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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Viktor Hohns Gedanken über Goethe.

die in seinem Buche das Wesen der Romantik zusammenfassen. Er sagt: "Die
Romantik war ursprünglich aus dem Kampfe mit der Aufklärung hervor¬
gegangen und hatte die Natur und das natürliche Werden und Wachsen gegen
die Forderungen und toten Werke des bloßen Verstandes und der abstrakten
Willensfreiheit gesetzt. Wenn die Aufklärung die Gesundheit des Publikums
hauptsächlich vor Schwärmerei behüten wollte, so hatte die Romantik gelehrt,
daß es ein Irrationales, Unmittelbares in Recht und Staat, in Kunst und
Sprache, eine konkrete Wissenschaft und spekulative Logik, eine natürliche Mannich-
faltigkeit der Menschen gebe, die durch keine Pädagogik oder legislative Fiktion
aufzuheben sei" (S. 153). I" diesen Worten ist auch die wissenschaftliche Grundan-
schauung Hehns enthalten. Da er betont, daß die Romantik diese neue und, wie wir
hinzufügen wollen, alle unsre Geisteswissenschaften heutzutage beherrschende Lehre
nicht etwa durch Hamcinn und Herder, sondern durch das Studium der Goethischen
Poesie allein gewonnen habe, so ist Hehns Betrachtung Goethes vornehmlich
-- wenigstens in diesem ersten, bisher erschienenen Teile seiner "Gedanken" --
von dem Hauptgedanken geleitet, darzustellen, wie sich in Goethes Werken diese
geistige Welt als Natur vor das innere Auge stellt. Nicht Goethe den Künstler,
wie vornehmlich Scherer, nicht Goethe den Denker im engern Sinne, wie bei¬
spielsweise Otto Hcirnack ihn geschaut haben, will Hehn erfassen, sondern Goethe,
das originale poetische Genie mit seiner für seine Zeit fast unbegreiflichen
neuen Art, die Welt anzuschauen; dies ist, wenn wir nicht irren, der gemein¬
same Zweck aller Hehnschen Untersuchungen. Darum läßt sich Hehn nicht auf
die Entwicklungsgeschichte Goethes ein, darum interessirt ihn auch nicht ein ein¬
zelnes Werk desselben genügend, um bloß darüber Untersuchungen anzustellen,
darum darf er auch gleichsam aus dem Vollen schöpfen, Briefe, Dichtungen,
Abhandlungen ohne Unterscheidung sür seine Beweisführung herbeiziehen.

Immer ist es nur eine Frage, die beantwortet werden soll: Wie hat Goethe
die Natur angeschaut? Nun trennt sich aber diese Frage notwendigerweise in
die zwei Fragen: Wie war Goethe selbst als nennr beschaffen? und sodann:
Was ist unter Natur alles zu begreifen?

Hehn faßt Geschichte, Tradition, Abstammung, Landschaft, Klima unter
seinen Naturbegriff zusammen, und demnach untersucht er in der ersten Ab¬
handlung "Südwest und Nordost" die Stammeseigentümlichkeit der Deutschen
in den verschiednen Teilen des Landes, um den Stamm der Franken, dem
Goethe angehörte, näher zu charakterisiren. Er weist nach, daß ein großer Dichter
in dem klimatisch rauhen und kulturgeschichtlich weit hinter dem Südwesten zurück¬
stehender Nordosten Deutschlands kaum hätte entstehen und gedeihen können.
Anknüpfend daran schildert er Goethes Beziehungen zu der weinspendenden,
lebensfreudigen Heimat am Rhein, seine Vorliebe für ein mildes Klima, seine
schwere Eingewöhnung in das rauhere Thüringen, wo kein Wein mehr wächst,
seine Freude am italienischen Himmel, seine Abhängigkeit vom Wetter über-


Grenzboten IV. 1387. 74
Viktor Hohns Gedanken über Goethe.

die in seinem Buche das Wesen der Romantik zusammenfassen. Er sagt: „Die
Romantik war ursprünglich aus dem Kampfe mit der Aufklärung hervor¬
gegangen und hatte die Natur und das natürliche Werden und Wachsen gegen
die Forderungen und toten Werke des bloßen Verstandes und der abstrakten
Willensfreiheit gesetzt. Wenn die Aufklärung die Gesundheit des Publikums
hauptsächlich vor Schwärmerei behüten wollte, so hatte die Romantik gelehrt,
daß es ein Irrationales, Unmittelbares in Recht und Staat, in Kunst und
Sprache, eine konkrete Wissenschaft und spekulative Logik, eine natürliche Mannich-
faltigkeit der Menschen gebe, die durch keine Pädagogik oder legislative Fiktion
aufzuheben sei" (S. 153). I» diesen Worten ist auch die wissenschaftliche Grundan-
schauung Hehns enthalten. Da er betont, daß die Romantik diese neue und, wie wir
hinzufügen wollen, alle unsre Geisteswissenschaften heutzutage beherrschende Lehre
nicht etwa durch Hamcinn und Herder, sondern durch das Studium der Goethischen
Poesie allein gewonnen habe, so ist Hehns Betrachtung Goethes vornehmlich
— wenigstens in diesem ersten, bisher erschienenen Teile seiner „Gedanken" —
von dem Hauptgedanken geleitet, darzustellen, wie sich in Goethes Werken diese
geistige Welt als Natur vor das innere Auge stellt. Nicht Goethe den Künstler,
wie vornehmlich Scherer, nicht Goethe den Denker im engern Sinne, wie bei¬
spielsweise Otto Hcirnack ihn geschaut haben, will Hehn erfassen, sondern Goethe,
das originale poetische Genie mit seiner für seine Zeit fast unbegreiflichen
neuen Art, die Welt anzuschauen; dies ist, wenn wir nicht irren, der gemein¬
same Zweck aller Hehnschen Untersuchungen. Darum läßt sich Hehn nicht auf
die Entwicklungsgeschichte Goethes ein, darum interessirt ihn auch nicht ein ein¬
zelnes Werk desselben genügend, um bloß darüber Untersuchungen anzustellen,
darum darf er auch gleichsam aus dem Vollen schöpfen, Briefe, Dichtungen,
Abhandlungen ohne Unterscheidung sür seine Beweisführung herbeiziehen.

Immer ist es nur eine Frage, die beantwortet werden soll: Wie hat Goethe
die Natur angeschaut? Nun trennt sich aber diese Frage notwendigerweise in
die zwei Fragen: Wie war Goethe selbst als nennr beschaffen? und sodann:
Was ist unter Natur alles zu begreifen?

Hehn faßt Geschichte, Tradition, Abstammung, Landschaft, Klima unter
seinen Naturbegriff zusammen, und demnach untersucht er in der ersten Ab¬
handlung „Südwest und Nordost" die Stammeseigentümlichkeit der Deutschen
in den verschiednen Teilen des Landes, um den Stamm der Franken, dem
Goethe angehörte, näher zu charakterisiren. Er weist nach, daß ein großer Dichter
in dem klimatisch rauhen und kulturgeschichtlich weit hinter dem Südwesten zurück¬
stehender Nordosten Deutschlands kaum hätte entstehen und gedeihen können.
Anknüpfend daran schildert er Goethes Beziehungen zu der weinspendenden,
lebensfreudigen Heimat am Rhein, seine Vorliebe für ein mildes Klima, seine
schwere Eingewöhnung in das rauhere Thüringen, wo kein Wein mehr wächst,
seine Freude am italienischen Himmel, seine Abhängigkeit vom Wetter über-


Grenzboten IV. 1387. 74
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[0593] Viktor Hohns Gedanken über Goethe. die in seinem Buche das Wesen der Romantik zusammenfassen. Er sagt: „Die Romantik war ursprünglich aus dem Kampfe mit der Aufklärung hervor¬ gegangen und hatte die Natur und das natürliche Werden und Wachsen gegen die Forderungen und toten Werke des bloßen Verstandes und der abstrakten Willensfreiheit gesetzt. Wenn die Aufklärung die Gesundheit des Publikums hauptsächlich vor Schwärmerei behüten wollte, so hatte die Romantik gelehrt, daß es ein Irrationales, Unmittelbares in Recht und Staat, in Kunst und Sprache, eine konkrete Wissenschaft und spekulative Logik, eine natürliche Mannich- faltigkeit der Menschen gebe, die durch keine Pädagogik oder legislative Fiktion aufzuheben sei" (S. 153). I» diesen Worten ist auch die wissenschaftliche Grundan- schauung Hehns enthalten. Da er betont, daß die Romantik diese neue und, wie wir hinzufügen wollen, alle unsre Geisteswissenschaften heutzutage beherrschende Lehre nicht etwa durch Hamcinn und Herder, sondern durch das Studium der Goethischen Poesie allein gewonnen habe, so ist Hehns Betrachtung Goethes vornehmlich — wenigstens in diesem ersten, bisher erschienenen Teile seiner „Gedanken" — von dem Hauptgedanken geleitet, darzustellen, wie sich in Goethes Werken diese geistige Welt als Natur vor das innere Auge stellt. Nicht Goethe den Künstler, wie vornehmlich Scherer, nicht Goethe den Denker im engern Sinne, wie bei¬ spielsweise Otto Hcirnack ihn geschaut haben, will Hehn erfassen, sondern Goethe, das originale poetische Genie mit seiner für seine Zeit fast unbegreiflichen neuen Art, die Welt anzuschauen; dies ist, wenn wir nicht irren, der gemein¬ same Zweck aller Hehnschen Untersuchungen. Darum läßt sich Hehn nicht auf die Entwicklungsgeschichte Goethes ein, darum interessirt ihn auch nicht ein ein¬ zelnes Werk desselben genügend, um bloß darüber Untersuchungen anzustellen, darum darf er auch gleichsam aus dem Vollen schöpfen, Briefe, Dichtungen, Abhandlungen ohne Unterscheidung sür seine Beweisführung herbeiziehen. Immer ist es nur eine Frage, die beantwortet werden soll: Wie hat Goethe die Natur angeschaut? Nun trennt sich aber diese Frage notwendigerweise in die zwei Fragen: Wie war Goethe selbst als nennr beschaffen? und sodann: Was ist unter Natur alles zu begreifen? Hehn faßt Geschichte, Tradition, Abstammung, Landschaft, Klima unter seinen Naturbegriff zusammen, und demnach untersucht er in der ersten Ab¬ handlung „Südwest und Nordost" die Stammeseigentümlichkeit der Deutschen in den verschiednen Teilen des Landes, um den Stamm der Franken, dem Goethe angehörte, näher zu charakterisiren. Er weist nach, daß ein großer Dichter in dem klimatisch rauhen und kulturgeschichtlich weit hinter dem Südwesten zurück¬ stehender Nordosten Deutschlands kaum hätte entstehen und gedeihen können. Anknüpfend daran schildert er Goethes Beziehungen zu der weinspendenden, lebensfreudigen Heimat am Rhein, seine Vorliebe für ein mildes Klima, seine schwere Eingewöhnung in das rauhere Thüringen, wo kein Wein mehr wächst, seine Freude am italienischen Himmel, seine Abhängigkeit vom Wetter über- Grenzboten IV. 1387. 74

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/593>, abgerufen am 22.07.2024.