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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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[Beginn Spaltensatz] Was ich im Traum gesehen,
Nun wird mir'S offenbar,
Nun kann ich es verstehen,
WnS längst mein Sehnen war. [Spaltenumbruch] Und lichter wird's und freier
Um meines Herzens Bild,
Gott hebt hinweg den Schleier,
Der es so lang verhüllt. [Ende Spaltensatz]

Die Worte klangen so feierlich, als hätte die Stimme des jungen Schul¬
meisters sie selber gesungen, als wollte er noch einmal so mild und überzeugend
damit vom Tode reden. Dann sprachen die Glocken das Amen dazu, und
die schwarze Erde fiel schwer auf den Sarg.

Aber während noch der Klang der Glocken in der Wölbung der Kirche
wiedertönte, trug die tiefgebeugte, junge Witwe ihren kleinen Sohn zur Taufe.
So hatte der sterbende Schulmeister es gewünscht, und nun erfüllte sie seinen
letzten Willen, wie schwer es ihr auch werden mochte.

Bei der Tanffcierlichleit des Kleinen sah matt mehr Thränen als Lächeln,
und von den Gevattern fehlte einer. Aber der Platz war nicht leer, obwohl
es so schien, denn unsichtbar stand der Tod dort, und als der Pfarrer das
Wort an die Paten richtete, da war er Taufzeuge gleich den andern, und die
Verpflichtung ward auch ihm auferlegt, ebenso wie den andern.

Als der Abend kam und der Schlaf seine sanften Fittiche über alle
Freuden und Sorgen breitete, als rings umher alles stille ward, da herrschte
kein Friede in dem Schlafkämmerlein des Schulmeisters. Dort mußte der
Tod den letzten und schwersten Kampf durchkämpfen, um seinen Platz zu be¬
haupten.

Der kleine Knabe war den ganzen Nachmittag unruhig gewesen und hatte
sich schließlich in den Schlaf geweint. Aber je leiser sein Schluchzen ward, je
friedlicher seine Atemzüge wurden, desto heißer rannen die Thränen der Mutter,
desto wilder wogte der Schmerz in ihrer Seele. Sie saß an der Wiege ihres
schlafenden Kindes, sie hatte niemand, an dessen Herzen sie sich Hütte aus-
weinen können. Wie bitter waren die Gedanken, die in ihrer Brust aufstiegen,
die ihre Lippen erzittern machten! Da fielen ihre Augen auf das alte Bild, und
der Tod starrte auf sie herab mit dein wunderbaren Lächeln und den fahlen,
bleichen Wangen.

Nein, nein! rief sie ans und rang die Hände voller Verzweiflung. Du
sollst fort, du böser, grausamer Tod! Ich will dein unbarmherziges Antlitz
nicht mehr sehen.

Sie stieg auf einen Stuhl und streckte die zitternden Hände nach dem Bilde
ans. Aber da begegnete ihr Blick den dunkeln Augen des Todes, und sie mußte
in sein Geheimnis schauen, sie mochte wollen oder nicht. Es war eine merkwürdige
Macht, die darin lag. Ihr Arm sank langsam nieder, sie blieb vor dem Bilde
stehen und schaute es wieder und wieder an, während ihr die Thränen unauf¬
haltsam von deu Wangen herabströmten. Und es war ihr, als hörte sie eine
geliebte, wohlbekannte Stimme singen:


[Beginn Spaltensatz] Was ich im Traum gesehen,
Nun wird mir'S offenbar,
Nun kann ich es verstehen,
WnS längst mein Sehnen war. [Spaltenumbruch] Und lichter wird's und freier
Um meines Herzens Bild,
Gott hebt hinweg den Schleier,
Der es so lang verhüllt. [Ende Spaltensatz]

Die Worte klangen so feierlich, als hätte die Stimme des jungen Schul¬
meisters sie selber gesungen, als wollte er noch einmal so mild und überzeugend
damit vom Tode reden. Dann sprachen die Glocken das Amen dazu, und
die schwarze Erde fiel schwer auf den Sarg.

Aber während noch der Klang der Glocken in der Wölbung der Kirche
wiedertönte, trug die tiefgebeugte, junge Witwe ihren kleinen Sohn zur Taufe.
So hatte der sterbende Schulmeister es gewünscht, und nun erfüllte sie seinen
letzten Willen, wie schwer es ihr auch werden mochte.

Bei der Tanffcierlichleit des Kleinen sah matt mehr Thränen als Lächeln,
und von den Gevattern fehlte einer. Aber der Platz war nicht leer, obwohl
es so schien, denn unsichtbar stand der Tod dort, und als der Pfarrer das
Wort an die Paten richtete, da war er Taufzeuge gleich den andern, und die
Verpflichtung ward auch ihm auferlegt, ebenso wie den andern.

Als der Abend kam und der Schlaf seine sanften Fittiche über alle
Freuden und Sorgen breitete, als rings umher alles stille ward, da herrschte
kein Friede in dem Schlafkämmerlein des Schulmeisters. Dort mußte der
Tod den letzten und schwersten Kampf durchkämpfen, um seinen Platz zu be¬
haupten.

Der kleine Knabe war den ganzen Nachmittag unruhig gewesen und hatte
sich schließlich in den Schlaf geweint. Aber je leiser sein Schluchzen ward, je
friedlicher seine Atemzüge wurden, desto heißer rannen die Thränen der Mutter,
desto wilder wogte der Schmerz in ihrer Seele. Sie saß an der Wiege ihres
schlafenden Kindes, sie hatte niemand, an dessen Herzen sie sich Hütte aus-
weinen können. Wie bitter waren die Gedanken, die in ihrer Brust aufstiegen,
die ihre Lippen erzittern machten! Da fielen ihre Augen auf das alte Bild, und
der Tod starrte auf sie herab mit dein wunderbaren Lächeln und den fahlen,
bleichen Wangen.

Nein, nein! rief sie ans und rang die Hände voller Verzweiflung. Du
sollst fort, du böser, grausamer Tod! Ich will dein unbarmherziges Antlitz
nicht mehr sehen.

Sie stieg auf einen Stuhl und streckte die zitternden Hände nach dem Bilde
ans. Aber da begegnete ihr Blick den dunkeln Augen des Todes, und sie mußte
in sein Geheimnis schauen, sie mochte wollen oder nicht. Es war eine merkwürdige
Macht, die darin lag. Ihr Arm sank langsam nieder, sie blieb vor dem Bilde
stehen und schaute es wieder und wieder an, während ihr die Thränen unauf¬
haltsam von deu Wangen herabströmten. Und es war ihr, als hörte sie eine
geliebte, wohlbekannte Stimme singen:


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/458>, abgerufen am 25.08.2024.