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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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scheint er seinen Kultus für ein ausschließliches Vorrecht bevorzugter Geister zu
halten, und nicht zu ahnen, wie er den Dichter Goethe mit eben denselben Urteilen
schädigt, die er über ihn als aristokratischen Genius fällt. So sagt er: "Von
Goethes Dichtungen eignen sich nur wenige zum Jugendunterrichte, von Schiller
alles oder fast alles" (S. 168). Das geben wir nicht zu. Unsre Generation
hat in der Schule Götz, Egmont, Tasso, Iphigenie, Werther, die italienische
Reise, Hermann und Dorothea, Euphrosyne, die Balladen alle gelesen -- dies
genügt doch wohl für die erste Kenntnis Goethes. Und so macht Hehn der
Gegenwart auch einen andern grundlosen Vorwurf. Er preist Bischer und seine
Ästhetik, wie gebührlich, und sagt: "Wischers Ästhetik, begonnen noch vor dem
Jahre 1848, in elf Jahren vollendet, liegt nun bald seit dreißig, ja in einzelnen
Teilen seit bald vierzig Jahren dem Publikum vor, aber von einer zweiten
Auflage ist bis jetzt nichts zu hören gewesen." Warum? Hehn sagt, sie hätte
kein Publikum gefunden, so unsterblich sie auch sei. Die ganze literarische Welt
weiß aber, daß Bischer selbst sich einer zweiten Auflage trotz vielfacher Anträge
der Buchhändler widersetzte, und dies in seiner Selbstkritik der eignen Ästhetik
ausführlich begründete.

Doch genug des Widerspruchs. Es war uns nicht darum zu thun, nach
Art so vieler Kritiker in der Polemik gegen vereinzelte Irrtümer eines großen
Gelehrten das eigne Licht glänzen zu lassen -- über viele von Hehn berührte
Erscheinungen und Persönlichkeiten ist ja die Diskussion überhaupt noch nicht
geschlossen, hier dürfte noch jeder Gelehrte seine eigne Meinung haben --, sondern
nur um den Beweis für die gleich im Eingange dieses Aufsatzes erwähnte Ein¬
seitigkeit Hehns. In Wahrheit aber fühlen wir uns mit der Grundlage seines
kritischen Denkens vollkommen einverstanden.

Möge dem greisen Forscher die geistige Rüstigkeit bewahrt bleiben, auch den
angekündigten zweiten Teil seiner "Gedanken über Goethe" der Öffentlichkeit zu
übergeben. Denn in der Zeit, wo endlich des Altmeisters Werke in würdigem
Gewände der Nation übergeben werden, kann es keinen berufenem Führer zur
Erkenntnis des Goethischen Wesens geben, als Viktor Hehn, der mit der Be¬
geisterung für den Olympier auch die universale Bildung vereinigt, die Goethe,
um ganz klar erfaßt zu werden, von seinem Dolmetsch fordert.


Moritz Necker.


scheint er seinen Kultus für ein ausschließliches Vorrecht bevorzugter Geister zu
halten, und nicht zu ahnen, wie er den Dichter Goethe mit eben denselben Urteilen
schädigt, die er über ihn als aristokratischen Genius fällt. So sagt er: „Von
Goethes Dichtungen eignen sich nur wenige zum Jugendunterrichte, von Schiller
alles oder fast alles" (S. 168). Das geben wir nicht zu. Unsre Generation
hat in der Schule Götz, Egmont, Tasso, Iphigenie, Werther, die italienische
Reise, Hermann und Dorothea, Euphrosyne, die Balladen alle gelesen — dies
genügt doch wohl für die erste Kenntnis Goethes. Und so macht Hehn der
Gegenwart auch einen andern grundlosen Vorwurf. Er preist Bischer und seine
Ästhetik, wie gebührlich, und sagt: „Wischers Ästhetik, begonnen noch vor dem
Jahre 1848, in elf Jahren vollendet, liegt nun bald seit dreißig, ja in einzelnen
Teilen seit bald vierzig Jahren dem Publikum vor, aber von einer zweiten
Auflage ist bis jetzt nichts zu hören gewesen." Warum? Hehn sagt, sie hätte
kein Publikum gefunden, so unsterblich sie auch sei. Die ganze literarische Welt
weiß aber, daß Bischer selbst sich einer zweiten Auflage trotz vielfacher Anträge
der Buchhändler widersetzte, und dies in seiner Selbstkritik der eignen Ästhetik
ausführlich begründete.

Doch genug des Widerspruchs. Es war uns nicht darum zu thun, nach
Art so vieler Kritiker in der Polemik gegen vereinzelte Irrtümer eines großen
Gelehrten das eigne Licht glänzen zu lassen — über viele von Hehn berührte
Erscheinungen und Persönlichkeiten ist ja die Diskussion überhaupt noch nicht
geschlossen, hier dürfte noch jeder Gelehrte seine eigne Meinung haben —, sondern
nur um den Beweis für die gleich im Eingange dieses Aufsatzes erwähnte Ein¬
seitigkeit Hehns. In Wahrheit aber fühlen wir uns mit der Grundlage seines
kritischen Denkens vollkommen einverstanden.

Möge dem greisen Forscher die geistige Rüstigkeit bewahrt bleiben, auch den
angekündigten zweiten Teil seiner „Gedanken über Goethe" der Öffentlichkeit zu
übergeben. Denn in der Zeit, wo endlich des Altmeisters Werke in würdigem
Gewände der Nation übergeben werden, kann es keinen berufenem Führer zur
Erkenntnis des Goethischen Wesens geben, als Viktor Hehn, der mit der Be¬
geisterung für den Olympier auch die universale Bildung vereinigt, die Goethe,
um ganz klar erfaßt zu werden, von seinem Dolmetsch fordert.


Moritz Necker.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/600>, abgerufen am 22.07.2024.