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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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rischen, socialen Geschichte im Gewebe des Ganzen. Es handelt sich bei den,
Wechsel im Grunde Wohl immer darum, was einer Zeit und den Zeitgenossen
das Leben gewährt oder was sie ihm abzugewinnen wissen, aber auch darum,
was sie in sich für einen Begriff vom Leben haben und von ihm in Anspruch
nehmen, und eben darin findet eine stetig wechselnde Verschiebung statt, die sich
um eine aufzufindende rechte Mitte bewegt. Die Stimmung des heutigen Zeit¬
geistes darf auf der eiuen Seite als ein Zeugnis gelten, daß er entschlossen ist,
all seine Kräfte und all sein Streben ungeteilt auf die gegebene Welt zu richten,
in dem gegebenen Leben seine volle Genüge zu suchen, und das ist gewiß richtig
und gut. Aber dem steht gegenüber eine andre Seite dieser Stimmung, daß
nämlich der Zeitgeist sich immer mehr gewöhnen will, hinter diesem Leben und
dieser Welt, die er wieder in ihr volles Recht einsetzen will, ein Nichts zu
denken, und das ist weder richtig noch gut. Eben davon soll kurz die Rede
sein, nicht vom religiösen oder philosophischen Standpunkte, die ich dabei voll
und herzlich gelten lasse, sondern vom Standpunkte eignen Erlebens, das für
sich selbst redet.

Wenn man sonst im gesunden, frischen Leben und Streben die Gedanken
an sei" Sterben von sich hält als lähmend, wie denn, wenn sie doch auch ge¬
rade mitten in der Freude von selbst auftreten und der Freude erst die Krone
aufsetzen? Und das kommt vor.

Wir fuhren einmal, eine kleine Gesellschaft, eines Morgens im südöstlichen
Thüringen auf einem offenen Jcigdwagcn, der einem von der Gegend gar nichts
raubt, dem Frankenwalde zu und kamen da plötzlich aus einem langen Walde auf
einer Höhe heraus, am Rande einer offenen Hochfläche, die mit einem male einen
weiten Blick gab in das schöne Land nach Süden hinein und darüber hin, daß die
heitern Gespräche verstummten und sich alles dem überraschenden Blicke hingab. Es
war ein rechtes Musterstück mitteldeutscher Berglandschaft, langgestreckte waldige
Höhenzüge einer hinter dem andern mit gesehenen und geahnten grünen Thälern
voller Leben dazwischen, alles zusammen gerade weit genug, um das Gefühl
eines in sich geschlossenen Ganzen zu geben, dessen Ende man nicht absah und
das man doch mit Auge und Sinn und der ergänzenden Ahnung umspannen
konnte, ein großes Stück herrlichstes deutsches Leben, wie ein rein faßbares Bild
des schönsten deutschen Ganzen. Mir zumal war es, als ob ich von Franken,
Mainland, Schwaben, Breisgau u. s. w., die ich vor Jahren als Student
einmal durchwandert hatte, all die landschaftliche Schönheit dieser Gaue, wie
sie sich als Schlußergebnis der Reise im innern Sinne zu einem Ganzen halb
traumhaft gesammelt hatte, hier auf einmal wieder mit Augen vor mir sähe in
einem Probestück, das sür das Ganze eintreten konnte, sodaß mich auf einmal
auch die Freude und Wonne, die damals sich als Summe der Wanderung in
der Seele niedergelegt hatte, wieder nach langen Jahren lebendig durchzuckte.
Da leuchtete es in mir auf vom Gefühl des vollsten schönen Lebens, das


rischen, socialen Geschichte im Gewebe des Ganzen. Es handelt sich bei den,
Wechsel im Grunde Wohl immer darum, was einer Zeit und den Zeitgenossen
das Leben gewährt oder was sie ihm abzugewinnen wissen, aber auch darum,
was sie in sich für einen Begriff vom Leben haben und von ihm in Anspruch
nehmen, und eben darin findet eine stetig wechselnde Verschiebung statt, die sich
um eine aufzufindende rechte Mitte bewegt. Die Stimmung des heutigen Zeit¬
geistes darf auf der eiuen Seite als ein Zeugnis gelten, daß er entschlossen ist,
all seine Kräfte und all sein Streben ungeteilt auf die gegebene Welt zu richten,
in dem gegebenen Leben seine volle Genüge zu suchen, und das ist gewiß richtig
und gut. Aber dem steht gegenüber eine andre Seite dieser Stimmung, daß
nämlich der Zeitgeist sich immer mehr gewöhnen will, hinter diesem Leben und
dieser Welt, die er wieder in ihr volles Recht einsetzen will, ein Nichts zu
denken, und das ist weder richtig noch gut. Eben davon soll kurz die Rede
sein, nicht vom religiösen oder philosophischen Standpunkte, die ich dabei voll
und herzlich gelten lasse, sondern vom Standpunkte eignen Erlebens, das für
sich selbst redet.

Wenn man sonst im gesunden, frischen Leben und Streben die Gedanken
an sei» Sterben von sich hält als lähmend, wie denn, wenn sie doch auch ge¬
rade mitten in der Freude von selbst auftreten und der Freude erst die Krone
aufsetzen? Und das kommt vor.

Wir fuhren einmal, eine kleine Gesellschaft, eines Morgens im südöstlichen
Thüringen auf einem offenen Jcigdwagcn, der einem von der Gegend gar nichts
raubt, dem Frankenwalde zu und kamen da plötzlich aus einem langen Walde auf
einer Höhe heraus, am Rande einer offenen Hochfläche, die mit einem male einen
weiten Blick gab in das schöne Land nach Süden hinein und darüber hin, daß die
heitern Gespräche verstummten und sich alles dem überraschenden Blicke hingab. Es
war ein rechtes Musterstück mitteldeutscher Berglandschaft, langgestreckte waldige
Höhenzüge einer hinter dem andern mit gesehenen und geahnten grünen Thälern
voller Leben dazwischen, alles zusammen gerade weit genug, um das Gefühl
eines in sich geschlossenen Ganzen zu geben, dessen Ende man nicht absah und
das man doch mit Auge und Sinn und der ergänzenden Ahnung umspannen
konnte, ein großes Stück herrlichstes deutsches Leben, wie ein rein faßbares Bild
des schönsten deutschen Ganzen. Mir zumal war es, als ob ich von Franken,
Mainland, Schwaben, Breisgau u. s. w., die ich vor Jahren als Student
einmal durchwandert hatte, all die landschaftliche Schönheit dieser Gaue, wie
sie sich als Schlußergebnis der Reise im innern Sinne zu einem Ganzen halb
traumhaft gesammelt hatte, hier auf einmal wieder mit Augen vor mir sähe in
einem Probestück, das sür das Ganze eintreten konnte, sodaß mich auf einmal
auch die Freude und Wonne, die damals sich als Summe der Wanderung in
der Seele niedergelegt hatte, wieder nach langen Jahren lebendig durchzuckte.
Da leuchtete es in mir auf vom Gefühl des vollsten schönen Lebens, das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/47>, abgerufen am 22.07.2024.