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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Viktor Hehns Gedanken über Goethe.

klarung; wir blicken in das Verhältnis zu Karl August, der im Grunde wenig
Sinn für die Poesie Goethes hatte und seinen französischen Geschmack bis ans
Ende (der Hund des Aubry!) beibehielt. Dann verschwindet Goethe nach dem
ersten Lärm, den er mit seinen tragischen und satirischen Gedichten gemacht hatte, von
der Tagesliteratur, die stillen Jahre in Weimar folgen; die Nation ist ausschlie߬
lich mit politischen Streitfragen beschäftigt. Frau von Stein treibt ihn leider
auch nicht zu seinem eigentlichen Lebensberufe, Frauen wissen nicht die Zeit zu
schätzen, wissenschaftliche Interessen, politische Thätigkeit nehmen Goethe ganz
ein, bis er nach Italien geht. Die Erzeugnisse aber, die er von dorther mit¬
bringt (Tasso, Iphigenie), finden in den Kreisen der Weimaraner kein Ver¬
ständnis, keine Sympathie, bis die Bekanntschaft mit Schiller Goethe aus der
Vereinsamung zieht und neue Schaffenslust in ihm erzeugt. Er beendet den ersten
Teil seines Faust. Hehn findet dabei Gelegenheit, geistvoll und treffend über
die Verschiedenheit des ursprünglich rein humoristisch geplanten Mephisto mit
dem spätern, der den Geist der Verneinung vorstellt, zu sprechen. Der Xenien-
kampf macht endlich der herrschenden, altersschwachen Aufklärung ein Ende.
Ein neues Geschlecht ist erstanden, das sich begeistert und mit Verständnis
an Goethe anschließt: das Geschlecht der Romantiker und der Philosophen.
A. W. Schlegel und der wqhlverwandte Geist Schellings haben Goethe nach
Schiller zuerst wieder verstanden. Um diese Zeit stand Goethes Ruhm am
höchsten. Aber die Romantik schlägt in Mystik um, Goethe ist ihr bald zu
modern, die Nazarener bekämpfen seinen lebensfroher, hellenischen Genius. In
Berlin bildet sich um die geistreichen Jüdinnen herum eine Goethegemeinde;
ihrem vorurteilsfreiere" Geiste war es beschieden, die Verehrung Goethes im
frommen Norden Deutschlands einzuführen. Die jüngere Romantik aber findet sich
mit Goethe widerwillig ab, ihr ist er einfach unbequem. Dann kommt die Zeit
der Julirevolution: Börne mit seiner fanatischen Demokratie haßt Goethe als
Aristokraten und gewinnt großen Anhang. Heines Verehrung Goethes erklärt
Hehn für "heuchlerisch," obgleich er der einzige unter den Jungdeutschen war,
der Goethes poetische Größe zu würdigen vermochte. Die andern Jung-
deutschen standen in Abhängigkeit von Paris; W. Menzel lud Schmach auf
sich durch seinen teutonischen Goethehaß; Gervinus bekundete sich als ein poesie¬
loser Liberaler, der mit seiner Literaturgeschichte mehr Schaden als Heil ge¬
stiftet hat; von den in der Stille thätigen Germanisten und Schwaben spricht
Hehn nicht. So kommt er"zu dem Schlüsse, daß niemals die Wertschätzung
Goethes tiefer gestanden habe, als gerade an seinem hundertsten Geburtstage, 1849.

Wir wollen hier einen Augenblick verweilen. Die Urteile Hehns sind zweifel¬
los in den meisten Fällen zutreffend. Allein wenn er vom Standpunkte seines roman¬
tischen Bekenntnisses den Rationalismus nicht genug verurteile" kann, so thut er
jedenfalls Unrecht. Heutzutage noch im Tone der jungen Schlegel und Tieck über
die Führer der Aufklärung, über Lessing und Nicolai zu sprechen, ist jedenfalls


Viktor Hehns Gedanken über Goethe.

klarung; wir blicken in das Verhältnis zu Karl August, der im Grunde wenig
Sinn für die Poesie Goethes hatte und seinen französischen Geschmack bis ans
Ende (der Hund des Aubry!) beibehielt. Dann verschwindet Goethe nach dem
ersten Lärm, den er mit seinen tragischen und satirischen Gedichten gemacht hatte, von
der Tagesliteratur, die stillen Jahre in Weimar folgen; die Nation ist ausschlie߬
lich mit politischen Streitfragen beschäftigt. Frau von Stein treibt ihn leider
auch nicht zu seinem eigentlichen Lebensberufe, Frauen wissen nicht die Zeit zu
schätzen, wissenschaftliche Interessen, politische Thätigkeit nehmen Goethe ganz
ein, bis er nach Italien geht. Die Erzeugnisse aber, die er von dorther mit¬
bringt (Tasso, Iphigenie), finden in den Kreisen der Weimaraner kein Ver¬
ständnis, keine Sympathie, bis die Bekanntschaft mit Schiller Goethe aus der
Vereinsamung zieht und neue Schaffenslust in ihm erzeugt. Er beendet den ersten
Teil seines Faust. Hehn findet dabei Gelegenheit, geistvoll und treffend über
die Verschiedenheit des ursprünglich rein humoristisch geplanten Mephisto mit
dem spätern, der den Geist der Verneinung vorstellt, zu sprechen. Der Xenien-
kampf macht endlich der herrschenden, altersschwachen Aufklärung ein Ende.
Ein neues Geschlecht ist erstanden, das sich begeistert und mit Verständnis
an Goethe anschließt: das Geschlecht der Romantiker und der Philosophen.
A. W. Schlegel und der wqhlverwandte Geist Schellings haben Goethe nach
Schiller zuerst wieder verstanden. Um diese Zeit stand Goethes Ruhm am
höchsten. Aber die Romantik schlägt in Mystik um, Goethe ist ihr bald zu
modern, die Nazarener bekämpfen seinen lebensfroher, hellenischen Genius. In
Berlin bildet sich um die geistreichen Jüdinnen herum eine Goethegemeinde;
ihrem vorurteilsfreiere» Geiste war es beschieden, die Verehrung Goethes im
frommen Norden Deutschlands einzuführen. Die jüngere Romantik aber findet sich
mit Goethe widerwillig ab, ihr ist er einfach unbequem. Dann kommt die Zeit
der Julirevolution: Börne mit seiner fanatischen Demokratie haßt Goethe als
Aristokraten und gewinnt großen Anhang. Heines Verehrung Goethes erklärt
Hehn für „heuchlerisch," obgleich er der einzige unter den Jungdeutschen war,
der Goethes poetische Größe zu würdigen vermochte. Die andern Jung-
deutschen standen in Abhängigkeit von Paris; W. Menzel lud Schmach auf
sich durch seinen teutonischen Goethehaß; Gervinus bekundete sich als ein poesie¬
loser Liberaler, der mit seiner Literaturgeschichte mehr Schaden als Heil ge¬
stiftet hat; von den in der Stille thätigen Germanisten und Schwaben spricht
Hehn nicht. So kommt er"zu dem Schlüsse, daß niemals die Wertschätzung
Goethes tiefer gestanden habe, als gerade an seinem hundertsten Geburtstage, 1849.

Wir wollen hier einen Augenblick verweilen. Die Urteile Hehns sind zweifel¬
los in den meisten Fällen zutreffend. Allein wenn er vom Standpunkte seines roman¬
tischen Bekenntnisses den Rationalismus nicht genug verurteile» kann, so thut er
jedenfalls Unrecht. Heutzutage noch im Tone der jungen Schlegel und Tieck über
die Führer der Aufklärung, über Lessing und Nicolai zu sprechen, ist jedenfalls


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[0598] Viktor Hehns Gedanken über Goethe. klarung; wir blicken in das Verhältnis zu Karl August, der im Grunde wenig Sinn für die Poesie Goethes hatte und seinen französischen Geschmack bis ans Ende (der Hund des Aubry!) beibehielt. Dann verschwindet Goethe nach dem ersten Lärm, den er mit seinen tragischen und satirischen Gedichten gemacht hatte, von der Tagesliteratur, die stillen Jahre in Weimar folgen; die Nation ist ausschlie߬ lich mit politischen Streitfragen beschäftigt. Frau von Stein treibt ihn leider auch nicht zu seinem eigentlichen Lebensberufe, Frauen wissen nicht die Zeit zu schätzen, wissenschaftliche Interessen, politische Thätigkeit nehmen Goethe ganz ein, bis er nach Italien geht. Die Erzeugnisse aber, die er von dorther mit¬ bringt (Tasso, Iphigenie), finden in den Kreisen der Weimaraner kein Ver¬ ständnis, keine Sympathie, bis die Bekanntschaft mit Schiller Goethe aus der Vereinsamung zieht und neue Schaffenslust in ihm erzeugt. Er beendet den ersten Teil seines Faust. Hehn findet dabei Gelegenheit, geistvoll und treffend über die Verschiedenheit des ursprünglich rein humoristisch geplanten Mephisto mit dem spätern, der den Geist der Verneinung vorstellt, zu sprechen. Der Xenien- kampf macht endlich der herrschenden, altersschwachen Aufklärung ein Ende. Ein neues Geschlecht ist erstanden, das sich begeistert und mit Verständnis an Goethe anschließt: das Geschlecht der Romantiker und der Philosophen. A. W. Schlegel und der wqhlverwandte Geist Schellings haben Goethe nach Schiller zuerst wieder verstanden. Um diese Zeit stand Goethes Ruhm am höchsten. Aber die Romantik schlägt in Mystik um, Goethe ist ihr bald zu modern, die Nazarener bekämpfen seinen lebensfroher, hellenischen Genius. In Berlin bildet sich um die geistreichen Jüdinnen herum eine Goethegemeinde; ihrem vorurteilsfreiere» Geiste war es beschieden, die Verehrung Goethes im frommen Norden Deutschlands einzuführen. Die jüngere Romantik aber findet sich mit Goethe widerwillig ab, ihr ist er einfach unbequem. Dann kommt die Zeit der Julirevolution: Börne mit seiner fanatischen Demokratie haßt Goethe als Aristokraten und gewinnt großen Anhang. Heines Verehrung Goethes erklärt Hehn für „heuchlerisch," obgleich er der einzige unter den Jungdeutschen war, der Goethes poetische Größe zu würdigen vermochte. Die andern Jung- deutschen standen in Abhängigkeit von Paris; W. Menzel lud Schmach auf sich durch seinen teutonischen Goethehaß; Gervinus bekundete sich als ein poesie¬ loser Liberaler, der mit seiner Literaturgeschichte mehr Schaden als Heil ge¬ stiftet hat; von den in der Stille thätigen Germanisten und Schwaben spricht Hehn nicht. So kommt er"zu dem Schlüsse, daß niemals die Wertschätzung Goethes tiefer gestanden habe, als gerade an seinem hundertsten Geburtstage, 1849. Wir wollen hier einen Augenblick verweilen. Die Urteile Hehns sind zweifel¬ los in den meisten Fällen zutreffend. Allein wenn er vom Standpunkte seines roman¬ tischen Bekenntnisses den Rationalismus nicht genug verurteile» kann, so thut er jedenfalls Unrecht. Heutzutage noch im Tone der jungen Schlegel und Tieck über die Führer der Aufklärung, über Lessing und Nicolai zu sprechen, ist jedenfalls

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/598>, abgerufen am 22.07.2024.