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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

möglich ist, und mit dem Gefühl kam zugleich der Einfall, nicht aus den Ge¬
danken, die den Vorgang nur beobachteten, sondern aus dem Grunde der Seele,
die bei aller großen Bewegung zugleich tief in sich still und klar war, wie es
uns nur die Silberblicke dieses Lebens bringen: in so einem Augenblicke ist es
einem, als möchte man sterben.

Der Tag, der dann folgte, hielt den Versprechungen, die jener Ausblick
gegeben hatte, ganz trefflich Wort, wir genossen eins von den Thälern, die
Lcmgencm genannt, mit aller Freude, die ein solches Stückchen Erde bei solcher
Stimmung und schönstem Sommerwetter geben kann, gefärbt durch den Hauch
süddeutschen Wesens, das den Norddeutschen besonders im Frankenlande so
wohlig und noch leicht zugänglich anwehe. Der Grundklang der Stimmung
blieb eine große reine, ich möchte sagen breite Freude wie über eine köstliche
Entdeckung, auch Spaß und Scherz aller Art blieb nicht aus, als heitere
Verbrämung der Grundstimmung. Anlaß zu köstlichem Scherz und Necken
zwischen Münnlein und Weiblein gab z. B. ein Eintrag im Fremdenbuche des
Forsthauses:

Die Oberhand aber behielt jener Eindruck vom Morgen an der bairischen
Grenze vor Nordhalben, und als ich am Abend mit meiner Tochter die Ge¬
danken austauschte, hörte ich zu meiner Überraschung, daß es ihr dort mit dem
Gedanken ans Sterben ebenso gegangen war. Ich wünschte jetzt, ich hätte auch
bei andern Teilnehmern darnach gefragt, aber man trägt ja Scheu, solche zarte
Dinge aus sich hinauszugehen, sie gehen leichter noch aus der Feder, als über
die Lippen. Daß es aber keine bloße Anwandlung persönlicher Laune ohne
allgemeineren Wert war, dafür bürgt mir außer jenem zweiten Zeugnis auch
das Bekenntnis andrer, recht gesunder Naturen, daß sie gleiches erfahren haben,
während es mir vorher und nachher nie mehr vorgekommen ist. Besonders
bürgt aber dafür, daß in Italien die Erfahrung in einem Sprichwort aus¬
geprägt ist, an das ich damals mit keiner Silbe dachte, denn alle gelehrten
Gedanken waren da einmal wie ausgefegt aus der Seele, ein Sprichwort zum
Preis der Schönheit von Neapel: vsäsre Mxoli <z xoi rnorirs.

Da liegt denn eine Erfahrung vor, die den Wert einer natürlichen Er¬
scheinung im Leben der menschlichen Seele hat und, da sie nur aus der innersten
Tiefe (und darum wohl eben selten) zu Tage tritt, wohl zu verwenden ist als
Wegweiser, um das Seelenleben eben in seine geheime Tiefe zu verfolgen, in
welcher sein eigentlicher Zusammenhang, unmittelbarer, nicht bloß vermittelter,
mit der innersten Tiefe und dem großen Zusammenhange des Weltganzen selbst
zu suchen ist. Man möchte sterben -- gerade mitten im vollsten, schönsten


Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

möglich ist, und mit dem Gefühl kam zugleich der Einfall, nicht aus den Ge¬
danken, die den Vorgang nur beobachteten, sondern aus dem Grunde der Seele,
die bei aller großen Bewegung zugleich tief in sich still und klar war, wie es
uns nur die Silberblicke dieses Lebens bringen: in so einem Augenblicke ist es
einem, als möchte man sterben.

Der Tag, der dann folgte, hielt den Versprechungen, die jener Ausblick
gegeben hatte, ganz trefflich Wort, wir genossen eins von den Thälern, die
Lcmgencm genannt, mit aller Freude, die ein solches Stückchen Erde bei solcher
Stimmung und schönstem Sommerwetter geben kann, gefärbt durch den Hauch
süddeutschen Wesens, das den Norddeutschen besonders im Frankenlande so
wohlig und noch leicht zugänglich anwehe. Der Grundklang der Stimmung
blieb eine große reine, ich möchte sagen breite Freude wie über eine köstliche
Entdeckung, auch Spaß und Scherz aller Art blieb nicht aus, als heitere
Verbrämung der Grundstimmung. Anlaß zu köstlichem Scherz und Necken
zwischen Münnlein und Weiblein gab z. B. ein Eintrag im Fremdenbuche des
Forsthauses:

Die Oberhand aber behielt jener Eindruck vom Morgen an der bairischen
Grenze vor Nordhalben, und als ich am Abend mit meiner Tochter die Ge¬
danken austauschte, hörte ich zu meiner Überraschung, daß es ihr dort mit dem
Gedanken ans Sterben ebenso gegangen war. Ich wünschte jetzt, ich hätte auch
bei andern Teilnehmern darnach gefragt, aber man trägt ja Scheu, solche zarte
Dinge aus sich hinauszugehen, sie gehen leichter noch aus der Feder, als über
die Lippen. Daß es aber keine bloße Anwandlung persönlicher Laune ohne
allgemeineren Wert war, dafür bürgt mir außer jenem zweiten Zeugnis auch
das Bekenntnis andrer, recht gesunder Naturen, daß sie gleiches erfahren haben,
während es mir vorher und nachher nie mehr vorgekommen ist. Besonders
bürgt aber dafür, daß in Italien die Erfahrung in einem Sprichwort aus¬
geprägt ist, an das ich damals mit keiner Silbe dachte, denn alle gelehrten
Gedanken waren da einmal wie ausgefegt aus der Seele, ein Sprichwort zum
Preis der Schönheit von Neapel: vsäsre Mxoli <z xoi rnorirs.

Da liegt denn eine Erfahrung vor, die den Wert einer natürlichen Er¬
scheinung im Leben der menschlichen Seele hat und, da sie nur aus der innersten
Tiefe (und darum wohl eben selten) zu Tage tritt, wohl zu verwenden ist als
Wegweiser, um das Seelenleben eben in seine geheime Tiefe zu verfolgen, in
welcher sein eigentlicher Zusammenhang, unmittelbarer, nicht bloß vermittelter,
mit der innersten Tiefe und dem großen Zusammenhange des Weltganzen selbst
zu suchen ist. Man möchte sterben — gerade mitten im vollsten, schönsten


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[0048] Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen. möglich ist, und mit dem Gefühl kam zugleich der Einfall, nicht aus den Ge¬ danken, die den Vorgang nur beobachteten, sondern aus dem Grunde der Seele, die bei aller großen Bewegung zugleich tief in sich still und klar war, wie es uns nur die Silberblicke dieses Lebens bringen: in so einem Augenblicke ist es einem, als möchte man sterben. Der Tag, der dann folgte, hielt den Versprechungen, die jener Ausblick gegeben hatte, ganz trefflich Wort, wir genossen eins von den Thälern, die Lcmgencm genannt, mit aller Freude, die ein solches Stückchen Erde bei solcher Stimmung und schönstem Sommerwetter geben kann, gefärbt durch den Hauch süddeutschen Wesens, das den Norddeutschen besonders im Frankenlande so wohlig und noch leicht zugänglich anwehe. Der Grundklang der Stimmung blieb eine große reine, ich möchte sagen breite Freude wie über eine köstliche Entdeckung, auch Spaß und Scherz aller Art blieb nicht aus, als heitere Verbrämung der Grundstimmung. Anlaß zu köstlichem Scherz und Necken zwischen Münnlein und Weiblein gab z. B. ein Eintrag im Fremdenbuche des Forsthauses: Die Oberhand aber behielt jener Eindruck vom Morgen an der bairischen Grenze vor Nordhalben, und als ich am Abend mit meiner Tochter die Ge¬ danken austauschte, hörte ich zu meiner Überraschung, daß es ihr dort mit dem Gedanken ans Sterben ebenso gegangen war. Ich wünschte jetzt, ich hätte auch bei andern Teilnehmern darnach gefragt, aber man trägt ja Scheu, solche zarte Dinge aus sich hinauszugehen, sie gehen leichter noch aus der Feder, als über die Lippen. Daß es aber keine bloße Anwandlung persönlicher Laune ohne allgemeineren Wert war, dafür bürgt mir außer jenem zweiten Zeugnis auch das Bekenntnis andrer, recht gesunder Naturen, daß sie gleiches erfahren haben, während es mir vorher und nachher nie mehr vorgekommen ist. Besonders bürgt aber dafür, daß in Italien die Erfahrung in einem Sprichwort aus¬ geprägt ist, an das ich damals mit keiner Silbe dachte, denn alle gelehrten Gedanken waren da einmal wie ausgefegt aus der Seele, ein Sprichwort zum Preis der Schönheit von Neapel: vsäsre Mxoli <z xoi rnorirs. Da liegt denn eine Erfahrung vor, die den Wert einer natürlichen Er¬ scheinung im Leben der menschlichen Seele hat und, da sie nur aus der innersten Tiefe (und darum wohl eben selten) zu Tage tritt, wohl zu verwenden ist als Wegweiser, um das Seelenleben eben in seine geheime Tiefe zu verfolgen, in welcher sein eigentlicher Zusammenhang, unmittelbarer, nicht bloß vermittelter, mit der innersten Tiefe und dem großen Zusammenhange des Weltganzen selbst zu suchen ist. Man möchte sterben — gerade mitten im vollsten, schönsten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/48>, abgerufen am 22.07.2024.