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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Gevatter Tod.

Weil sie tot sind, mein Kind! erwiederte die Mutter.

Ach so! sagte Tippe und schwieg wieder eine Weile, denn über die Antwort
mußte er erst ein wenig nachdenken. Nachdem er damit fertig war, fuhr er
fort: Mutter, muß man denn immer die Augen zumachen, wenn man stirbt?
Hat auch der Bater seine Augen zugemacht?

Ja, mein Herzenskind! antwortete die Mutter ganz leise, und es war ihm,
als preßte sie ihn fester an sich, aber er hatte keine Zeit, weiter darüber nach¬
zudenken.

Mutter! fragte er wieder, warum machen denn die Menschen ihre Augen
zu, wenn sie sterben? Thun sie es, weil der Tod so häßlich ist, und die
Menschen sich vor seinem Anblick fürchten?

Der Tod ist nur häßlich, wenn man sich vor ihm fürchtet und ihn nicht
ordentlich anzusehen wagt! sagte die Mutter. Aber Tippe schien es, als würde
es ihr schwer, die Worte herauszubringen. Wenn man ihm nur stets, wo man
ihm auch begegnet, gerade in die Augen schaut, so erfährt man bald, welch
köstliches Geheimnis er in sich trägt, und dann muß man ihn auch lieb haben.
Wenn du erst groß bist, will ich dir das Geheimnis des Todes erzählen.

Das mochte ja nun recht schön sein; es ist immer angenehm etwas gut¬
zuhaben. Aber es kann oft zu lange währen, bis man groß wird; wenigstens
meinte das Tippe, und er war kein Freund von langem Warten.

Ja, aber warum machen denn die Menschen immer ihre Augen zu, wenn
sie sterben, wenn sie es nicht deswegen thun, weil sie sich vor dem häßliche"
Tode fürchten? fragte er etwas ungeduldig.

Das will dir sagen, Tippe, erwiederte die Mutter. Wenn der liebe Gott
meint, daß ein Mensch lange genug auf dieser Welt gelebt habe, dann schickt
er den Tod, und der trägt den Menschen hinauf in die Herrlichkeit des Himmels.
Aber dort scheint ein Licht, das ist hundertmal so hell als die Sonne, und
weder deine, noch meine, noch irgend eines Menschen Augen können es aus¬
halten, in dies Licht hineinzuschauen. Darum müssen alle Menschen ihre Augen
schließen. Aber wenn der Tod sie nun hinaufgebracht hat in den Himmel, so
küßt sie Gott auf die beiden Augen, und wenn sie sie dann wieder öffnen, so
können sie den Glanz und die Herrlichkeit des Himmels ertragen, ja sie ver¬
mögen sogar Gott selber in sein heiliges Antlitz zu schauen, und dann steht
der Tod vor ihnen wie ein schöner Engel Gottes. Kannst du das wohl ver¬
stehen, Tippe?

Das ist sehr schön! nicht wahr, Mutter? fragte Tippe und faltete nach¬
denklich die kleinen Hände. Kann denn jetzt auch der Vater die Herrlichkeit
des Himmels sehen? Auch jetzt, wo es dunkle Nacht ist?

Gewiß kann er das, antwortete die Mutter, und diesmal ward es ihr
nicht schwer, die Worte hervorzubringen, sie klangen so hell und freudig. Tippe
aber saß lange in Gedanken versunken da, und als er mit dem Nachdenken


Gevatter Tod.

Weil sie tot sind, mein Kind! erwiederte die Mutter.

Ach so! sagte Tippe und schwieg wieder eine Weile, denn über die Antwort
mußte er erst ein wenig nachdenken. Nachdem er damit fertig war, fuhr er
fort: Mutter, muß man denn immer die Augen zumachen, wenn man stirbt?
Hat auch der Bater seine Augen zugemacht?

Ja, mein Herzenskind! antwortete die Mutter ganz leise, und es war ihm,
als preßte sie ihn fester an sich, aber er hatte keine Zeit, weiter darüber nach¬
zudenken.

Mutter! fragte er wieder, warum machen denn die Menschen ihre Augen
zu, wenn sie sterben? Thun sie es, weil der Tod so häßlich ist, und die
Menschen sich vor seinem Anblick fürchten?

Der Tod ist nur häßlich, wenn man sich vor ihm fürchtet und ihn nicht
ordentlich anzusehen wagt! sagte die Mutter. Aber Tippe schien es, als würde
es ihr schwer, die Worte herauszubringen. Wenn man ihm nur stets, wo man
ihm auch begegnet, gerade in die Augen schaut, so erfährt man bald, welch
köstliches Geheimnis er in sich trägt, und dann muß man ihn auch lieb haben.
Wenn du erst groß bist, will ich dir das Geheimnis des Todes erzählen.

Das mochte ja nun recht schön sein; es ist immer angenehm etwas gut¬
zuhaben. Aber es kann oft zu lange währen, bis man groß wird; wenigstens
meinte das Tippe, und er war kein Freund von langem Warten.

Ja, aber warum machen denn die Menschen immer ihre Augen zu, wenn
sie sterben, wenn sie es nicht deswegen thun, weil sie sich vor dem häßliche»
Tode fürchten? fragte er etwas ungeduldig.

Das will dir sagen, Tippe, erwiederte die Mutter. Wenn der liebe Gott
meint, daß ein Mensch lange genug auf dieser Welt gelebt habe, dann schickt
er den Tod, und der trägt den Menschen hinauf in die Herrlichkeit des Himmels.
Aber dort scheint ein Licht, das ist hundertmal so hell als die Sonne, und
weder deine, noch meine, noch irgend eines Menschen Augen können es aus¬
halten, in dies Licht hineinzuschauen. Darum müssen alle Menschen ihre Augen
schließen. Aber wenn der Tod sie nun hinaufgebracht hat in den Himmel, so
küßt sie Gott auf die beiden Augen, und wenn sie sie dann wieder öffnen, so
können sie den Glanz und die Herrlichkeit des Himmels ertragen, ja sie ver¬
mögen sogar Gott selber in sein heiliges Antlitz zu schauen, und dann steht
der Tod vor ihnen wie ein schöner Engel Gottes. Kannst du das wohl ver¬
stehen, Tippe?

Das ist sehr schön! nicht wahr, Mutter? fragte Tippe und faltete nach¬
denklich die kleinen Hände. Kann denn jetzt auch der Vater die Herrlichkeit
des Himmels sehen? Auch jetzt, wo es dunkle Nacht ist?

Gewiß kann er das, antwortete die Mutter, und diesmal ward es ihr
nicht schwer, die Worte hervorzubringen, sie klangen so hell und freudig. Tippe
aber saß lange in Gedanken versunken da, und als er mit dem Nachdenken


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[0504] Gevatter Tod. Weil sie tot sind, mein Kind! erwiederte die Mutter. Ach so! sagte Tippe und schwieg wieder eine Weile, denn über die Antwort mußte er erst ein wenig nachdenken. Nachdem er damit fertig war, fuhr er fort: Mutter, muß man denn immer die Augen zumachen, wenn man stirbt? Hat auch der Bater seine Augen zugemacht? Ja, mein Herzenskind! antwortete die Mutter ganz leise, und es war ihm, als preßte sie ihn fester an sich, aber er hatte keine Zeit, weiter darüber nach¬ zudenken. Mutter! fragte er wieder, warum machen denn die Menschen ihre Augen zu, wenn sie sterben? Thun sie es, weil der Tod so häßlich ist, und die Menschen sich vor seinem Anblick fürchten? Der Tod ist nur häßlich, wenn man sich vor ihm fürchtet und ihn nicht ordentlich anzusehen wagt! sagte die Mutter. Aber Tippe schien es, als würde es ihr schwer, die Worte herauszubringen. Wenn man ihm nur stets, wo man ihm auch begegnet, gerade in die Augen schaut, so erfährt man bald, welch köstliches Geheimnis er in sich trägt, und dann muß man ihn auch lieb haben. Wenn du erst groß bist, will ich dir das Geheimnis des Todes erzählen. Das mochte ja nun recht schön sein; es ist immer angenehm etwas gut¬ zuhaben. Aber es kann oft zu lange währen, bis man groß wird; wenigstens meinte das Tippe, und er war kein Freund von langem Warten. Ja, aber warum machen denn die Menschen immer ihre Augen zu, wenn sie sterben, wenn sie es nicht deswegen thun, weil sie sich vor dem häßliche» Tode fürchten? fragte er etwas ungeduldig. Das will dir sagen, Tippe, erwiederte die Mutter. Wenn der liebe Gott meint, daß ein Mensch lange genug auf dieser Welt gelebt habe, dann schickt er den Tod, und der trägt den Menschen hinauf in die Herrlichkeit des Himmels. Aber dort scheint ein Licht, das ist hundertmal so hell als die Sonne, und weder deine, noch meine, noch irgend eines Menschen Augen können es aus¬ halten, in dies Licht hineinzuschauen. Darum müssen alle Menschen ihre Augen schließen. Aber wenn der Tod sie nun hinaufgebracht hat in den Himmel, so küßt sie Gott auf die beiden Augen, und wenn sie sie dann wieder öffnen, so können sie den Glanz und die Herrlichkeit des Himmels ertragen, ja sie ver¬ mögen sogar Gott selber in sein heiliges Antlitz zu schauen, und dann steht der Tod vor ihnen wie ein schöner Engel Gottes. Kannst du das wohl ver¬ stehen, Tippe? Das ist sehr schön! nicht wahr, Mutter? fragte Tippe und faltete nach¬ denklich die kleinen Hände. Kann denn jetzt auch der Vater die Herrlichkeit des Himmels sehen? Auch jetzt, wo es dunkle Nacht ist? Gewiß kann er das, antwortete die Mutter, und diesmal ward es ihr nicht schwer, die Worte hervorzubringen, sie klangen so hell und freudig. Tippe aber saß lange in Gedanken versunken da, und als er mit dem Nachdenken

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/504>, abgerufen am 22.07.2024.