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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Gevatter Tod.

dichten Reihen glänzend weißer Zähne ausgestattet war, als sei er bereit, alles
zu verschlingen, ohne doch je satt davon zu werden.

Sein nacktes Skelett überragte alle die andern Figuren des Bildes, und
die knochigen Arme, welche in den dünnen, langen Fingern die Sense hielten,
waren weit ausgestreckt über das bunte Gewimmel des Lebens, das sich vor ihm
entfaltete. Zwischen offnen Gräbern spielten Scharen jubelnder Kinder, tanzten
Jünglinge und Jungfrauen mit Blumen auf den Hüten und im Haar; Männer
und Weiber stritten mit ernsthaften Mienen um Goldkörner, die im Staube
funkelten, und Greise streckten begehrlich die zitternden Hände nach lockenden
Früchten aus, die an den über den Gräbern hängenden Zweigen uuter saftigem
Laube hervorlugten.

Zu den Füßen des Todes sanken ein Greis und ein junges Mädchen ins
Grab. Voller Grausen starrte der Alte hinab, das junge Mädchen sah jedoch
aufwärts, und ein Lächeln glückseliger Verwunderung glitt über die reinen,
frommen Züge.

Hinter dem Tode folgte ein langer Zug von bleichen, blutlosen Gestalten mit
geschlossenen Augen, Junge und Alte, Männer und Weiber, Kopf an Kopf, die
immer kleiner und winziger wurden, bis sie sich schließlich gleich einem Nebel in
der Ferne verloren. Es sah aus, als höbe sie eine unsichtbare Macht empor
über die Erde und trüge sie leise weiter auf seiner Spur -- ein schwebender
Trauerzug ohne Eude.

So stand mit altmodischen, verschnörkelten Buchstaben unter dem Bilde geschrieben.
Das klang zwar recht schön und tröstlich, aber ein angenehmer Anblick war
der Tod trotz alledem nicht.

Der Ansicht waren auch alle vernünftigen Leute in dem kleinen Dorfe, als
er plötzlich zwischen ihnen auftauchte und sich wie ein aus einer andern Welt
verscheuchter Geist in ihr gemütliches, gleichmäßig dahinfließendes Leben ein¬
drängte. Woher kam er auch nur? Ja, woher kommen eigentlich alle diese alten,
eigentümlichen Bilder?

Welche Menschenseele hatte sich einsam mit diesen Gedanken getragen, bis
sie ihnen endlich Ausdruck verleihen mußte? Welche zitternde Hand gab ihnen
diese unvollkommene und doch so wunderbar ergreifende Gestalt? Niemand weiß
es, es ist, als wären sie vom Himmel gefallen, und genau so kam der Tod
i" das kleine Dorf.


Gevatter Tod.

dichten Reihen glänzend weißer Zähne ausgestattet war, als sei er bereit, alles
zu verschlingen, ohne doch je satt davon zu werden.

Sein nacktes Skelett überragte alle die andern Figuren des Bildes, und
die knochigen Arme, welche in den dünnen, langen Fingern die Sense hielten,
waren weit ausgestreckt über das bunte Gewimmel des Lebens, das sich vor ihm
entfaltete. Zwischen offnen Gräbern spielten Scharen jubelnder Kinder, tanzten
Jünglinge und Jungfrauen mit Blumen auf den Hüten und im Haar; Männer
und Weiber stritten mit ernsthaften Mienen um Goldkörner, die im Staube
funkelten, und Greise streckten begehrlich die zitternden Hände nach lockenden
Früchten aus, die an den über den Gräbern hängenden Zweigen uuter saftigem
Laube hervorlugten.

Zu den Füßen des Todes sanken ein Greis und ein junges Mädchen ins
Grab. Voller Grausen starrte der Alte hinab, das junge Mädchen sah jedoch
aufwärts, und ein Lächeln glückseliger Verwunderung glitt über die reinen,
frommen Züge.

Hinter dem Tode folgte ein langer Zug von bleichen, blutlosen Gestalten mit
geschlossenen Augen, Junge und Alte, Männer und Weiber, Kopf an Kopf, die
immer kleiner und winziger wurden, bis sie sich schließlich gleich einem Nebel in
der Ferne verloren. Es sah aus, als höbe sie eine unsichtbare Macht empor
über die Erde und trüge sie leise weiter auf seiner Spur — ein schwebender
Trauerzug ohne Eude.

So stand mit altmodischen, verschnörkelten Buchstaben unter dem Bilde geschrieben.
Das klang zwar recht schön und tröstlich, aber ein angenehmer Anblick war
der Tod trotz alledem nicht.

Der Ansicht waren auch alle vernünftigen Leute in dem kleinen Dorfe, als
er plötzlich zwischen ihnen auftauchte und sich wie ein aus einer andern Welt
verscheuchter Geist in ihr gemütliches, gleichmäßig dahinfließendes Leben ein¬
drängte. Woher kam er auch nur? Ja, woher kommen eigentlich alle diese alten,
eigentümlichen Bilder?

Welche Menschenseele hatte sich einsam mit diesen Gedanken getragen, bis
sie ihnen endlich Ausdruck verleihen mußte? Welche zitternde Hand gab ihnen
diese unvollkommene und doch so wunderbar ergreifende Gestalt? Niemand weiß
es, es ist, als wären sie vom Himmel gefallen, und genau so kam der Tod
i» das kleine Dorf.


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[0405] Gevatter Tod. dichten Reihen glänzend weißer Zähne ausgestattet war, als sei er bereit, alles zu verschlingen, ohne doch je satt davon zu werden. Sein nacktes Skelett überragte alle die andern Figuren des Bildes, und die knochigen Arme, welche in den dünnen, langen Fingern die Sense hielten, waren weit ausgestreckt über das bunte Gewimmel des Lebens, das sich vor ihm entfaltete. Zwischen offnen Gräbern spielten Scharen jubelnder Kinder, tanzten Jünglinge und Jungfrauen mit Blumen auf den Hüten und im Haar; Männer und Weiber stritten mit ernsthaften Mienen um Goldkörner, die im Staube funkelten, und Greise streckten begehrlich die zitternden Hände nach lockenden Früchten aus, die an den über den Gräbern hängenden Zweigen uuter saftigem Laube hervorlugten. Zu den Füßen des Todes sanken ein Greis und ein junges Mädchen ins Grab. Voller Grausen starrte der Alte hinab, das junge Mädchen sah jedoch aufwärts, und ein Lächeln glückseliger Verwunderung glitt über die reinen, frommen Züge. Hinter dem Tode folgte ein langer Zug von bleichen, blutlosen Gestalten mit geschlossenen Augen, Junge und Alte, Männer und Weiber, Kopf an Kopf, die immer kleiner und winziger wurden, bis sie sich schließlich gleich einem Nebel in der Ferne verloren. Es sah aus, als höbe sie eine unsichtbare Macht empor über die Erde und trüge sie leise weiter auf seiner Spur — ein schwebender Trauerzug ohne Eude. So stand mit altmodischen, verschnörkelten Buchstaben unter dem Bilde geschrieben. Das klang zwar recht schön und tröstlich, aber ein angenehmer Anblick war der Tod trotz alledem nicht. Der Ansicht waren auch alle vernünftigen Leute in dem kleinen Dorfe, als er plötzlich zwischen ihnen auftauchte und sich wie ein aus einer andern Welt verscheuchter Geist in ihr gemütliches, gleichmäßig dahinfließendes Leben ein¬ drängte. Woher kam er auch nur? Ja, woher kommen eigentlich alle diese alten, eigentümlichen Bilder? Welche Menschenseele hatte sich einsam mit diesen Gedanken getragen, bis sie ihnen endlich Ausdruck verleihen mußte? Welche zitternde Hand gab ihnen diese unvollkommene und doch so wunderbar ergreifende Gestalt? Niemand weiß es, es ist, als wären sie vom Himmel gefallen, und genau so kam der Tod i» das kleine Dorf.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/405>, abgerufen am 22.07.2024.