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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Gevatter Tod.

jetzt an Sturm und Regen gewöhnen, es sollte die Sehnsucht kennen lernen
nach dem tiefen Schlaf unter dem Schnee des Winters, um dann im Lenz
frisch und verjüngt wieder zu erwachen.

Der Herbst war mit dabei, als die Mutter auf dem Friedhofe zur Ruhe
gebettet ward, und seine Thränen fielen auf ihren Sarg. Das waren auch
die einzigen Thränen, welche darauf fielen, die Leute im Dorfe nahmen zwar
den innigsten Anteil, aber es ist nun einmal nicht Sitte bei ihnen, bei solchen
Gelegenheiten zu weinen.

Der alte Jens war nicht mit dabei, und viele schauten verwundert nach
ihm aus und horchten vergebens nach seiner zitternden Stimme, die sich doch
sonst stets hören ließ, wenn ein Sarg in die Erde gesenkt ward und ein Sterbe¬
lied ertönte.

Wo war er nur, und wo war Tippe?

Ja, der alte Jens ging wieder einmal zur Schule, und die durfte er nicht
versäumen. Er hatte zwar schon vielerlei gelernt und große Fortschritte gemacht,
aber wenn er geglaubt hatte, daß er jetzt fertig sei damit, so hatte er sich sehr
geirrt, denn jetzt kam erst das Schwerste. Jetzt sollte er einsehen lernen, wie
hilflos er war, wo es wirklich etwas galt -- er sollte demütig werden.

Und das war nicht so ganz leicht, wenn man so alt geworden war wie
der alte Jens und über nichts weiter gegrübelt hatte, als über das bittere
Unrecht, das einem widerfahren sei; wenn man so stolz darauf gewesen war
wie er, sich selber helfen zu können und keines andern Menschen zu bedürfen.
Ja, das war eine harte Schule, die der alte Jens durchmachen mußte, aber
Tippe war auch diesmal sein Schulmeister, und das half.

Auch in der Stube des alten Jens war es Herbst, ebenso wie auf dem
Friedhofe. Die Fenster waren beschlagen, alles Grau in Grau, und an dem
Bette, in welchem der kleine Tippe in wilden Fieberphantasien lag, saß der alte
Jens. Und dort konnte man die beiden Tag und Nacht treffen, unermüdlich
bei ihrer Arbeit. Da lag Tippe und starrte den alten Jens an mit seinen
großen Augen, aus denen die innere Angst hervorsah. Sie wurden größer
und größer, und die Angst sah immer wilder daraus hervor, bis plötzlich
eine unsichtbare Macht die Lider darüber zog und sie zwang, sich zu schließen.
Aber es war keine Ruhe, denn Tippe riß die Augen sofort wieder auf und rief
entsetzt: Alter Jens! ich habe meine Augen zugemacht! Ich will sie aber nicht
zumachen!

Und obschon die Stimme des Alten heftig zitterte, antwortete er doch
gleich: Nein, kleiner Tippe! Das hast du gar nicht gethan! Und die Stimme
klang so beruhigend, so zuverlässig, daß Tippe sich wieder niederlegte und ein
Ausdruck des Friedens über sein erhitztes Antlitz kam.

Und so saß der alte Jens da und wartete geduldig, bis Tippe von neuem
voller Entsetzen auffuhr.


Grenzboten IV. 1337. 70
Gevatter Tod.

jetzt an Sturm und Regen gewöhnen, es sollte die Sehnsucht kennen lernen
nach dem tiefen Schlaf unter dem Schnee des Winters, um dann im Lenz
frisch und verjüngt wieder zu erwachen.

Der Herbst war mit dabei, als die Mutter auf dem Friedhofe zur Ruhe
gebettet ward, und seine Thränen fielen auf ihren Sarg. Das waren auch
die einzigen Thränen, welche darauf fielen, die Leute im Dorfe nahmen zwar
den innigsten Anteil, aber es ist nun einmal nicht Sitte bei ihnen, bei solchen
Gelegenheiten zu weinen.

Der alte Jens war nicht mit dabei, und viele schauten verwundert nach
ihm aus und horchten vergebens nach seiner zitternden Stimme, die sich doch
sonst stets hören ließ, wenn ein Sarg in die Erde gesenkt ward und ein Sterbe¬
lied ertönte.

Wo war er nur, und wo war Tippe?

Ja, der alte Jens ging wieder einmal zur Schule, und die durfte er nicht
versäumen. Er hatte zwar schon vielerlei gelernt und große Fortschritte gemacht,
aber wenn er geglaubt hatte, daß er jetzt fertig sei damit, so hatte er sich sehr
geirrt, denn jetzt kam erst das Schwerste. Jetzt sollte er einsehen lernen, wie
hilflos er war, wo es wirklich etwas galt — er sollte demütig werden.

Und das war nicht so ganz leicht, wenn man so alt geworden war wie
der alte Jens und über nichts weiter gegrübelt hatte, als über das bittere
Unrecht, das einem widerfahren sei; wenn man so stolz darauf gewesen war
wie er, sich selber helfen zu können und keines andern Menschen zu bedürfen.
Ja, das war eine harte Schule, die der alte Jens durchmachen mußte, aber
Tippe war auch diesmal sein Schulmeister, und das half.

Auch in der Stube des alten Jens war es Herbst, ebenso wie auf dem
Friedhofe. Die Fenster waren beschlagen, alles Grau in Grau, und an dem
Bette, in welchem der kleine Tippe in wilden Fieberphantasien lag, saß der alte
Jens. Und dort konnte man die beiden Tag und Nacht treffen, unermüdlich
bei ihrer Arbeit. Da lag Tippe und starrte den alten Jens an mit seinen
großen Augen, aus denen die innere Angst hervorsah. Sie wurden größer
und größer, und die Angst sah immer wilder daraus hervor, bis plötzlich
eine unsichtbare Macht die Lider darüber zog und sie zwang, sich zu schließen.
Aber es war keine Ruhe, denn Tippe riß die Augen sofort wieder auf und rief
entsetzt: Alter Jens! ich habe meine Augen zugemacht! Ich will sie aber nicht
zumachen!

Und obschon die Stimme des Alten heftig zitterte, antwortete er doch
gleich: Nein, kleiner Tippe! Das hast du gar nicht gethan! Und die Stimme
klang so beruhigend, so zuverlässig, daß Tippe sich wieder niederlegte und ein
Ausdruck des Friedens über sein erhitztes Antlitz kam.

Und so saß der alte Jens da und wartete geduldig, bis Tippe von neuem
voller Entsetzen auffuhr.


Grenzboten IV. 1337. 70
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/561>, abgerufen am 22.07.2024.