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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Wieland und das Humanitätsideal.

In den zu Berlin im Jahre 1765 erschienenen "Briefen über den itzigen Zustand
der schönen Wissenschaften in Teutschland" wird aber Wieland um des Gebrauchs
gewisser Worte willen getadelt. Unter den Ausdrücken, welche dem Kritiker
Anstoß erregen, befinden sich: zärtlich, lächelnd, Mädchen, Entzückung u. s. w.
Mit dem Worte fehlt aber auch die Sache, die dadurch bezeichnete Vorstellung
oder Empfindung; wenigstens als bewußte ist sie ohne das Wort nicht vor¬
handen. Die damalige Kritik wollte also dem zärtlichen und lächelnden Mädchen
sogar in der Poesie die Existenz verbieten, wollte das Entzücken nicht als eine
Seelenregung des deutschen Volkes gelte" lassen! Da war es höchste Zeit, daß
ein Wieland kam. Eine Äußerung der Klotzschen "Bibliothek der schönen Wissen¬
schaften" beweist, daß jener Kritiker, welcher vor der Entzückung zurückscheute,
in seinem Anspruch auf Nüchternheit und Plattheit des Stils wohl noch hinter
den Durchschnittslesern jener Zeit zurückgeblieben sein dürfte. Es wird nämlich
dort für die Wielandscheu Erzählungen wegen ihres "epischen Tones" bedacht¬
same Aufmerksamkeit verlangt, Gedankengang und Flug der Phantasie schien für
manchen schon zu schwierig und zu hoch, während der heutige Leser die Lektüre
selbst für das halbwache Denken einer Sommersiesta eher zu leicht finden möchte.

Wenn Genie, nach Goethe, diejenige Fähigkeit ist, welche Gesetz und Regel
feststellt, so darf Wieland die Genialität der sprachlichen Darstellung nicht
abgesprochen werden, wenigstens nicht für die Poesie. Die schalkhaft muntere
Laune, die gefällige Bonhommie, die gutmütig ironische Heiterkeit der Erzählung,
gepaart mit einer geistvoll behaglichen Lebhaftigkeit, haben für die deutsche
Dichtung einen neuen Ton und eine neue Gattung geschaffen. "Ganz ohne
Frage -- sagt Goethe in Wahrheit und Dichtung -- besaß Wieland unter
allen das schönste Naturell. Er hatte sich früh in jenen ideellen Regionen
ausgebildet, wo die Jugend so gern verweilt; da ihm aber diese durch das,
was man Erfahrung nennt, durch Begegnisse an Welt und Weibern verleidet
wurde, so warf er sich auf die Seite des Wirklichen, und gefiel sich und
andern im Widerstreit beider Welten, wo sich zwischen Scherz und Ernst, im
leichten Gefecht, sein Talent am allerschönsten zeigte. Wie manche seiner glän¬
zendsten Produktionen fallen in die Zeit meiner akademischen Jahre! Musanon
wirkte am meisten auf mich, und ich kann mich noch des Ortes und der Stelle
erinnern, wo ich den ersten Aushängebogen zu Gesicht bekam, welchen mir
Oeser mitteilte. Übrigens gab man diesen Werken sehr gern einen heitern
Widerwillen gegen erhöhte Gesinnungen zu, welche, bei leicht verfehlter An¬
wendung aufs Leben, öfters der Schwärmerei verdächtig werden." Gerade in
der Leipziger Zeit mußte Goethe am empfänglichsten sein für Einwirkungen
Wielands, und aus der angeführten Äußerung geht hervor, daß er sich wohl
bewußt war, wie viel er dem in manchem Betracht ihm wahlverwandten Vor¬
gänger verdankte. Welchen Eindruck die Erzeugnisse der Wielandschen Muse
in den Kreisen gebildeter Weltleute hervorbrachten, wird in aller Kürze durch


Wieland und das Humanitätsideal.

In den zu Berlin im Jahre 1765 erschienenen „Briefen über den itzigen Zustand
der schönen Wissenschaften in Teutschland" wird aber Wieland um des Gebrauchs
gewisser Worte willen getadelt. Unter den Ausdrücken, welche dem Kritiker
Anstoß erregen, befinden sich: zärtlich, lächelnd, Mädchen, Entzückung u. s. w.
Mit dem Worte fehlt aber auch die Sache, die dadurch bezeichnete Vorstellung
oder Empfindung; wenigstens als bewußte ist sie ohne das Wort nicht vor¬
handen. Die damalige Kritik wollte also dem zärtlichen und lächelnden Mädchen
sogar in der Poesie die Existenz verbieten, wollte das Entzücken nicht als eine
Seelenregung des deutschen Volkes gelte» lassen! Da war es höchste Zeit, daß
ein Wieland kam. Eine Äußerung der Klotzschen „Bibliothek der schönen Wissen¬
schaften" beweist, daß jener Kritiker, welcher vor der Entzückung zurückscheute,
in seinem Anspruch auf Nüchternheit und Plattheit des Stils wohl noch hinter
den Durchschnittslesern jener Zeit zurückgeblieben sein dürfte. Es wird nämlich
dort für die Wielandscheu Erzählungen wegen ihres „epischen Tones" bedacht¬
same Aufmerksamkeit verlangt, Gedankengang und Flug der Phantasie schien für
manchen schon zu schwierig und zu hoch, während der heutige Leser die Lektüre
selbst für das halbwache Denken einer Sommersiesta eher zu leicht finden möchte.

Wenn Genie, nach Goethe, diejenige Fähigkeit ist, welche Gesetz und Regel
feststellt, so darf Wieland die Genialität der sprachlichen Darstellung nicht
abgesprochen werden, wenigstens nicht für die Poesie. Die schalkhaft muntere
Laune, die gefällige Bonhommie, die gutmütig ironische Heiterkeit der Erzählung,
gepaart mit einer geistvoll behaglichen Lebhaftigkeit, haben für die deutsche
Dichtung einen neuen Ton und eine neue Gattung geschaffen. „Ganz ohne
Frage — sagt Goethe in Wahrheit und Dichtung — besaß Wieland unter
allen das schönste Naturell. Er hatte sich früh in jenen ideellen Regionen
ausgebildet, wo die Jugend so gern verweilt; da ihm aber diese durch das,
was man Erfahrung nennt, durch Begegnisse an Welt und Weibern verleidet
wurde, so warf er sich auf die Seite des Wirklichen, und gefiel sich und
andern im Widerstreit beider Welten, wo sich zwischen Scherz und Ernst, im
leichten Gefecht, sein Talent am allerschönsten zeigte. Wie manche seiner glän¬
zendsten Produktionen fallen in die Zeit meiner akademischen Jahre! Musanon
wirkte am meisten auf mich, und ich kann mich noch des Ortes und der Stelle
erinnern, wo ich den ersten Aushängebogen zu Gesicht bekam, welchen mir
Oeser mitteilte. Übrigens gab man diesen Werken sehr gern einen heitern
Widerwillen gegen erhöhte Gesinnungen zu, welche, bei leicht verfehlter An¬
wendung aufs Leben, öfters der Schwärmerei verdächtig werden." Gerade in
der Leipziger Zeit mußte Goethe am empfänglichsten sein für Einwirkungen
Wielands, und aus der angeführten Äußerung geht hervor, daß er sich wohl
bewußt war, wie viel er dem in manchem Betracht ihm wahlverwandten Vor¬
gänger verdankte. Welchen Eindruck die Erzeugnisse der Wielandschen Muse
in den Kreisen gebildeter Weltleute hervorbrachten, wird in aller Kürze durch


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[0534] Wieland und das Humanitätsideal. In den zu Berlin im Jahre 1765 erschienenen „Briefen über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Teutschland" wird aber Wieland um des Gebrauchs gewisser Worte willen getadelt. Unter den Ausdrücken, welche dem Kritiker Anstoß erregen, befinden sich: zärtlich, lächelnd, Mädchen, Entzückung u. s. w. Mit dem Worte fehlt aber auch die Sache, die dadurch bezeichnete Vorstellung oder Empfindung; wenigstens als bewußte ist sie ohne das Wort nicht vor¬ handen. Die damalige Kritik wollte also dem zärtlichen und lächelnden Mädchen sogar in der Poesie die Existenz verbieten, wollte das Entzücken nicht als eine Seelenregung des deutschen Volkes gelte» lassen! Da war es höchste Zeit, daß ein Wieland kam. Eine Äußerung der Klotzschen „Bibliothek der schönen Wissen¬ schaften" beweist, daß jener Kritiker, welcher vor der Entzückung zurückscheute, in seinem Anspruch auf Nüchternheit und Plattheit des Stils wohl noch hinter den Durchschnittslesern jener Zeit zurückgeblieben sein dürfte. Es wird nämlich dort für die Wielandscheu Erzählungen wegen ihres „epischen Tones" bedacht¬ same Aufmerksamkeit verlangt, Gedankengang und Flug der Phantasie schien für manchen schon zu schwierig und zu hoch, während der heutige Leser die Lektüre selbst für das halbwache Denken einer Sommersiesta eher zu leicht finden möchte. Wenn Genie, nach Goethe, diejenige Fähigkeit ist, welche Gesetz und Regel feststellt, so darf Wieland die Genialität der sprachlichen Darstellung nicht abgesprochen werden, wenigstens nicht für die Poesie. Die schalkhaft muntere Laune, die gefällige Bonhommie, die gutmütig ironische Heiterkeit der Erzählung, gepaart mit einer geistvoll behaglichen Lebhaftigkeit, haben für die deutsche Dichtung einen neuen Ton und eine neue Gattung geschaffen. „Ganz ohne Frage — sagt Goethe in Wahrheit und Dichtung — besaß Wieland unter allen das schönste Naturell. Er hatte sich früh in jenen ideellen Regionen ausgebildet, wo die Jugend so gern verweilt; da ihm aber diese durch das, was man Erfahrung nennt, durch Begegnisse an Welt und Weibern verleidet wurde, so warf er sich auf die Seite des Wirklichen, und gefiel sich und andern im Widerstreit beider Welten, wo sich zwischen Scherz und Ernst, im leichten Gefecht, sein Talent am allerschönsten zeigte. Wie manche seiner glän¬ zendsten Produktionen fallen in die Zeit meiner akademischen Jahre! Musanon wirkte am meisten auf mich, und ich kann mich noch des Ortes und der Stelle erinnern, wo ich den ersten Aushängebogen zu Gesicht bekam, welchen mir Oeser mitteilte. Übrigens gab man diesen Werken sehr gern einen heitern Widerwillen gegen erhöhte Gesinnungen zu, welche, bei leicht verfehlter An¬ wendung aufs Leben, öfters der Schwärmerei verdächtig werden." Gerade in der Leipziger Zeit mußte Goethe am empfänglichsten sein für Einwirkungen Wielands, und aus der angeführten Äußerung geht hervor, daß er sich wohl bewußt war, wie viel er dem in manchem Betracht ihm wahlverwandten Vor¬ gänger verdankte. Welchen Eindruck die Erzeugnisse der Wielandschen Muse in den Kreisen gebildeter Weltleute hervorbrachten, wird in aller Kürze durch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/534>, abgerufen am 22.07.2024.