Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.Viktor Hehns Gedanken über Goethe. veraltet. Den heftigen Widerspruch Lessings gegen den jungen Goethe stempelt Von andern Urteilen, denen wir nicht beipflichten können, wollen wir nicht Viktor Hehns Gedanken über Goethe. veraltet. Den heftigen Widerspruch Lessings gegen den jungen Goethe stempelt Von andern Urteilen, denen wir nicht beipflichten können, wollen wir nicht <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0599" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/202028"/> <fw type="header" place="top"> Viktor Hehns Gedanken über Goethe.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1687" prev="#ID_1686"> veraltet. Den heftigen Widerspruch Lessings gegen den jungen Goethe stempelt<lb/> Hehn geradezu zum sittlichen Verbrechen. Mit „Neid und Eifersucht" erklärt<lb/> er die Motive, welche Lessing gegen „Götz" und „Werther" in Harnisch brachten.<lb/> „Außer Besitz gesetzt zu werden, gefällt niemand, und Lessings ungemeine<lb/> Erbitterung, für die die andern allgemeinen Gründe nicht ganz ausreichen (?),<lb/> erklärt sich so am einfachsten" (S. 59). Und doch hat Hehn gerade am klarsten<lb/> das absolut Neue an Goethes Wesen nachgewiesen, wofür dem Rationalisten,<lb/> der eine zwecklose Schönheit gar nicht kannte, das Organ fehlen mußte. Wie<lb/> konnte also Lessing etwas beneiden, das er gar nicht in seinem vollen Werte zu<lb/> würdigen vermochte? Und ferner: hätte Goethe jemals so verehruugsvoll von<lb/> Lessing gesprochen, wie er es in Wahrheit immer gethan hat, wenn er dessen<lb/> Kritik als Neid empfunden hätte? Nein, hier spricht sich eine persönliche Ab¬<lb/> neigung gegen Lessing aus, ganz wie ihn die Romantiker gehaßt haben. Beweis<lb/> dafür ist folgendes Urteil über Lessing: „Er bedürfte solcher Gegner »le Klotz,<lb/> Götz u. ni.^, um seine Kraft zu zeigen, und gewährte sich gern in paradoxer<lb/> Sophistik den Genuß seiner Überlegenheit. .. . Wenn er sich gegen Jakobi als<lb/> Spinozisten bekannte, so war auch dies wohl nur Geistesspiel — denn sonst<lb/> wäre sein langer Umgang mit Moses Mendelssohn und den andern Freunden<lb/> nur eine fortgesetzte Heuchelei gewesen." (S. 12.) Angenommen selbst, Lessing<lb/> wäre von Kindesbeinen auf Spinozist gewesen — und die Wahrheit ist, daß er<lb/> es erst in seinen spätesten Jahren wurde, die er fern von Berlin und auch<lb/> etwas verschlossen gegen Mendelssohn zubrachte —, muß der Verkehr mit<lb/> Männern, die sich zu einer andern Metaphysik oder gar zu einem andern<lb/> Glauben bekennen, gleich als „Heuchelei" gescholten werden? Sind menschlich<lb/> warme Beziehungen ohne Rücksicht auf die Verschiedenheit der letzten philoso¬<lb/> phischen Überzeugungen nicht gestattet?</p><lb/> <p xml:id="ID_1688" next="#ID_1689"> Von andern Urteilen, denen wir nicht beipflichten können, wollen wir nicht<lb/> reden, sondern zum Schlüsse noch Hehns Urteil über das Verhältnis unsrer eignen<lb/> Zeit zu Goethe hervorheben. In der Aufzählung derjenigen, welche für das Ver¬<lb/> hältnis der Gegenwart zu Goethe von Wichtigkeit geworden sind, hat er Schopen¬<lb/> hauer mit Stillschweigen übergangen. Wir persönlich sind ja durchaus nicht dessen<lb/> Anhänger, aber ableugnen läßt sich sein Goethekultus auch nicht. Ebenso unge¬<lb/> recht erscheint uns das Übergehen Wilhelm Scherers, der jedenfalls viel dazu bei¬<lb/> getragen hat, daß der Vorwurf Hehns gegen unsre Zeit: „Goethe steht in der Ferne,<lb/> gleichsam am Rande des Horizonts, man läßt ihn gelten, ohne — wie vor einem<lb/> halben Jahrhundert — sich für oder wider ihn zu erhitzen" (S. 176) — nicht ernst¬<lb/> haft erhoben werden kann. Denn Thatsache ist es doch, daß Goethe heutzutage im<lb/> Mittelpunkte der germanistischen Studien steht, und das ist mit ein Verdienst Sche¬<lb/> rers. Hehn will die Gegenwart, der er so heftig zürnt, nicht kennen; es macht den<lb/> Eindruck, als ob er in einsamer Weltferne dahin lebte, den Träumen an eine verklärte<lb/> Vergangenheit hingegeben, keinem andern Gott als Goethe dienend. Und dabei</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0599]
Viktor Hehns Gedanken über Goethe.
veraltet. Den heftigen Widerspruch Lessings gegen den jungen Goethe stempelt
Hehn geradezu zum sittlichen Verbrechen. Mit „Neid und Eifersucht" erklärt
er die Motive, welche Lessing gegen „Götz" und „Werther" in Harnisch brachten.
„Außer Besitz gesetzt zu werden, gefällt niemand, und Lessings ungemeine
Erbitterung, für die die andern allgemeinen Gründe nicht ganz ausreichen (?),
erklärt sich so am einfachsten" (S. 59). Und doch hat Hehn gerade am klarsten
das absolut Neue an Goethes Wesen nachgewiesen, wofür dem Rationalisten,
der eine zwecklose Schönheit gar nicht kannte, das Organ fehlen mußte. Wie
konnte also Lessing etwas beneiden, das er gar nicht in seinem vollen Werte zu
würdigen vermochte? Und ferner: hätte Goethe jemals so verehruugsvoll von
Lessing gesprochen, wie er es in Wahrheit immer gethan hat, wenn er dessen
Kritik als Neid empfunden hätte? Nein, hier spricht sich eine persönliche Ab¬
neigung gegen Lessing aus, ganz wie ihn die Romantiker gehaßt haben. Beweis
dafür ist folgendes Urteil über Lessing: „Er bedürfte solcher Gegner »le Klotz,
Götz u. ni.^, um seine Kraft zu zeigen, und gewährte sich gern in paradoxer
Sophistik den Genuß seiner Überlegenheit. .. . Wenn er sich gegen Jakobi als
Spinozisten bekannte, so war auch dies wohl nur Geistesspiel — denn sonst
wäre sein langer Umgang mit Moses Mendelssohn und den andern Freunden
nur eine fortgesetzte Heuchelei gewesen." (S. 12.) Angenommen selbst, Lessing
wäre von Kindesbeinen auf Spinozist gewesen — und die Wahrheit ist, daß er
es erst in seinen spätesten Jahren wurde, die er fern von Berlin und auch
etwas verschlossen gegen Mendelssohn zubrachte —, muß der Verkehr mit
Männern, die sich zu einer andern Metaphysik oder gar zu einem andern
Glauben bekennen, gleich als „Heuchelei" gescholten werden? Sind menschlich
warme Beziehungen ohne Rücksicht auf die Verschiedenheit der letzten philoso¬
phischen Überzeugungen nicht gestattet?
Von andern Urteilen, denen wir nicht beipflichten können, wollen wir nicht
reden, sondern zum Schlüsse noch Hehns Urteil über das Verhältnis unsrer eignen
Zeit zu Goethe hervorheben. In der Aufzählung derjenigen, welche für das Ver¬
hältnis der Gegenwart zu Goethe von Wichtigkeit geworden sind, hat er Schopen¬
hauer mit Stillschweigen übergangen. Wir persönlich sind ja durchaus nicht dessen
Anhänger, aber ableugnen läßt sich sein Goethekultus auch nicht. Ebenso unge¬
recht erscheint uns das Übergehen Wilhelm Scherers, der jedenfalls viel dazu bei¬
getragen hat, daß der Vorwurf Hehns gegen unsre Zeit: „Goethe steht in der Ferne,
gleichsam am Rande des Horizonts, man läßt ihn gelten, ohne — wie vor einem
halben Jahrhundert — sich für oder wider ihn zu erhitzen" (S. 176) — nicht ernst¬
haft erhoben werden kann. Denn Thatsache ist es doch, daß Goethe heutzutage im
Mittelpunkte der germanistischen Studien steht, und das ist mit ein Verdienst Sche¬
rers. Hehn will die Gegenwart, der er so heftig zürnt, nicht kennen; es macht den
Eindruck, als ob er in einsamer Weltferne dahin lebte, den Träumen an eine verklärte
Vergangenheit hingegeben, keinem andern Gott als Goethe dienend. Und dabei
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