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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Das lvormser Volkstheater.

Würde und Bedeutung des Einzelnen und des Daseins in andrer Weise, als
es die Hetzapostel thun, zu erwecken und ihm das Gefühl zu geben, daß auch
er ein verantwortungsvolles Glied der großen Gemeinschaft ist, die durch das
Sittengesetz, die sittliche Weltordnung zusammengehalten wird, daß auch er dazu
berufen ist, dieses Gesetz an seinem Teile zu erfüllen. Das gehört zur Aufgabe
der wahren volkstümlichen Kunst der Bühne, und würde sie auch nur annähernd
gelöst, so wären die sozialen Folgen gewiß heilsam.

Mancherlei besondre ideale Errungenschaften werden dabei der Lösung der
sozialen Frage uoch zu gute kommen. Nur wenn jeues allgemein sittliche Gefühl
gestärkt ist, mögen bestimmte Einzelgefühle zum Leben erweckt werden, so auch
Gemeinsinn und Vaterlandsliebe. Wie foll, wer noch nicht zu sich selbst ge¬
kommen ist, zu seinem Nebenmenschen, zum Vaterlande kommen? Erst wenn
die dumpfe, unwürdige Resignation einerseits und die sich selbst verzehrende,
hetzende Unzufriedenheit anderseits in dieser sittlichen Erhebung untergegangen sind,
ist der Boden für alle sittlichen Einzelgefühle frei gemacht und gesäubert. Da
mag die Kunst denn weiter ihre Samenkörner streuen, aber in die Herzen aller,
die in dem gemeinsamen Hause vereint sind. Wyl macht die treffende Be¬
merkung, daß die Fußwaschung im Passionsspiele eine bessere Lösung der sozialen
Frage sei, als der Brand von Paris und die Erschießung der Geißel". Solche
Mahnungen finden sich aber nicht nur im Passionsspiele.

Das ist das Große an der Idee des Volkstheatcrs, daß Gebildete und Un¬
gebildete, Besitzende und Besitzlose einander durch die Kunst wieder nahe geführt
werden, im Raume und in den Jdeenkreisen; daß zwischen ihnen eine festere Brücke
geschlagen wird, als durch das Verhältnis von materieller Leistung und Gegen¬
leistung. Gemeinsamkeit geistiger Interessen bindet fester als die Gemeinsamkeit
materieller Interessen, die sich durch Unverstand noch dazu so oft in das Gegen¬
teil umgewandelt hat. Gemeinsamer Besitz des Theaters und gemeinsames
Interesse daran haben die sich sonst ausschließenden Kreise schon genähert, stärker
ist aber die Vereinigung in den gemeinsamen Ideen, dem gemeinsamen Gefühle
der Begeisterung, "wenn Menschen aus allen Kreisen und Ständen, abgeworfen
jede Fessel der Künstelei und der Mode, herausgerissen aus jedem Drange des
Schicksals, durch eine allwebende Sympathie verbrüdert, in ein Geschlecht wieder
aufgelöst, ihrer selbst und der Welt vergessen und ihrem himmlischen Ursprünge
sich nähern. Jeder Einzelne genießt die Entzückungen aller, die verstärkt und
verschönert aus hundert Augen auf ihn zurückfallen, und seine Brust giebt jetzt
nur einer Empfindung Raum -- es ist diese, ein Mensch zu sein" (Schiller).

Unser ganzes Volksleben krankt an schroffen sozialen und mit diesen ver¬
quickten politischen Gegensätzen. Überall, wo irgend etwas getrenntes vereinigt
wird, geschieht schon dadurch etwas zur Heilung. Auch die konfessionellen
Gegensätze sind durch die neueste Gesetzgebung nicht beseitigt worden, sondern
haben nur ihre politische" Ferien erhalte", und bei Gelegenheit.könnte Deutsch-


Das lvormser Volkstheater.

Würde und Bedeutung des Einzelnen und des Daseins in andrer Weise, als
es die Hetzapostel thun, zu erwecken und ihm das Gefühl zu geben, daß auch
er ein verantwortungsvolles Glied der großen Gemeinschaft ist, die durch das
Sittengesetz, die sittliche Weltordnung zusammengehalten wird, daß auch er dazu
berufen ist, dieses Gesetz an seinem Teile zu erfüllen. Das gehört zur Aufgabe
der wahren volkstümlichen Kunst der Bühne, und würde sie auch nur annähernd
gelöst, so wären die sozialen Folgen gewiß heilsam.

Mancherlei besondre ideale Errungenschaften werden dabei der Lösung der
sozialen Frage uoch zu gute kommen. Nur wenn jeues allgemein sittliche Gefühl
gestärkt ist, mögen bestimmte Einzelgefühle zum Leben erweckt werden, so auch
Gemeinsinn und Vaterlandsliebe. Wie foll, wer noch nicht zu sich selbst ge¬
kommen ist, zu seinem Nebenmenschen, zum Vaterlande kommen? Erst wenn
die dumpfe, unwürdige Resignation einerseits und die sich selbst verzehrende,
hetzende Unzufriedenheit anderseits in dieser sittlichen Erhebung untergegangen sind,
ist der Boden für alle sittlichen Einzelgefühle frei gemacht und gesäubert. Da
mag die Kunst denn weiter ihre Samenkörner streuen, aber in die Herzen aller,
die in dem gemeinsamen Hause vereint sind. Wyl macht die treffende Be¬
merkung, daß die Fußwaschung im Passionsspiele eine bessere Lösung der sozialen
Frage sei, als der Brand von Paris und die Erschießung der Geißel». Solche
Mahnungen finden sich aber nicht nur im Passionsspiele.

Das ist das Große an der Idee des Volkstheatcrs, daß Gebildete und Un¬
gebildete, Besitzende und Besitzlose einander durch die Kunst wieder nahe geführt
werden, im Raume und in den Jdeenkreisen; daß zwischen ihnen eine festere Brücke
geschlagen wird, als durch das Verhältnis von materieller Leistung und Gegen¬
leistung. Gemeinsamkeit geistiger Interessen bindet fester als die Gemeinsamkeit
materieller Interessen, die sich durch Unverstand noch dazu so oft in das Gegen¬
teil umgewandelt hat. Gemeinsamer Besitz des Theaters und gemeinsames
Interesse daran haben die sich sonst ausschließenden Kreise schon genähert, stärker
ist aber die Vereinigung in den gemeinsamen Ideen, dem gemeinsamen Gefühle
der Begeisterung, „wenn Menschen aus allen Kreisen und Ständen, abgeworfen
jede Fessel der Künstelei und der Mode, herausgerissen aus jedem Drange des
Schicksals, durch eine allwebende Sympathie verbrüdert, in ein Geschlecht wieder
aufgelöst, ihrer selbst und der Welt vergessen und ihrem himmlischen Ursprünge
sich nähern. Jeder Einzelne genießt die Entzückungen aller, die verstärkt und
verschönert aus hundert Augen auf ihn zurückfallen, und seine Brust giebt jetzt
nur einer Empfindung Raum — es ist diese, ein Mensch zu sein" (Schiller).

Unser ganzes Volksleben krankt an schroffen sozialen und mit diesen ver¬
quickten politischen Gegensätzen. Überall, wo irgend etwas getrenntes vereinigt
wird, geschieht schon dadurch etwas zur Heilung. Auch die konfessionellen
Gegensätze sind durch die neueste Gesetzgebung nicht beseitigt worden, sondern
haben nur ihre politische» Ferien erhalte», und bei Gelegenheit.könnte Deutsch-


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[0400] Das lvormser Volkstheater. Würde und Bedeutung des Einzelnen und des Daseins in andrer Weise, als es die Hetzapostel thun, zu erwecken und ihm das Gefühl zu geben, daß auch er ein verantwortungsvolles Glied der großen Gemeinschaft ist, die durch das Sittengesetz, die sittliche Weltordnung zusammengehalten wird, daß auch er dazu berufen ist, dieses Gesetz an seinem Teile zu erfüllen. Das gehört zur Aufgabe der wahren volkstümlichen Kunst der Bühne, und würde sie auch nur annähernd gelöst, so wären die sozialen Folgen gewiß heilsam. Mancherlei besondre ideale Errungenschaften werden dabei der Lösung der sozialen Frage uoch zu gute kommen. Nur wenn jeues allgemein sittliche Gefühl gestärkt ist, mögen bestimmte Einzelgefühle zum Leben erweckt werden, so auch Gemeinsinn und Vaterlandsliebe. Wie foll, wer noch nicht zu sich selbst ge¬ kommen ist, zu seinem Nebenmenschen, zum Vaterlande kommen? Erst wenn die dumpfe, unwürdige Resignation einerseits und die sich selbst verzehrende, hetzende Unzufriedenheit anderseits in dieser sittlichen Erhebung untergegangen sind, ist der Boden für alle sittlichen Einzelgefühle frei gemacht und gesäubert. Da mag die Kunst denn weiter ihre Samenkörner streuen, aber in die Herzen aller, die in dem gemeinsamen Hause vereint sind. Wyl macht die treffende Be¬ merkung, daß die Fußwaschung im Passionsspiele eine bessere Lösung der sozialen Frage sei, als der Brand von Paris und die Erschießung der Geißel». Solche Mahnungen finden sich aber nicht nur im Passionsspiele. Das ist das Große an der Idee des Volkstheatcrs, daß Gebildete und Un¬ gebildete, Besitzende und Besitzlose einander durch die Kunst wieder nahe geführt werden, im Raume und in den Jdeenkreisen; daß zwischen ihnen eine festere Brücke geschlagen wird, als durch das Verhältnis von materieller Leistung und Gegen¬ leistung. Gemeinsamkeit geistiger Interessen bindet fester als die Gemeinsamkeit materieller Interessen, die sich durch Unverstand noch dazu so oft in das Gegen¬ teil umgewandelt hat. Gemeinsamer Besitz des Theaters und gemeinsames Interesse daran haben die sich sonst ausschließenden Kreise schon genähert, stärker ist aber die Vereinigung in den gemeinsamen Ideen, dem gemeinsamen Gefühle der Begeisterung, „wenn Menschen aus allen Kreisen und Ständen, abgeworfen jede Fessel der Künstelei und der Mode, herausgerissen aus jedem Drange des Schicksals, durch eine allwebende Sympathie verbrüdert, in ein Geschlecht wieder aufgelöst, ihrer selbst und der Welt vergessen und ihrem himmlischen Ursprünge sich nähern. Jeder Einzelne genießt die Entzückungen aller, die verstärkt und verschönert aus hundert Augen auf ihn zurückfallen, und seine Brust giebt jetzt nur einer Empfindung Raum — es ist diese, ein Mensch zu sein" (Schiller). Unser ganzes Volksleben krankt an schroffen sozialen und mit diesen ver¬ quickten politischen Gegensätzen. Überall, wo irgend etwas getrenntes vereinigt wird, geschieht schon dadurch etwas zur Heilung. Auch die konfessionellen Gegensätze sind durch die neueste Gesetzgebung nicht beseitigt worden, sondern haben nur ihre politische» Ferien erhalte», und bei Gelegenheit.könnte Deutsch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/400>, abgerufen am 22.07.2024.