Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.feiten unsers Volkes, namentlich der Jugend desselben, für den Liebesbund feiten unsers Volkes, namentlich der Jugend desselben, für den Liebesbund <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0536" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/201965"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_1410" prev="#ID_1409" next="#ID_1411"> feiten unsers Volkes, namentlich der Jugend desselben, für den Liebesbund<lb/> Hermanns und Dorotheens in Anspruch zu nehmen, als für schadenfrohe Schil¬<lb/> derungen strauchelnder oder im Kampf gegen sinnliches Gelüsten ermattender<lb/> Tugend. Daß jeder geschlechtlichen Liebe ein sinnliches Element beigemischt<lb/> sei und daß dieses bis zu einem gewissen Grade feine Berechtigung habe, ist<lb/> für unsre Zeit eine unbestrittene Wahrheit, und keinem Menschen fällt es ein,<lb/> eine besondre poetische Lizenz für sich in Anspruch zu nehmen, um demgemäß<lb/> zu sprechen oder zu handeln. Wenn aber eine von der Autorität der Kirchen<lb/> gestützte einseitig spiritualistische Moral jeden sinnlichen Trieb verfehmte, ohne<lb/> ihn deshalb unterdrücken zu können; wenn die Literatur und feinere Geistes¬<lb/> bildung, soweit sie national war, sich von der natürlichen Behandlung des<lb/> Sinnlichen, als von einem verschenken Gegenstande, spröde zurückhielt und dies<lb/> ganze Gebiet der Rohheit und dem Schmutz der Unbildung überließ, so lag<lb/> die Sache ganz anders. Unter solchen Umständen war eine Wiedereinsetzung<lb/> der Sinnlichkeit, wie Wieland sie vertrat, ein Eintreten sür Wahrheit gegen<lb/> Heuchelei, für Natur gegen falschen Anstand, sür harmonische Bildung gegen¬<lb/> über von Pöbelschmutz auf der einen und von fpiritualistischer Verkümmerung<lb/> unsers Wesens auf der andern Seite. Einem gesund sich entwickelnden und<lb/> allseitiger Entfaltung feiner Kräfte zustrebenden Volke konnte eine solche Ein¬<lb/> wirkung nur heilsam und förderlich fein. Und daß Wielands Einfluß nicht<lb/> erschlaffend und ermattend, sondern wesentlich befreiend gewirkt hat, dafür haben<lb/> wir den besten Beweis in der Thatsache, daß dieser Einfluß schließlich abgelöst<lb/> wurde von jenen plötzlich auf die Nation einstürmenden „Kraftgenies," jenen<lb/> Stürmern und Drängern, denen es vor allem darum zu thun war, wie<lb/> Schubart zu sagen pflegte, als „ganze Kerle" zu gelten. Ganz ein Mensch zu<lb/> sein und den ganzen Menschen zur Geltung zu bringen, das trieb und drängte<lb/> damals erst dunkler und dann mit immer klareren Bewußtsein. Wieland hatte<lb/> vor sich eine geschichtliche Aufgabe, deren Lösung ihn den Bahnbrechern der<lb/> Humanität zugesellt. Wie ein Göttersohn, schreitet zu Anfang der siebziger<lb/> Jahre Wolfgang Goethe ins deutsche Leben hinein, frei, unbefangen, heidnisch, gar<lb/> nicht in: Zweifel darüber, daß von allen Genüssen, welche das Leben bot, jeder<lb/> ihm zu eigen gehöre, der nicht die Harmonie seines Gemütes und die Harmonie<lb/> seiner Bildung störte. „Musarion wirkte am meisten auf mich," erzählt er<lb/> felbst aus seiner Leipziger Studienzeit. Der Mensch und sein Leben ein har¬<lb/> monisches Kunstwerk, das war das Ideal, womit Goethe eine Periode unsrer<lb/> nationalen Bildungsgeschichte zur Vollendung brachte und abschloß. In An¬<lb/> lehnung an ein fremdes, aber doch unserm nationalen Wesen verwandtes Vorbild<lb/> hatte Wieland schon im Jahre 1758 in einem Briefe an seinen Freund Zimmer¬<lb/> mann für sich ein ähnliches Ideal entworfen, indem er schreibt: „Ich liebe alle<lb/> Arten von Vollkommenheiten in jedem Grade, ich achte alle Talente, alle Ver¬<lb/> dienste, alle Künste: ich liebe die menschliche Natur und verachte keinen Menschen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0536]
feiten unsers Volkes, namentlich der Jugend desselben, für den Liebesbund
Hermanns und Dorotheens in Anspruch zu nehmen, als für schadenfrohe Schil¬
derungen strauchelnder oder im Kampf gegen sinnliches Gelüsten ermattender
Tugend. Daß jeder geschlechtlichen Liebe ein sinnliches Element beigemischt
sei und daß dieses bis zu einem gewissen Grade feine Berechtigung habe, ist
für unsre Zeit eine unbestrittene Wahrheit, und keinem Menschen fällt es ein,
eine besondre poetische Lizenz für sich in Anspruch zu nehmen, um demgemäß
zu sprechen oder zu handeln. Wenn aber eine von der Autorität der Kirchen
gestützte einseitig spiritualistische Moral jeden sinnlichen Trieb verfehmte, ohne
ihn deshalb unterdrücken zu können; wenn die Literatur und feinere Geistes¬
bildung, soweit sie national war, sich von der natürlichen Behandlung des
Sinnlichen, als von einem verschenken Gegenstande, spröde zurückhielt und dies
ganze Gebiet der Rohheit und dem Schmutz der Unbildung überließ, so lag
die Sache ganz anders. Unter solchen Umständen war eine Wiedereinsetzung
der Sinnlichkeit, wie Wieland sie vertrat, ein Eintreten sür Wahrheit gegen
Heuchelei, für Natur gegen falschen Anstand, sür harmonische Bildung gegen¬
über von Pöbelschmutz auf der einen und von fpiritualistischer Verkümmerung
unsers Wesens auf der andern Seite. Einem gesund sich entwickelnden und
allseitiger Entfaltung feiner Kräfte zustrebenden Volke konnte eine solche Ein¬
wirkung nur heilsam und förderlich fein. Und daß Wielands Einfluß nicht
erschlaffend und ermattend, sondern wesentlich befreiend gewirkt hat, dafür haben
wir den besten Beweis in der Thatsache, daß dieser Einfluß schließlich abgelöst
wurde von jenen plötzlich auf die Nation einstürmenden „Kraftgenies," jenen
Stürmern und Drängern, denen es vor allem darum zu thun war, wie
Schubart zu sagen pflegte, als „ganze Kerle" zu gelten. Ganz ein Mensch zu
sein und den ganzen Menschen zur Geltung zu bringen, das trieb und drängte
damals erst dunkler und dann mit immer klareren Bewußtsein. Wieland hatte
vor sich eine geschichtliche Aufgabe, deren Lösung ihn den Bahnbrechern der
Humanität zugesellt. Wie ein Göttersohn, schreitet zu Anfang der siebziger
Jahre Wolfgang Goethe ins deutsche Leben hinein, frei, unbefangen, heidnisch, gar
nicht in: Zweifel darüber, daß von allen Genüssen, welche das Leben bot, jeder
ihm zu eigen gehöre, der nicht die Harmonie seines Gemütes und die Harmonie
seiner Bildung störte. „Musarion wirkte am meisten auf mich," erzählt er
felbst aus seiner Leipziger Studienzeit. Der Mensch und sein Leben ein har¬
monisches Kunstwerk, das war das Ideal, womit Goethe eine Periode unsrer
nationalen Bildungsgeschichte zur Vollendung brachte und abschloß. In An¬
lehnung an ein fremdes, aber doch unserm nationalen Wesen verwandtes Vorbild
hatte Wieland schon im Jahre 1758 in einem Briefe an seinen Freund Zimmer¬
mann für sich ein ähnliches Ideal entworfen, indem er schreibt: „Ich liebe alle
Arten von Vollkommenheiten in jedem Grade, ich achte alle Talente, alle Ver¬
dienste, alle Künste: ich liebe die menschliche Natur und verachte keinen Menschen
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