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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Gevatter Tod.

Süppchen essen sollte. Er war damals gerade so weit, das; er kriechen konnte,
und er verbrachte den größten Teil des Tages außerhalb der Wiege, und eben
war der alte Jens bei ihm gewesen und schickte sich jetzt an, zu gehen. Aber
daraus wurde nichts, denn Tippe hat es sich um einmal in den Kopf gesetzt
und gab es in seiner Sprache deutlich zu erkennen, daß er noch nicht gehen
sollte. Ja der Kleine weigerte sich sogar standhaft, auch nur einen einzigen
Löffel von seiner Suppe zu essen, bis sich der alte Jens zu ihm setzte und den
Löffel in die Hand nahm. Sein Süppchen mußte Tippe ja natürlich haben,
so blieb denn dem alten Jens nichts übrig, als ihn zu füttern. Das that er
mit großer Sorgfalt und großem Ernst, und wenn er vielleicht noch ein bischen
ungeschickt dabei war -- er hatte ja keine weitere Übung --, so bemühte er sich
dafür umsomehr und suchte Tippe die Sache annehmbar zu machen, indem er
jedesmal, wenn er sich mit dem Löffel Tippes Mund näherte, den seinen weit
aufsperrte. Ob Tippe uun dadurch auf den Gedanken kam, oder ob er sich die
Sache von Anfang an vorgenommen hatte, darüber läßt sich streiten; eines
aber steht fest: gerade als der alte Jens ihm mit sinnigem Ernste einen Löffel
Suppe zum Munde führen wollte, ergriff Tippe plötzlich den Löffelstiel mit
seiner kleinen, dicken, rosigen Hand, drehte den Löffel schnell um und schob ihn
mit großer Gewandtheit in den weit geöffneten Mund des Alten. Dies ging
so schnell und sicher wie eine wohlgezielte Kugel, und nun saß der alte Jens
ganz unvermutet in der Klemme. Auf der einen Seite hatte er seine Grund¬
sätze, und die waren fest genug, und auf der andern Seite saß er mit einem
Löffel Suppe im Munde, und den konnte er nicht festhalten, der war hinunter¬
geschluckt, ehe er es selber wußte. Da konnten denn die Grundsätze so uner¬
schütterlich sein, wie sie wollten, es kümmerte sich doch niemand mehr um sie.

Tippe lachte so seelenvergnügt, daß der alte Jens mit lachen mußte, und
von Stund an teilte Tippe mit strenger Gerechtigkeit seine Suppe mit dem
Alten; den einen Löffel nahm er selber, ohne Einwendungen dagegen zu machen,-
und den andern lenkte er ebenso sicher in den Mund des alten Jens.

Auf diese Weise aßen sie zum erstenmale mit einander zu Mittag, und
der alte Jens hatte seine erste Lehrstunde in der Geselligkeit erhalten. Diese
war sowohl für ihn als auch für Tippe von Nutze" gewesen, sie hatten beide
Frende davon gehabt, und dadurch erleichterten sie sich die Wiederholung. Tippe
war nicht derjenige, der einen guten Anfang unbenutzt liegen ließ, und die
Mutter kam ihm so unmerklich, aber mit desto unwiderstehlicherer Kraft zu
Hilfe, daß der Widerstand des alten Jens nach jeder neuen Stunde, die er er¬
hielt, schwächer und schwächer ward, bis sich zuletzt ein gewisses gemütliches
Gepwge von Geselligkeit an ihm bemerkbar machte. Und endlich kam die Zeit,
wo es zur Tagesordnung wurde, daß das alte Kind und der junge Schulmeister
ihre Mahlzeiten gemeinsam einnahmen.

Und nun die Reinlichkeit! Die gehört auch zu den Dingen, welche einen


Gevatter Tod.

Süppchen essen sollte. Er war damals gerade so weit, das; er kriechen konnte,
und er verbrachte den größten Teil des Tages außerhalb der Wiege, und eben
war der alte Jens bei ihm gewesen und schickte sich jetzt an, zu gehen. Aber
daraus wurde nichts, denn Tippe hat es sich um einmal in den Kopf gesetzt
und gab es in seiner Sprache deutlich zu erkennen, daß er noch nicht gehen
sollte. Ja der Kleine weigerte sich sogar standhaft, auch nur einen einzigen
Löffel von seiner Suppe zu essen, bis sich der alte Jens zu ihm setzte und den
Löffel in die Hand nahm. Sein Süppchen mußte Tippe ja natürlich haben,
so blieb denn dem alten Jens nichts übrig, als ihn zu füttern. Das that er
mit großer Sorgfalt und großem Ernst, und wenn er vielleicht noch ein bischen
ungeschickt dabei war — er hatte ja keine weitere Übung —, so bemühte er sich
dafür umsomehr und suchte Tippe die Sache annehmbar zu machen, indem er
jedesmal, wenn er sich mit dem Löffel Tippes Mund näherte, den seinen weit
aufsperrte. Ob Tippe uun dadurch auf den Gedanken kam, oder ob er sich die
Sache von Anfang an vorgenommen hatte, darüber läßt sich streiten; eines
aber steht fest: gerade als der alte Jens ihm mit sinnigem Ernste einen Löffel
Suppe zum Munde führen wollte, ergriff Tippe plötzlich den Löffelstiel mit
seiner kleinen, dicken, rosigen Hand, drehte den Löffel schnell um und schob ihn
mit großer Gewandtheit in den weit geöffneten Mund des Alten. Dies ging
so schnell und sicher wie eine wohlgezielte Kugel, und nun saß der alte Jens
ganz unvermutet in der Klemme. Auf der einen Seite hatte er seine Grund¬
sätze, und die waren fest genug, und auf der andern Seite saß er mit einem
Löffel Suppe im Munde, und den konnte er nicht festhalten, der war hinunter¬
geschluckt, ehe er es selber wußte. Da konnten denn die Grundsätze so uner¬
schütterlich sein, wie sie wollten, es kümmerte sich doch niemand mehr um sie.

Tippe lachte so seelenvergnügt, daß der alte Jens mit lachen mußte, und
von Stund an teilte Tippe mit strenger Gerechtigkeit seine Suppe mit dem
Alten; den einen Löffel nahm er selber, ohne Einwendungen dagegen zu machen,-
und den andern lenkte er ebenso sicher in den Mund des alten Jens.

Auf diese Weise aßen sie zum erstenmale mit einander zu Mittag, und
der alte Jens hatte seine erste Lehrstunde in der Geselligkeit erhalten. Diese
war sowohl für ihn als auch für Tippe von Nutze« gewesen, sie hatten beide
Frende davon gehabt, und dadurch erleichterten sie sich die Wiederholung. Tippe
war nicht derjenige, der einen guten Anfang unbenutzt liegen ließ, und die
Mutter kam ihm so unmerklich, aber mit desto unwiderstehlicherer Kraft zu
Hilfe, daß der Widerstand des alten Jens nach jeder neuen Stunde, die er er¬
hielt, schwächer und schwächer ward, bis sich zuletzt ein gewisses gemütliches
Gepwge von Geselligkeit an ihm bemerkbar machte. Und endlich kam die Zeit,
wo es zur Tagesordnung wurde, daß das alte Kind und der junge Schulmeister
ihre Mahlzeiten gemeinsam einnahmen.

Und nun die Reinlichkeit! Die gehört auch zu den Dingen, welche einen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/499>, abgerufen am 22.07.2024.