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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Gevatter Tod.
Line Weihnachtsgeschichte von L. Butte. (Fortsetzung.)

ippc schlief ein und erwachte und schlief wieder ein und erwachte
abermals, und mit jedem male wurden seine Augen klarer, seine
Wangen rosiger.
Also er wird doch wieder besser, der kleine Bursche, sagten
die Leute im Dorfe. Wer Hütte das geglaubt, aber so ein junges
Leben ist ja zäh!

Der liebe Gott konnte nicht so hart gegen mich sein, dachte der alte Jens.

Und die Frau des Schulmeisters streichelte die Wangen des kleinen Tippe
und sagte: Wie gut und lieb er aussieht! Der Tod konnte es doch nicht übers
Herz bringen, ihn mitzunehmen, als es so weit war.

Jeder hatte seine eigne Erklärung, aber Tippe lag da und lächelte vor
sich hin, denn er wußte es doch am allerbesten. Selbst in seinen Fieberträumen
hatte er das große Geheimnis nicht vergessen, er hatte seine Auge" nicht ge¬
schlossen, und deswegen konnte der Tod ihn ja nicht holen. Das Geheimnis
hatte die Probe bestanden, und ein wonniges Gefühl der Sicherheit erfüllte ihn
beim Gedanken daran.

Und dann kam ein Tag, an welchem Tippe in ein ganzes Bündel von
Decken und Tüchern eingehüllt in dem alten Lehnstuhl am Fenster saß und sich
darüber wunderte, daß er, statt richtig auf seinen Beinen zu gehen, so dahin-
getaumelt war und daß sein Kopf so lose saß, als müßte er ihm abfallen.

Aber das nächste mal ging es schon besser, und so ward er von Tag zu
Tage immer sicherer, das taumlige Gefühl verlor sich mehr und mehr, bis
der alte Jens eines Tages im Spätherbst seine dicke Pelzmütze tief über Tippes
Ohren zog, ihm sein großes wollenes Tuch dreimal um seinen Hals schlang,


Grenzboten IV. 1887. 75


Gevatter Tod.
Line Weihnachtsgeschichte von L. Butte. (Fortsetzung.)

ippc schlief ein und erwachte und schlief wieder ein und erwachte
abermals, und mit jedem male wurden seine Augen klarer, seine
Wangen rosiger.
Also er wird doch wieder besser, der kleine Bursche, sagten
die Leute im Dorfe. Wer Hütte das geglaubt, aber so ein junges
Leben ist ja zäh!

Der liebe Gott konnte nicht so hart gegen mich sein, dachte der alte Jens.

Und die Frau des Schulmeisters streichelte die Wangen des kleinen Tippe
und sagte: Wie gut und lieb er aussieht! Der Tod konnte es doch nicht übers
Herz bringen, ihn mitzunehmen, als es so weit war.

Jeder hatte seine eigne Erklärung, aber Tippe lag da und lächelte vor
sich hin, denn er wußte es doch am allerbesten. Selbst in seinen Fieberträumen
hatte er das große Geheimnis nicht vergessen, er hatte seine Auge» nicht ge¬
schlossen, und deswegen konnte der Tod ihn ja nicht holen. Das Geheimnis
hatte die Probe bestanden, und ein wonniges Gefühl der Sicherheit erfüllte ihn
beim Gedanken daran.

Und dann kam ein Tag, an welchem Tippe in ein ganzes Bündel von
Decken und Tüchern eingehüllt in dem alten Lehnstuhl am Fenster saß und sich
darüber wunderte, daß er, statt richtig auf seinen Beinen zu gehen, so dahin-
getaumelt war und daß sein Kopf so lose saß, als müßte er ihm abfallen.

Aber das nächste mal ging es schon besser, und so ward er von Tag zu
Tage immer sicherer, das taumlige Gefühl verlor sich mehr und mehr, bis
der alte Jens eines Tages im Spätherbst seine dicke Pelzmütze tief über Tippes
Ohren zog, ihm sein großes wollenes Tuch dreimal um seinen Hals schlang,


Grenzboten IV. 1887. 75
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[0601] [Abbildung] Gevatter Tod. Line Weihnachtsgeschichte von L. Butte. (Fortsetzung.) ippc schlief ein und erwachte und schlief wieder ein und erwachte abermals, und mit jedem male wurden seine Augen klarer, seine Wangen rosiger. Also er wird doch wieder besser, der kleine Bursche, sagten die Leute im Dorfe. Wer Hütte das geglaubt, aber so ein junges Leben ist ja zäh! Der liebe Gott konnte nicht so hart gegen mich sein, dachte der alte Jens. Und die Frau des Schulmeisters streichelte die Wangen des kleinen Tippe und sagte: Wie gut und lieb er aussieht! Der Tod konnte es doch nicht übers Herz bringen, ihn mitzunehmen, als es so weit war. Jeder hatte seine eigne Erklärung, aber Tippe lag da und lächelte vor sich hin, denn er wußte es doch am allerbesten. Selbst in seinen Fieberträumen hatte er das große Geheimnis nicht vergessen, er hatte seine Auge» nicht ge¬ schlossen, und deswegen konnte der Tod ihn ja nicht holen. Das Geheimnis hatte die Probe bestanden, und ein wonniges Gefühl der Sicherheit erfüllte ihn beim Gedanken daran. Und dann kam ein Tag, an welchem Tippe in ein ganzes Bündel von Decken und Tüchern eingehüllt in dem alten Lehnstuhl am Fenster saß und sich darüber wunderte, daß er, statt richtig auf seinen Beinen zu gehen, so dahin- getaumelt war und daß sein Kopf so lose saß, als müßte er ihm abfallen. Aber das nächste mal ging es schon besser, und so ward er von Tag zu Tage immer sicherer, das taumlige Gefühl verlor sich mehr und mehr, bis der alte Jens eines Tages im Spätherbst seine dicke Pelzmütze tief über Tippes Ohren zog, ihm sein großes wollenes Tuch dreimal um seinen Hals schlang, Grenzboten IV. 1887. 75

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/601>, abgerufen am 22.07.2024.