am 22.07.2024.