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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosoxhen.

Mit der Autorität, aber leider nicht mit dem Geiste Schopenhauers hat sich
in manchen der Philosophie sehr abgekehrten Kreisen, vornehmlich aber in der
"Gesellschaft," nach und nach eine Art freien Lästerkomments gegen Hegel heraus¬
gebildet, an dem sich sogar die grünende Jugend (man kann ja im trauernden
Hinblick auf unsre "Lyceen" fast sagen: beiderlei Geschlechts) zu üben berechtigt
glaubt. Treffend könnte sich hier an ihm selbst ein Wort aus diesen Briefen
bewähren, das Hegel in früher Zeit an Schelling schrieb: "Später hat die
Menge, die mir mit dem Strome ihrer Zeit fortschwimmt, mit Verwunderung
gefunden, daß die Werke, die sie in der Polemik vom Hörensagen als längst
widerlegte Irrtümer enthaltend kennen lernte, wenn sie zufälligerweise selbst ein
solches zu Gesicht bekommen -- das herrschende System ihrer Zeit enthalten."




Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen"
6. (Ltwas vom Sterben.

a beim letzten male die Rede am Ende aufs Sterben kam, nicht
in düsterm Sinne, denke ich, denn die Schönheit, die höchste
Menschcnschönheit, führte von selbst darauf, so mag gleich noch
etwas vom Sterben folgen, aber auch nichts Finsteres, eher etwas
Heiteres, wenigstens Helles.

1. Vom Denken ans Sterben.

Wenn es heutzutage ein ausgeprägter Zug im Charakter des Zeitgeistes
ist, daß man den Gedanken an das Sterben möglichst aus dem Wege geht, so
darf man darin an und für sich einen unzweifelhaften Fortschritt erkennen gegen
vorige Zeiten, wo man geneigt war oder aufgefordert wurde, die Gedanken an
" den eignen Tod sich fortwährend gegenwärtig zu halten. Die verschiednen Zeit¬
geister (wenn die Form erlaubt ist) verhalten sich nämlich sehr verschieden zu
jenen Gedanken, mit Meiden oder Suchen, auch mit Fürchten oder mutigen
und selbst trotzigem Anschauen der Vorstellung des Todes, der allen sicherer
bevorsteht als irgend etwas. Die tiefern Ursachen dieses verschiednen Verhaltens
zu erörtern und auf diesem Wege das Rechte zu finden, das wäre schon wichtig
genug, es spinnt sich darin ein Grundfäden ab, der in seiner Art für den Ein¬
zelnen wie für das Ganze fo wichtig ist wie der Faden der politischen, litera-


Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosoxhen.

Mit der Autorität, aber leider nicht mit dem Geiste Schopenhauers hat sich
in manchen der Philosophie sehr abgekehrten Kreisen, vornehmlich aber in der
„Gesellschaft," nach und nach eine Art freien Lästerkomments gegen Hegel heraus¬
gebildet, an dem sich sogar die grünende Jugend (man kann ja im trauernden
Hinblick auf unsre „Lyceen" fast sagen: beiderlei Geschlechts) zu üben berechtigt
glaubt. Treffend könnte sich hier an ihm selbst ein Wort aus diesen Briefen
bewähren, das Hegel in früher Zeit an Schelling schrieb: „Später hat die
Menge, die mir mit dem Strome ihrer Zeit fortschwimmt, mit Verwunderung
gefunden, daß die Werke, die sie in der Polemik vom Hörensagen als längst
widerlegte Irrtümer enthaltend kennen lernte, wenn sie zufälligerweise selbst ein
solches zu Gesicht bekommen — das herrschende System ihrer Zeit enthalten."




Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen»
6. (Ltwas vom Sterben.

a beim letzten male die Rede am Ende aufs Sterben kam, nicht
in düsterm Sinne, denke ich, denn die Schönheit, die höchste
Menschcnschönheit, führte von selbst darauf, so mag gleich noch
etwas vom Sterben folgen, aber auch nichts Finsteres, eher etwas
Heiteres, wenigstens Helles.

1. Vom Denken ans Sterben.

Wenn es heutzutage ein ausgeprägter Zug im Charakter des Zeitgeistes
ist, daß man den Gedanken an das Sterben möglichst aus dem Wege geht, so
darf man darin an und für sich einen unzweifelhaften Fortschritt erkennen gegen
vorige Zeiten, wo man geneigt war oder aufgefordert wurde, die Gedanken an
" den eignen Tod sich fortwährend gegenwärtig zu halten. Die verschiednen Zeit¬
geister (wenn die Form erlaubt ist) verhalten sich nämlich sehr verschieden zu
jenen Gedanken, mit Meiden oder Suchen, auch mit Fürchten oder mutigen
und selbst trotzigem Anschauen der Vorstellung des Todes, der allen sicherer
bevorsteht als irgend etwas. Die tiefern Ursachen dieses verschiednen Verhaltens
zu erörtern und auf diesem Wege das Rechte zu finden, das wäre schon wichtig
genug, es spinnt sich darin ein Grundfäden ab, der in seiner Art für den Ein¬
zelnen wie für das Ganze fo wichtig ist wie der Faden der politischen, litera-


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[0046] Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosoxhen. Mit der Autorität, aber leider nicht mit dem Geiste Schopenhauers hat sich in manchen der Philosophie sehr abgekehrten Kreisen, vornehmlich aber in der „Gesellschaft," nach und nach eine Art freien Lästerkomments gegen Hegel heraus¬ gebildet, an dem sich sogar die grünende Jugend (man kann ja im trauernden Hinblick auf unsre „Lyceen" fast sagen: beiderlei Geschlechts) zu üben berechtigt glaubt. Treffend könnte sich hier an ihm selbst ein Wort aus diesen Briefen bewähren, das Hegel in früher Zeit an Schelling schrieb: „Später hat die Menge, die mir mit dem Strome ihrer Zeit fortschwimmt, mit Verwunderung gefunden, daß die Werke, die sie in der Polemik vom Hörensagen als längst widerlegte Irrtümer enthaltend kennen lernte, wenn sie zufälligerweise selbst ein solches zu Gesicht bekommen — das herrschende System ihrer Zeit enthalten." Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen» 6. (Ltwas vom Sterben. a beim letzten male die Rede am Ende aufs Sterben kam, nicht in düsterm Sinne, denke ich, denn die Schönheit, die höchste Menschcnschönheit, führte von selbst darauf, so mag gleich noch etwas vom Sterben folgen, aber auch nichts Finsteres, eher etwas Heiteres, wenigstens Helles. 1. Vom Denken ans Sterben. Wenn es heutzutage ein ausgeprägter Zug im Charakter des Zeitgeistes ist, daß man den Gedanken an das Sterben möglichst aus dem Wege geht, so darf man darin an und für sich einen unzweifelhaften Fortschritt erkennen gegen vorige Zeiten, wo man geneigt war oder aufgefordert wurde, die Gedanken an " den eignen Tod sich fortwährend gegenwärtig zu halten. Die verschiednen Zeit¬ geister (wenn die Form erlaubt ist) verhalten sich nämlich sehr verschieden zu jenen Gedanken, mit Meiden oder Suchen, auch mit Fürchten oder mutigen und selbst trotzigem Anschauen der Vorstellung des Todes, der allen sicherer bevorsteht als irgend etwas. Die tiefern Ursachen dieses verschiednen Verhaltens zu erörtern und auf diesem Wege das Rechte zu finden, das wäre schon wichtig genug, es spinnt sich darin ein Grundfäden ab, der in seiner Art für den Ein¬ zelnen wie für das Ganze fo wichtig ist wie der Faden der politischen, litera-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/46>, abgerufen am 22.07.2024.