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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Gevatter Tod.

und als habe er weder Wunsch noch Kraft, aus diesem Traume zu erwachen.
Da hob eine Hand seinen Kopf auf und legte ein Kissen darunter. Es war
ihm, als streichle und liebkose ihn jemand, aber ehe er sich so recht Kar war,
saß er wieder allein da. Dann hörte er Stimmen um sich her, leise und sanft,
aber er hatte sie schon vergessen, ehe die Worte noch verklungen waren. Und
die Stunden vergingen, der Nachmittag verrann, und aus dem Träumen wurde
ein böser Traum. Da war etwas, das legte sich auf sein Herz und machte es
so schwer, und er empfand eine unbeschreibliche Sehnsucht nach der Mutter und
dem alten Jens, er wollte sie sehen und ihre Stimmen wieder hören. Und
große Thränen rollten ihm von den heißen Wangen herab.

Es war Abend geworden, und er saß im Schatten da und weinte leise
vor sich hin, und während die Thränen rannen, entwichen die bösen Träume,
und seine Ohren fingen an, ängstlich zu lauschen, seine Augen spähten in das
Dunkel hinaus.

Sie ist am Herzschlag gestorben, hinübergeschlummert, ohne es zu ahnen,
sagt der Arzt. Das war das größte Glück, welches ihr begegnen konnte, denn
der Tod hatte sie schon lange gezeichnet! sagte der Schulmeister, der zur Thür
hereinkam und seiner Frau Nachricht brachte.

Aber der arme Tippe! fügte er in demselben Augenblicke hinzu. Wo ist
er denn? Er versteht es wohl noch nicht?

Ja, nun verstand es Tippe! Eine furchtbare Angst ergriff ihn, es wurde
ihm plötzlich klar, daß von der Mutter die Rede war, daß der Tod sie gezeichnet
hatte. Jetzt streckte er vielleicht seine Hand nach ihr aus und wollte sie holen!

Ehe es jemand bemerkt hatte, war er durch die geöffnete Thür geschlichen,
wie ein aufgescheuchter Vogel flog er über die Straße und war in wenigen
Minuten zu Hause.

Als er durch die Vorderstube lief, rief man ihn, aber er hörte es nicht,
sondern lief unaufhaltsam weiter, bis er vor dem Bette der Mutter stand und
in der Dämmerung sah, daß sie noch dort lag.

Mutter! flüsterte er, mache deine Augen auf, dann kann dich der Tod
nicht holen! Ach, mache sie doch nicht zu, bitte, liebe Mutter!

Er war auf das Bett hinauf gekrochen und lag dort und lauschte ängstlich
auf einen einzigen Laut, aber die Mutter schwieg.

Mache sie doch nicht zu! jammerte er immer lauter in seiner Herzensangst,
aber die Mutter lag so regungslos und still wie vorher, und das selige Lächeln,
welches ihre Lippen umspielte, veränderte sich nicht. Da begriff Tippe, daß er
zu spät gekommen sei mit seinem Geheimnis, jetzt konnte es der Mutter uicht
mehr helfen, sie hörte ja nichts mehr. Und schluchzend glitt er vom Bette
herab und ließ sich willenlos forttragen.

Er dachte nicht darüber nach, wie sein eignes kleines Bett wohl aus dem
Zimmer gekommen sei, und er fragte auch nicht. Er barg sein Antlitz in den


Gevatter Tod.

und als habe er weder Wunsch noch Kraft, aus diesem Traume zu erwachen.
Da hob eine Hand seinen Kopf auf und legte ein Kissen darunter. Es war
ihm, als streichle und liebkose ihn jemand, aber ehe er sich so recht Kar war,
saß er wieder allein da. Dann hörte er Stimmen um sich her, leise und sanft,
aber er hatte sie schon vergessen, ehe die Worte noch verklungen waren. Und
die Stunden vergingen, der Nachmittag verrann, und aus dem Träumen wurde
ein böser Traum. Da war etwas, das legte sich auf sein Herz und machte es
so schwer, und er empfand eine unbeschreibliche Sehnsucht nach der Mutter und
dem alten Jens, er wollte sie sehen und ihre Stimmen wieder hören. Und
große Thränen rollten ihm von den heißen Wangen herab.

Es war Abend geworden, und er saß im Schatten da und weinte leise
vor sich hin, und während die Thränen rannen, entwichen die bösen Träume,
und seine Ohren fingen an, ängstlich zu lauschen, seine Augen spähten in das
Dunkel hinaus.

Sie ist am Herzschlag gestorben, hinübergeschlummert, ohne es zu ahnen,
sagt der Arzt. Das war das größte Glück, welches ihr begegnen konnte, denn
der Tod hatte sie schon lange gezeichnet! sagte der Schulmeister, der zur Thür
hereinkam und seiner Frau Nachricht brachte.

Aber der arme Tippe! fügte er in demselben Augenblicke hinzu. Wo ist
er denn? Er versteht es wohl noch nicht?

Ja, nun verstand es Tippe! Eine furchtbare Angst ergriff ihn, es wurde
ihm plötzlich klar, daß von der Mutter die Rede war, daß der Tod sie gezeichnet
hatte. Jetzt streckte er vielleicht seine Hand nach ihr aus und wollte sie holen!

Ehe es jemand bemerkt hatte, war er durch die geöffnete Thür geschlichen,
wie ein aufgescheuchter Vogel flog er über die Straße und war in wenigen
Minuten zu Hause.

Als er durch die Vorderstube lief, rief man ihn, aber er hörte es nicht,
sondern lief unaufhaltsam weiter, bis er vor dem Bette der Mutter stand und
in der Dämmerung sah, daß sie noch dort lag.

Mutter! flüsterte er, mache deine Augen auf, dann kann dich der Tod
nicht holen! Ach, mache sie doch nicht zu, bitte, liebe Mutter!

Er war auf das Bett hinauf gekrochen und lag dort und lauschte ängstlich
auf einen einzigen Laut, aber die Mutter schwieg.

Mache sie doch nicht zu! jammerte er immer lauter in seiner Herzensangst,
aber die Mutter lag so regungslos und still wie vorher, und das selige Lächeln,
welches ihre Lippen umspielte, veränderte sich nicht. Da begriff Tippe, daß er
zu spät gekommen sei mit seinem Geheimnis, jetzt konnte es der Mutter uicht
mehr helfen, sie hörte ja nichts mehr. Und schluchzend glitt er vom Bette
herab und ließ sich willenlos forttragen.

Er dachte nicht darüber nach, wie sein eignes kleines Bett wohl aus dem
Zimmer gekommen sei, und er fragte auch nicht. Er barg sein Antlitz in den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/559>, abgerufen am 22.07.2024.