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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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ZVielcmd und das Hiimanitcitsideal,

Zwecke zeigte sich Wiesand ohnedies sehr wenig bekümmert. Der Himmel,
dachte er, mag wohl ursprünglich uns zu Heiligen bestimmt haben, aber aus¬
führbar ist die Sache auf dieser Erde und unter den Bedingungen dieses Erden¬
lebens nicht; vielleicht einmal künftig ans einem andern Stern unter Verhält¬
nissen, die dem Spiritualismus günstiger sind. Wie es sich immer mit der
metaphysischen Natur und Bestimmung des Geistes verhalten möge, hier auf
Erden lehrt die Erfahrung, daß der Geist, wenn er sich vermißt, allen Rechten
des Fleisches Hohn zu sprechen, nnr sich selbst schmähliche Niederlagen bereitet;
daß der spiritualistische Fanatismus meist auf Selbstbetrug und Heuchelei be¬
ruht; daß er, auch wo er aus aufrichtiger Gesinnung hervorgeht, den ruhigen
und allseitigen Lebensgenuß, sowie das gegenseitige Wohlwollen stört, worin
gute und verständige Menschen den wünschenswerten Zustand erblicken müssen.

Der Geist, an und für sich betrachtet, konnte kein störendes Prinzip sein
in einer vernünftigen Weltordnung, aber wohl die einseitige Betonung seiner
Ansprüche, die überhitzte Schwärmerei, welche verkannte, daß in der vollkom¬
mensten der möglichen Welten Sinnengenuß und Seelenfrieden sich galten, wenn
nur Leib und Seele in ihren gegenseitigen Ansprüchen vernünftig Maß halten.
Der Mensch ist kein körperloses Wesen, folglich muß derjenige, der von dem
Grundsatze ausgeht: ^IWril dunrani a ins küicmum, vor allem das Körperliche
als ein wahrhaft Menschliches anerkennen. Für die Seele war in den bis¬
herigen Moraltheorien, namentlich den theologischen, überreichlich gesorgt; Wie¬
land hielt sich für berufen, auch dem bisher verkürzten Teile zu seinem Rechte
zu verhelfen. Diese Aufgabe war grundsätzlich berechtigt und für den weitern
Fortgang der Geistesentwicklung unsers Volkes notwendig. Als Durchgangs-
punkt zum Humanitätsideal ist Wieland und seine Thätigkeit nicht zu entbehren,
wie es auch immer um den künstlerischen Wert seiner poetischen Erzeugnisse,
den dauernden Wahrheitsgehalt seiner Welt- und Lebensbctrachtungen stehen möge.

Aus den Äußerungen der zeitgenössischen Kritik geht hervor, daß Wieland
schon mit den Schriften, die vor seiner Übersiedelung nach Norddeutschland in:
Jahre 1769 erschienen waren, sich nicht bloß Verehrer, sondern wahrhafte An¬
beter erworben hatte. Man muß also damals in ihm etwas Neues, Eigen¬
artiges, Hinreißendes gesunde" haben, was wir Späteren jetzt nur noch durch
kritische Vergleichung mit ander" literarischen Erzengnissen jener Zeit heraus¬
finden können. Da ist zunächst und i" erster Linie der Fortschritt in der
Sprache hervorzuheben. Wie sehr Wieland mittels angebornen Talentes
sich in Wortgebrauch und Wortbildung über die Schranken der damaligen
Poetischen Darstellung -- von der Klopstockscher allein abgesehen -- erhob, er¬
hellt sofort, wenn man eine" Blick wirft a"f eine der im Frühling 1752 von
Wieland verfaßten "Erzählungen," etwa die für seine Art so bezeichnende von
Zemin und Gulindy. Auch der anspruchsvollste moderne Leser wird nirgends
durch Unzulänglichkeit, Steifheit oder Plumpheit des Ausdrucks gestört werden.


ZVielcmd und das Hiimanitcitsideal,

Zwecke zeigte sich Wiesand ohnedies sehr wenig bekümmert. Der Himmel,
dachte er, mag wohl ursprünglich uns zu Heiligen bestimmt haben, aber aus¬
führbar ist die Sache auf dieser Erde und unter den Bedingungen dieses Erden¬
lebens nicht; vielleicht einmal künftig ans einem andern Stern unter Verhält¬
nissen, die dem Spiritualismus günstiger sind. Wie es sich immer mit der
metaphysischen Natur und Bestimmung des Geistes verhalten möge, hier auf
Erden lehrt die Erfahrung, daß der Geist, wenn er sich vermißt, allen Rechten
des Fleisches Hohn zu sprechen, nnr sich selbst schmähliche Niederlagen bereitet;
daß der spiritualistische Fanatismus meist auf Selbstbetrug und Heuchelei be¬
ruht; daß er, auch wo er aus aufrichtiger Gesinnung hervorgeht, den ruhigen
und allseitigen Lebensgenuß, sowie das gegenseitige Wohlwollen stört, worin
gute und verständige Menschen den wünschenswerten Zustand erblicken müssen.

Der Geist, an und für sich betrachtet, konnte kein störendes Prinzip sein
in einer vernünftigen Weltordnung, aber wohl die einseitige Betonung seiner
Ansprüche, die überhitzte Schwärmerei, welche verkannte, daß in der vollkom¬
mensten der möglichen Welten Sinnengenuß und Seelenfrieden sich galten, wenn
nur Leib und Seele in ihren gegenseitigen Ansprüchen vernünftig Maß halten.
Der Mensch ist kein körperloses Wesen, folglich muß derjenige, der von dem
Grundsatze ausgeht: ^IWril dunrani a ins küicmum, vor allem das Körperliche
als ein wahrhaft Menschliches anerkennen. Für die Seele war in den bis¬
herigen Moraltheorien, namentlich den theologischen, überreichlich gesorgt; Wie¬
land hielt sich für berufen, auch dem bisher verkürzten Teile zu seinem Rechte
zu verhelfen. Diese Aufgabe war grundsätzlich berechtigt und für den weitern
Fortgang der Geistesentwicklung unsers Volkes notwendig. Als Durchgangs-
punkt zum Humanitätsideal ist Wieland und seine Thätigkeit nicht zu entbehren,
wie es auch immer um den künstlerischen Wert seiner poetischen Erzeugnisse,
den dauernden Wahrheitsgehalt seiner Welt- und Lebensbctrachtungen stehen möge.

Aus den Äußerungen der zeitgenössischen Kritik geht hervor, daß Wieland
schon mit den Schriften, die vor seiner Übersiedelung nach Norddeutschland in:
Jahre 1769 erschienen waren, sich nicht bloß Verehrer, sondern wahrhafte An¬
beter erworben hatte. Man muß also damals in ihm etwas Neues, Eigen¬
artiges, Hinreißendes gesunde» haben, was wir Späteren jetzt nur noch durch
kritische Vergleichung mit ander» literarischen Erzengnissen jener Zeit heraus¬
finden können. Da ist zunächst und i» erster Linie der Fortschritt in der
Sprache hervorzuheben. Wie sehr Wieland mittels angebornen Talentes
sich in Wortgebrauch und Wortbildung über die Schranken der damaligen
Poetischen Darstellung — von der Klopstockscher allein abgesehen — erhob, er¬
hellt sofort, wenn man eine» Blick wirft a»f eine der im Frühling 1752 von
Wieland verfaßten „Erzählungen," etwa die für seine Art so bezeichnende von
Zemin und Gulindy. Auch der anspruchsvollste moderne Leser wird nirgends
durch Unzulänglichkeit, Steifheit oder Plumpheit des Ausdrucks gestört werden.


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[0533] ZVielcmd und das Hiimanitcitsideal, Zwecke zeigte sich Wiesand ohnedies sehr wenig bekümmert. Der Himmel, dachte er, mag wohl ursprünglich uns zu Heiligen bestimmt haben, aber aus¬ führbar ist die Sache auf dieser Erde und unter den Bedingungen dieses Erden¬ lebens nicht; vielleicht einmal künftig ans einem andern Stern unter Verhält¬ nissen, die dem Spiritualismus günstiger sind. Wie es sich immer mit der metaphysischen Natur und Bestimmung des Geistes verhalten möge, hier auf Erden lehrt die Erfahrung, daß der Geist, wenn er sich vermißt, allen Rechten des Fleisches Hohn zu sprechen, nnr sich selbst schmähliche Niederlagen bereitet; daß der spiritualistische Fanatismus meist auf Selbstbetrug und Heuchelei be¬ ruht; daß er, auch wo er aus aufrichtiger Gesinnung hervorgeht, den ruhigen und allseitigen Lebensgenuß, sowie das gegenseitige Wohlwollen stört, worin gute und verständige Menschen den wünschenswerten Zustand erblicken müssen. Der Geist, an und für sich betrachtet, konnte kein störendes Prinzip sein in einer vernünftigen Weltordnung, aber wohl die einseitige Betonung seiner Ansprüche, die überhitzte Schwärmerei, welche verkannte, daß in der vollkom¬ mensten der möglichen Welten Sinnengenuß und Seelenfrieden sich galten, wenn nur Leib und Seele in ihren gegenseitigen Ansprüchen vernünftig Maß halten. Der Mensch ist kein körperloses Wesen, folglich muß derjenige, der von dem Grundsatze ausgeht: ^IWril dunrani a ins küicmum, vor allem das Körperliche als ein wahrhaft Menschliches anerkennen. Für die Seele war in den bis¬ herigen Moraltheorien, namentlich den theologischen, überreichlich gesorgt; Wie¬ land hielt sich für berufen, auch dem bisher verkürzten Teile zu seinem Rechte zu verhelfen. Diese Aufgabe war grundsätzlich berechtigt und für den weitern Fortgang der Geistesentwicklung unsers Volkes notwendig. Als Durchgangs- punkt zum Humanitätsideal ist Wieland und seine Thätigkeit nicht zu entbehren, wie es auch immer um den künstlerischen Wert seiner poetischen Erzeugnisse, den dauernden Wahrheitsgehalt seiner Welt- und Lebensbctrachtungen stehen möge. Aus den Äußerungen der zeitgenössischen Kritik geht hervor, daß Wieland schon mit den Schriften, die vor seiner Übersiedelung nach Norddeutschland in: Jahre 1769 erschienen waren, sich nicht bloß Verehrer, sondern wahrhafte An¬ beter erworben hatte. Man muß also damals in ihm etwas Neues, Eigen¬ artiges, Hinreißendes gesunde» haben, was wir Späteren jetzt nur noch durch kritische Vergleichung mit ander» literarischen Erzengnissen jener Zeit heraus¬ finden können. Da ist zunächst und i» erster Linie der Fortschritt in der Sprache hervorzuheben. Wie sehr Wieland mittels angebornen Talentes sich in Wortgebrauch und Wortbildung über die Schranken der damaligen Poetischen Darstellung — von der Klopstockscher allein abgesehen — erhob, er¬ hellt sofort, wenn man eine» Blick wirft a»f eine der im Frühling 1752 von Wieland verfaßten „Erzählungen," etwa die für seine Art so bezeichnende von Zemin und Gulindy. Auch der anspruchsvollste moderne Leser wird nirgends durch Unzulänglichkeit, Steifheit oder Plumpheit des Ausdrucks gestört werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/533>, abgerufen am 22.07.2024.