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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Gevatter Tod

wunderlichen alten Manne könnte er ja doch nicht bleiben, und so Vater- und
mutterlos in der Welt dazustehen, das ist ja ein wahres Elend. Für ihn ist
es ein Glück, wenn der Tod ihn holt!

Aber diesmal sollten die klugen Leute im Dorfe doch noch nicht Recht
behalten. Die Mutter wollte den kleinen Tippe noch gar nicht haben, denn
sie wußte, daß er noch nicht reif sei für das Jenseits. Der Tod war freilich
sein Pate und hatte die Verpflichtung, sich seiner anzunehmen, wenn die Eltern
davongingen, aber der Tod hatte seinen kleinen Paten viel zu lieb und wollte
gern so lange warten, bis sie einander besser kennen gelernt hätten und Tippe
sich nicht mehr vor ihm fürchtete. Seine Verpflichtungen vergaß er deswegen
doch nicht.

Als der alte Jens seine neue Lektion gelernt und gut begriffen hatte, da
war die Schule aus, und Tippe fing allmählich an, sich zu erholen. Ein wenig
blaß war er noch, und seine Wangen waren noch nicht wieder so rund, wie sie
gewesen waren, denn auch für ihn war es eine harte Schule gewesen, aber
dafür konnte man auch lange suchen, ehe man ein so sanftes, gutes und reines
kleines Antlitz fand wie das, welches jetzt auf Tippes kleinem Kopfkissen ruhte.
War es der Tod selber, der es mit seiner verklärenden Hand berührt und ihm
diese wunderbar ergreifende Macht verliehen hatte, der niemand widerstehen
konnte?

Der alte Jens saß da und konnte sich nicht satt an ihm sehen, und dann
dachte- er, daß die härteste Schule nicht zu hart sei, wenn man am Ende mit
einem so süßen Lächeln belohnt werde, wie es Tippes Mund umspielte, wenn
sein Blick dem des Alten begegnete.

Und die Leute aus dem Dorfe, so sehr sie auch daran gewöhnt waren,
alles ruhig mit anzusehen, kamen jetzt und blieben einen Augenblick, um zu
fragen, wie es Tippe gehe. Und Tippe mußte darüber nachdenken, und als er
lange genug gegrübelt hatte, fragte er: Sag einmal, alter Jens, warum
kommt die Mutter des kleinen Knaben jeden Tag und bringt mir etwas
Schönes mit und küßt mich und sieht mich gerade so an, wie meine Mutter
mich immer ansah? Und warum sind alle Menschen so gut gegen mich,
und warum fragen sie immer, wie es mit mir geht, und sprechen so freundlich
mit mir?

Das kommt alles durch den Tod. Tippe! antwortete der alte Jens. Wenn
der Tod uns jemand genommen hat, den wir sehr lieb gehabt haben, so halten
die andern Menschen desto mehr zu uns, das liegt nun einmal so in der
menschlichen Natur, verstehst du mich wohl, Tippe?

Ach so! sagte Tippe. Weil der Tod mir die Mutter genommen hat,
darum macht er nun, daß alle die andern Menschen mich lieb haben, nicht wahr?

Ganz recht! antwortete der alte Jens.

Mit unsicherer, halb scheuer, halb freundlicher Miene schielte der kleine


Gevatter Tod

wunderlichen alten Manne könnte er ja doch nicht bleiben, und so Vater- und
mutterlos in der Welt dazustehen, das ist ja ein wahres Elend. Für ihn ist
es ein Glück, wenn der Tod ihn holt!

Aber diesmal sollten die klugen Leute im Dorfe doch noch nicht Recht
behalten. Die Mutter wollte den kleinen Tippe noch gar nicht haben, denn
sie wußte, daß er noch nicht reif sei für das Jenseits. Der Tod war freilich
sein Pate und hatte die Verpflichtung, sich seiner anzunehmen, wenn die Eltern
davongingen, aber der Tod hatte seinen kleinen Paten viel zu lieb und wollte
gern so lange warten, bis sie einander besser kennen gelernt hätten und Tippe
sich nicht mehr vor ihm fürchtete. Seine Verpflichtungen vergaß er deswegen
doch nicht.

Als der alte Jens seine neue Lektion gelernt und gut begriffen hatte, da
war die Schule aus, und Tippe fing allmählich an, sich zu erholen. Ein wenig
blaß war er noch, und seine Wangen waren noch nicht wieder so rund, wie sie
gewesen waren, denn auch für ihn war es eine harte Schule gewesen, aber
dafür konnte man auch lange suchen, ehe man ein so sanftes, gutes und reines
kleines Antlitz fand wie das, welches jetzt auf Tippes kleinem Kopfkissen ruhte.
War es der Tod selber, der es mit seiner verklärenden Hand berührt und ihm
diese wunderbar ergreifende Macht verliehen hatte, der niemand widerstehen
konnte?

Der alte Jens saß da und konnte sich nicht satt an ihm sehen, und dann
dachte- er, daß die härteste Schule nicht zu hart sei, wenn man am Ende mit
einem so süßen Lächeln belohnt werde, wie es Tippes Mund umspielte, wenn
sein Blick dem des Alten begegnete.

Und die Leute aus dem Dorfe, so sehr sie auch daran gewöhnt waren,
alles ruhig mit anzusehen, kamen jetzt und blieben einen Augenblick, um zu
fragen, wie es Tippe gehe. Und Tippe mußte darüber nachdenken, und als er
lange genug gegrübelt hatte, fragte er: Sag einmal, alter Jens, warum
kommt die Mutter des kleinen Knaben jeden Tag und bringt mir etwas
Schönes mit und küßt mich und sieht mich gerade so an, wie meine Mutter
mich immer ansah? Und warum sind alle Menschen so gut gegen mich,
und warum fragen sie immer, wie es mit mir geht, und sprechen so freundlich
mit mir?

Das kommt alles durch den Tod. Tippe! antwortete der alte Jens. Wenn
der Tod uns jemand genommen hat, den wir sehr lieb gehabt haben, so halten
die andern Menschen desto mehr zu uns, das liegt nun einmal so in der
menschlichen Natur, verstehst du mich wohl, Tippe?

Ach so! sagte Tippe. Weil der Tod mir die Mutter genommen hat,
darum macht er nun, daß alle die andern Menschen mich lieb haben, nicht wahr?

Ganz recht! antwortete der alte Jens.

Mit unsicherer, halb scheuer, halb freundlicher Miene schielte der kleine


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[0563] Gevatter Tod wunderlichen alten Manne könnte er ja doch nicht bleiben, und so Vater- und mutterlos in der Welt dazustehen, das ist ja ein wahres Elend. Für ihn ist es ein Glück, wenn der Tod ihn holt! Aber diesmal sollten die klugen Leute im Dorfe doch noch nicht Recht behalten. Die Mutter wollte den kleinen Tippe noch gar nicht haben, denn sie wußte, daß er noch nicht reif sei für das Jenseits. Der Tod war freilich sein Pate und hatte die Verpflichtung, sich seiner anzunehmen, wenn die Eltern davongingen, aber der Tod hatte seinen kleinen Paten viel zu lieb und wollte gern so lange warten, bis sie einander besser kennen gelernt hätten und Tippe sich nicht mehr vor ihm fürchtete. Seine Verpflichtungen vergaß er deswegen doch nicht. Als der alte Jens seine neue Lektion gelernt und gut begriffen hatte, da war die Schule aus, und Tippe fing allmählich an, sich zu erholen. Ein wenig blaß war er noch, und seine Wangen waren noch nicht wieder so rund, wie sie gewesen waren, denn auch für ihn war es eine harte Schule gewesen, aber dafür konnte man auch lange suchen, ehe man ein so sanftes, gutes und reines kleines Antlitz fand wie das, welches jetzt auf Tippes kleinem Kopfkissen ruhte. War es der Tod selber, der es mit seiner verklärenden Hand berührt und ihm diese wunderbar ergreifende Macht verliehen hatte, der niemand widerstehen konnte? Der alte Jens saß da und konnte sich nicht satt an ihm sehen, und dann dachte- er, daß die härteste Schule nicht zu hart sei, wenn man am Ende mit einem so süßen Lächeln belohnt werde, wie es Tippes Mund umspielte, wenn sein Blick dem des Alten begegnete. Und die Leute aus dem Dorfe, so sehr sie auch daran gewöhnt waren, alles ruhig mit anzusehen, kamen jetzt und blieben einen Augenblick, um zu fragen, wie es Tippe gehe. Und Tippe mußte darüber nachdenken, und als er lange genug gegrübelt hatte, fragte er: Sag einmal, alter Jens, warum kommt die Mutter des kleinen Knaben jeden Tag und bringt mir etwas Schönes mit und küßt mich und sieht mich gerade so an, wie meine Mutter mich immer ansah? Und warum sind alle Menschen so gut gegen mich, und warum fragen sie immer, wie es mit mir geht, und sprechen so freundlich mit mir? Das kommt alles durch den Tod. Tippe! antwortete der alte Jens. Wenn der Tod uns jemand genommen hat, den wir sehr lieb gehabt haben, so halten die andern Menschen desto mehr zu uns, das liegt nun einmal so in der menschlichen Natur, verstehst du mich wohl, Tippe? Ach so! sagte Tippe. Weil der Tod mir die Mutter genommen hat, darum macht er nun, daß alle die andern Menschen mich lieb haben, nicht wahr? Ganz recht! antwortete der alte Jens. Mit unsicherer, halb scheuer, halb freundlicher Miene schielte der kleine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/563>, abgerufen am 22.07.2024.