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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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die Arbeitsgrenzcn mit den Tagesstunden. Da z. B. die Büreaustunden in den Mini¬
sterien von fünf bis zehn Uhr (türkisch) liegen, so beginnen und enden sie jeden Tag
anders. Unter solchen Umstünden ist die Disziplin schwer aufrecht zu erhalten,
zumal da öffentliche Uhren in dieser ausgedehnten Stadt zu den größten Selten¬
heiten gehören. In den Ämtern sitzt der Chef mir seiner ganzen Schar Untergebener
in einem Raume, also die Exzellenz mit ihren Räten, Sekretären und Boten
zusammen, und alle rauchen und trinken ungenirt. Es herrscht nirgends so
wenig sozialer Unterschied wie in der Türkei, und daher mag es auch kommen,
daß nicht selten Personen aus dem niedrigsten Stande die höchsten Ehrenstellen
erreichen. Akten werden nur in ganz primitiver Weise geführt, d. h. die ein¬
zelnen Papierstreifen werden, so weit sie nicht anders verwendet werden, in
große Säcke gesteckt; dort mag man suchen, wenn etwas erfordert wird. Eine
Ausnahme macht in gewisser Hinsicht das Auswärtige Amt der hohen Pforte;
hier haben die verschiednen türkischen Diplomaten, die im Auslande waren, die
Einrichtungen wenigstens äußerlich auf europäischen Fuß gebracht, hier sollen
auch Akten und Registraturen vorhanden sein. So erzählt man sich, daß ein
Diplomat, der bei seinem Aufenthalt in Europa gesehen hatte, daß die Mini¬
sterien Bibliotheken besäßen, ebenfalls die Anschaffung einer solchen befohlen
habe. Durch die verschiednen Kanäle gelangte der Auftrag an einen griechischen
Antiquar, und dieser lieferte eine ganze Reihe von hübsch eingebundenen Büchern,
deren Hauptteil freilich, wie z. V. Büffons Naturgeschichte, Arivsts rasender
Roland u. dergl. in., nur in geringer Beziehung zu der Diplomatie steht. Die
Schar der Beamten ist unendlich, die Straßen in Stambul und die Räume der
Ämter wimmeln von Beamten aller Art, denn wo eine schrankenlose Despotie
herrscht, werden Ämter und Würden ohne Rücksicht auf den Staatshaushalt
nach Laune und Willkür verteilt. So las ich bellte in einer Zeitung, daß der
Oberste der Eunuchen, Verein Aga, mit dem Bau der neuen Kaserne bei Jildis
betraut und daß die Pension eines frühern Ministers auf jährlich 36000 Mark
erhöht worden ist. Wie es da mit einer Finanzkontrole beschaffen sein
muß, kann man sich leicht vorstellen. Auf der einen Seite wird verschwendet,
auf der andern gedarbt; was in die Taschen der Großen fließt, wird den Kleinen
entzogen, jahrelang wird Offizieren und Beamten der Sold und Gehalt nicht
gezahlt. Diese aber wollen leben, und so entwickelt sich natürlich ein offizielles
Bettler- und Spitzbnbenvolk von jedem Rang und Stand. Soll ich bei meiner
Ankunft meinen Koffer auf offner Straße -- denn eine Halle sah ich nicht --
durchwühlen lassen und die Gefahr laufen, meine Sachen beschmutzt zu sehen
oder gar zu verlieren? Nein, ich zahle dem Zollbeamten vor aller Augen einen
Tscherek, etwa eine Mark, und kann ungehindert über die Zolllinie. Der
Schmuggel steht in höchster Blüte, und ein Kaufmann, bei dem ich häufiger
verkehrte, erklärte mir rundweg, daß für einen Händler, der in loyaler Weise
die Waaren beziehe und versteuere, es unmöglich sei, gegenüber denjenigen Kor-


«Line Fahrt in den Grient.

die Arbeitsgrenzcn mit den Tagesstunden. Da z. B. die Büreaustunden in den Mini¬
sterien von fünf bis zehn Uhr (türkisch) liegen, so beginnen und enden sie jeden Tag
anders. Unter solchen Umstünden ist die Disziplin schwer aufrecht zu erhalten,
zumal da öffentliche Uhren in dieser ausgedehnten Stadt zu den größten Selten¬
heiten gehören. In den Ämtern sitzt der Chef mir seiner ganzen Schar Untergebener
in einem Raume, also die Exzellenz mit ihren Räten, Sekretären und Boten
zusammen, und alle rauchen und trinken ungenirt. Es herrscht nirgends so
wenig sozialer Unterschied wie in der Türkei, und daher mag es auch kommen,
daß nicht selten Personen aus dem niedrigsten Stande die höchsten Ehrenstellen
erreichen. Akten werden nur in ganz primitiver Weise geführt, d. h. die ein¬
zelnen Papierstreifen werden, so weit sie nicht anders verwendet werden, in
große Säcke gesteckt; dort mag man suchen, wenn etwas erfordert wird. Eine
Ausnahme macht in gewisser Hinsicht das Auswärtige Amt der hohen Pforte;
hier haben die verschiednen türkischen Diplomaten, die im Auslande waren, die
Einrichtungen wenigstens äußerlich auf europäischen Fuß gebracht, hier sollen
auch Akten und Registraturen vorhanden sein. So erzählt man sich, daß ein
Diplomat, der bei seinem Aufenthalt in Europa gesehen hatte, daß die Mini¬
sterien Bibliotheken besäßen, ebenfalls die Anschaffung einer solchen befohlen
habe. Durch die verschiednen Kanäle gelangte der Auftrag an einen griechischen
Antiquar, und dieser lieferte eine ganze Reihe von hübsch eingebundenen Büchern,
deren Hauptteil freilich, wie z. V. Büffons Naturgeschichte, Arivsts rasender
Roland u. dergl. in., nur in geringer Beziehung zu der Diplomatie steht. Die
Schar der Beamten ist unendlich, die Straßen in Stambul und die Räume der
Ämter wimmeln von Beamten aller Art, denn wo eine schrankenlose Despotie
herrscht, werden Ämter und Würden ohne Rücksicht auf den Staatshaushalt
nach Laune und Willkür verteilt. So las ich bellte in einer Zeitung, daß der
Oberste der Eunuchen, Verein Aga, mit dem Bau der neuen Kaserne bei Jildis
betraut und daß die Pension eines frühern Ministers auf jährlich 36000 Mark
erhöht worden ist. Wie es da mit einer Finanzkontrole beschaffen sein
muß, kann man sich leicht vorstellen. Auf der einen Seite wird verschwendet,
auf der andern gedarbt; was in die Taschen der Großen fließt, wird den Kleinen
entzogen, jahrelang wird Offizieren und Beamten der Sold und Gehalt nicht
gezahlt. Diese aber wollen leben, und so entwickelt sich natürlich ein offizielles
Bettler- und Spitzbnbenvolk von jedem Rang und Stand. Soll ich bei meiner
Ankunft meinen Koffer auf offner Straße — denn eine Halle sah ich nicht —
durchwühlen lassen und die Gefahr laufen, meine Sachen beschmutzt zu sehen
oder gar zu verlieren? Nein, ich zahle dem Zollbeamten vor aller Augen einen
Tscherek, etwa eine Mark, und kann ungehindert über die Zolllinie. Der
Schmuggel steht in höchster Blüte, und ein Kaufmann, bei dem ich häufiger
verkehrte, erklärte mir rundweg, daß für einen Händler, der in loyaler Weise
die Waaren beziehe und versteuere, es unmöglich sei, gegenüber denjenigen Kor-


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[0543] «Line Fahrt in den Grient. die Arbeitsgrenzcn mit den Tagesstunden. Da z. B. die Büreaustunden in den Mini¬ sterien von fünf bis zehn Uhr (türkisch) liegen, so beginnen und enden sie jeden Tag anders. Unter solchen Umstünden ist die Disziplin schwer aufrecht zu erhalten, zumal da öffentliche Uhren in dieser ausgedehnten Stadt zu den größten Selten¬ heiten gehören. In den Ämtern sitzt der Chef mir seiner ganzen Schar Untergebener in einem Raume, also die Exzellenz mit ihren Räten, Sekretären und Boten zusammen, und alle rauchen und trinken ungenirt. Es herrscht nirgends so wenig sozialer Unterschied wie in der Türkei, und daher mag es auch kommen, daß nicht selten Personen aus dem niedrigsten Stande die höchsten Ehrenstellen erreichen. Akten werden nur in ganz primitiver Weise geführt, d. h. die ein¬ zelnen Papierstreifen werden, so weit sie nicht anders verwendet werden, in große Säcke gesteckt; dort mag man suchen, wenn etwas erfordert wird. Eine Ausnahme macht in gewisser Hinsicht das Auswärtige Amt der hohen Pforte; hier haben die verschiednen türkischen Diplomaten, die im Auslande waren, die Einrichtungen wenigstens äußerlich auf europäischen Fuß gebracht, hier sollen auch Akten und Registraturen vorhanden sein. So erzählt man sich, daß ein Diplomat, der bei seinem Aufenthalt in Europa gesehen hatte, daß die Mini¬ sterien Bibliotheken besäßen, ebenfalls die Anschaffung einer solchen befohlen habe. Durch die verschiednen Kanäle gelangte der Auftrag an einen griechischen Antiquar, und dieser lieferte eine ganze Reihe von hübsch eingebundenen Büchern, deren Hauptteil freilich, wie z. V. Büffons Naturgeschichte, Arivsts rasender Roland u. dergl. in., nur in geringer Beziehung zu der Diplomatie steht. Die Schar der Beamten ist unendlich, die Straßen in Stambul und die Räume der Ämter wimmeln von Beamten aller Art, denn wo eine schrankenlose Despotie herrscht, werden Ämter und Würden ohne Rücksicht auf den Staatshaushalt nach Laune und Willkür verteilt. So las ich bellte in einer Zeitung, daß der Oberste der Eunuchen, Verein Aga, mit dem Bau der neuen Kaserne bei Jildis betraut und daß die Pension eines frühern Ministers auf jährlich 36000 Mark erhöht worden ist. Wie es da mit einer Finanzkontrole beschaffen sein muß, kann man sich leicht vorstellen. Auf der einen Seite wird verschwendet, auf der andern gedarbt; was in die Taschen der Großen fließt, wird den Kleinen entzogen, jahrelang wird Offizieren und Beamten der Sold und Gehalt nicht gezahlt. Diese aber wollen leben, und so entwickelt sich natürlich ein offizielles Bettler- und Spitzbnbenvolk von jedem Rang und Stand. Soll ich bei meiner Ankunft meinen Koffer auf offner Straße — denn eine Halle sah ich nicht — durchwühlen lassen und die Gefahr laufen, meine Sachen beschmutzt zu sehen oder gar zu verlieren? Nein, ich zahle dem Zollbeamten vor aller Augen einen Tscherek, etwa eine Mark, und kann ungehindert über die Zolllinie. Der Schmuggel steht in höchster Blüte, und ein Kaufmann, bei dem ich häufiger verkehrte, erklärte mir rundweg, daß für einen Händler, der in loyaler Weise die Waaren beziehe und versteuere, es unmöglich sei, gegenüber denjenigen Kor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/543>, abgerufen am 22.07.2024.